»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

8.2.

»Je me rappelai que, le jour où Albertine s’était laissé embrasser par moi pour la première fois, j’avais eu un sourire de gratitude pour le séducteur inconnu qui avait amené en elle une modification si profonde et m’avait tellement simplifié la tâche.«

Beim Wiederlesen dieser Stelle im Buch der Stellen namens Sodom et Gomorrhe fand ich diesen Gedanken hochinteressant. Dass er annehmen will, es hätte einen unbekannten Verführer gegeben, der Albertine dazu gebracht haben könnte, sich von ihm küssen zu lassen, endelijk. Er spricht diesbezüglich von einem Vorgang, der von diesem Unbekannten in Albertinens Seele in Gang gesetzt worden war, so wie ein blockiertes Uhrwerk wieder zu laufen beginnt nach einer Ölung, oder was auch immer dazu nötig gewesen war. Wobei er doch im Grunde gewusst haben müsste, denn er war ja häufig genug mit dabei gewesen und hatte das ihn demütigende Werben Albertinens bezeugt, dass diese Figur eines unbekannten Verführers in Wirklichkeit der schnöde Robert selbst war, um den wiederum sich die von ihm umworbene Albertine vergebens bemüht hatte, weswegen es für ihn selbst halt viele Seiten lang nur Körbe gab und gekonntes Zappelnlassen. Das aber kann er so nicht sehen wollen, dafür liebt er Albertine zu sehr, beziehungsweise: sich selbst ja auch, denn was würde diese Einsicht für sein Selbstbild bedeuten, wenn er denn die Verhaltensänderung Albertinens auf ihren profanen Anlass hin analysierte – also dass Albertine ihn dann erst ranlassen wollte, als sie sich auf Robert keine Hoffnungen mehr zu machen brauchte?

Mit Selbstbetrug hat das nichts zu tun. Gerade weil er Albertine frei halten will von Profanität, kann die Figur des geheimen Verführers aus der Lücke ausgeblendeter Fakten heraus entstehen als eine Fantasie. Ein unbekanntes Wesen maskulinen Geschlechts, das als Fürsprecher seiner unerschöpflichen Liebe zu Albertine die Szene betritt. Er spricht ja dann auch von einer Aufgabe (tâche), die ihm kraft des Wirkens dieses Fürsprechers wahrlich erleichtert wurde. Da er sein Denken an Albertine dergestalt rein hält, ist es ihm selbst weiterhin möglich, sich als einen Helden, ja überhaupt zunächst als Handelnden in ihrer beider Geschichte zu erleben.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist eines der wenigen Bücher, die ich gelesen habe und von denen ich behaupten will, dass dies für mich Texte geblieben sind, die neuroplastizitäre Qualitäten besitzen. Bedeutet: So, wie ich mich verändere, verändert auch der Text seinen Gehalt (ich kann etwas Neues lesen darin). Das ist, in Anbetracht von schwarz auf weiß fixierten Sätzen, die doch stets die gleichen waren in einer unveränderten Abfolge; die fallweise schon seit über hundert Jahren unverrückbar an ihren dafür vorgesehenen Plätzen auf die Leser warten, ein Effekt, der wie ein Wunder wirken kann. Ein Buch, das mich kennt.

Vielleicht sitzen dann gerade zwei Fremde in Zügen, die auf einander gegenüberliegenden Gleisen in die jeweils entgegengesetzte Richtung unterwegs waren. Es gibt einen unerwarteten Aufenthalt, die Züge sind nebeneinander zum Halten gekommen, und ein jeder der beiden schaut nachdenklich aus seinem Buch, das ihn kennt, auf, und aus dem Fenster hinüber in das Abteilfenster des dort wartenden Zuges. Ein jeder der beiden entdeckt dort in einem jener in entgegengesetzter Richtung positionierten Züge diese eine andere Person, die, wie sie selbst auch, ebenfalls ein Exemplar jenes Buches in Händen hält. Da es das Buch ist, von dem sich die Person hüben, exakt wie jene dort drüben, soeben noch erkannt gefühlt hatte, ist es ihnen nun möglich, sich gegenseitig zu erkennen – durch ihre Bücher hindurch. Ein langer Blick. Dann ist die Störung im Betriebsablauf beseitigt und noch während ihres Einanderanblickens fahren die Züge los.

Friedrich Nietzsche hat über diesen Effekt in der Musik geschrieben. Sinngemäß schreibt er, dass die hundertmal gehörte Musik mit einem Mal zu jemandem zu sprechen beginnt. Seitdem sich dieser verliebt fühlt. Und dass dieser Jemand dann nicht anders könnte, als zu glauben, dass die Musik ihn erkannt habe, ja, dass die Musik nun selbst so empfinden könne wie er selbst. Dabei hat Friedrich Nietzsche vermutlich an sich selbst und an Lou Salomé gedacht.

»1. 68% sind wirklich passiert.

2. 32% sind es nicht.

3. Ich werde es nie verraten.« So fängt So bin ich nicht von Anneliese Mackintosh an. In mein Rezensionsexemplar ist eine Sperrfrist bis zum 18. April ´16 eingestempelt. Ich werde es von daher also auch nicht verraten, aber in einer nicht quantifizierbaren Schnittmenge zwischen den Fakten und den 32 Prozent entsteht die Fantasie eines geheimen Verführers, der mich dieses Buch zuende zu lesen macht. Gewiss, die Übersetzung klingt mir manchmal zu sehr nach Internetfernsehserie, beispielsweise weiß ich gar nicht, ob irgendwer im Deutschen vom hart küssen oder hart geküsst werden spricht. To kiss hard würde ich übersetzen mit heftig knutschen, oder mit einem auf Zunge, aber jetzt habe ich ja vor ein paar Wochen gefordert, die sprachlichen Mutationen zu umarmen, also bleibe ich dabei, denn Konsequenz ist bekanntlich meine Stärke.

Und dann passt dieser Neologismus ja auch bestens zu der vor ein paar Tagen erst beschriebenen Proletarisierung in der deutschen Gesellschaft, wo sich die nicht etwa schwer, sondern hart arbeitenden Frauen und Männer in ihren Freundeskreisen darüber unterhalten mögen, wen sie zuletzt hart geküsst haben.

Bei So bin ich nicht handelt es sich ebenfalls um eine Suche nach verloren gegangener Zeit, allerdings kommt Anneliese Mackintosh um sehr vieles schneller zur Sache, die Kapitel sind kurz und extrem auf Pointe geschrieben. Es geht dabei ständig um beinahe all meine Forschungsgebiete: Liebe, Tod, Selbstbestrafungsexzesse, Missverständnisse, sexuelles Elend. Selbst Hasen kommen vor, allerdings wird dieser Komplex eher gestreift. Macht aber nichts, denn auf der Seite 140 in meiner Ausgabe folgt nach der unauffälligen Überschrift Wärst Du ein Kaffeetrinker etwas wahnsinnig Schönes. Ich darf es ja nicht verraten bis zum 18. April, aber ich wette mal, dieses Kapitel allein wird das Buch zu einem von Hand zu Hand weitergereichten Megabuch des frühen 21. Jahrhunderts werden lassen. Bücher, in denen sich ein Satz finden lässt wie »Grausamkeit und Schwäche sind oft ein und dasselbe«, werden auch in einhundert Jahren noch dringend benötigt werden. Damit liefert Anneliese Mackintosh für den deutschen Markt die willkommene Frühjahrsergänzung zu Ronja von Rönne, deren Roman ja ebenfalls in wenigen Wochen erscheinen wird. Und das auch noch aus demselben Verlag (Aufbau). Es muss aber noch viel mehr solcher Bücher geben. Allein um, durch Abteilfenster benachbarter Züge hindurch, noch sehr viel mehr gleichgesinnte Reisende ineinander verliebt zu machen.

7.2.

Bei jeder Platane hier muss ich noch immer an Hardy Blechman denken.

Und es begab sich, dass zur Zeit der Mimosenblüte, als die Orangen schon reif an den Bäumen hingen, selbige wiederum polyphon rufend: »Schüttel’ mich, bitte, schüttel’ mich«, dass also genau dann, während in Berlin der Fernsehturm wie ein Mittelfinger des real existierenden Sozialismus aus dieser Narbe namens Alexanderplatz aufragte, ein Mann mit so einigermaßen unzähligen Eigenschaften, einige davon wirklich, die meisten allerdings angedichtet, in einem Dorf am kalten Mittelmeer umherging. Indes wehten die Lüfte bereits linde und zunehmend warm. So klein war Cagnes/M: und »dabei so groß« wie Goethe schon schrieb.

Gestern schon hatten sich, währenddessen ich skypte, die Spalten der Berge gegenüber mit Nebeln gefüllt. Das war ein wirklich herzhafter Anblick, gleichzeitig wusste ich auch, dass es am nächsten Morgen schlechtes Wetter geben würde. Dementsprechend schlief ich tief und auch lange, ein Albtraum, der schlimmste seit langem: und ich wachte um 4 Uhr 02 von meinem eigenen Geschrei auf. Dann wieder eingeschlafen, nachdem ich alles, so gut wie, noch erinnerlich notiert hatte (sechs Seiten, so lang!!!).

Beim Morgenkaffee, es war bereits bedeckt und der Sonnenaufgang ward mir verheimlicht, ging es unter den Einwohnern auch bloß um das eine Thema, dass in der Nice-Matin der Regen für Montag angekündigt war, das Küstenradio aber bereits den anstehenden Abend als dafür gültig vorhergesagt hatte.

Der Softeisladen an der Strandpromenade hatte zu, eigentlich hat ja beinahe alles zu, was ich hier gerne mache und nach dem Mittagessen legte ich mich mit einer Wärmflasche ins Bett, wachte dann überraschenderweise erst kurz vor der Stunde des Aperitifs wieder auf.

Und es regnete bereits, es regnete auf diese gelangweilte Art, wie sonst nur in Paris, der Himmel war demnach perlgrau und sozusagen indifferent, und immer wenn es regnet, muss ich halt doch immer und leider an Max Herre denken: eine Morsemelodie aus zwei Piepstönen, sie ist abwechslungsreich, überraschend, Freude bereitend und von daher.

Das Haus ist semi-perméable, es kühlt in seinem Inneren recht fix auf die Außentemperatur herunter. Und da auf dem Burgplatz oben nichts anderes mehr offen hat als das Grimaldi, gehe ich halt dort hin. Da läuft Fußball auf dem Mega-Screen, und ich bin für lange Zeit der einzige Gast. Stuttgart gewinnt gegen Frankfurt 4:2. Rien n’importe, aber ich treffe ja auch immer wieder auf Frauen, die ich gut zu kennen glaubte, und die eröffnen mir dann plötzlich, dass sie im Grunde total auf Manuel Neuer abonniert sind (diesen Torwart). Irgendetwas muss also dran sein an Fußball. Die Fernbedienung des Grimaldi ist zu dieser Stunde aber glücklicherweise à discrétion - und auf BeIN Sports gibt es Nuru-Catchen.

Der saisonale Hit, der parallel aus der auf dem Tresen platzierten Stereoanlage kommt, ist ein ultraluftiger Take auf Fast Car von Tracy Chapman – dermaßen megazuckrig, dass es kaum auszuhalten ist (also im Sinne eines Sitzenbleibenkönnens), vor allem aber dann auch, vermutlich, wenn man, wie in meinem Fall, so um die 17 Jahre alt war, als Fast Car in der Originalversion heftig trendete, und ich mich halt bei der Zeile »Remember when we were young« unweigerlich an das Konzert von Tim und die Tapire erinnern muss; wo das hinterher lief – im Jugendhaus von Heslach, vielleicht war das auch in Stuttgart-Rot. Jedenfalls fragte ich Tim Eitel damals, wie er das genau so genial hingekriegt hatte mit dem 7-Finger-Picking und Tim sagte: »Vernon Reid«.

Dann habe ich mir erst Cult of Personality gekauft und daraufhin den Multi Effects Processor von Pioneer für – ich glaube: unfassbare 1000 D-Mark. Den dann mit einem giftgrünen Kabel an den Fender Princeton Chorus angeschlossen und den ganzen Sommer über und auch noch den gesamten Herbst hindurch geübt. Und an den Weihnachtswochenenden dieses Jahres habe ich dann mit Jesko Fezer vor der Fiorucci-Boutique hinter der Königsstraße insgesamt mehr als 2000 Mark verdient. Vor allem mit Scarborough Fair und mit The Boxer, weil das halt auch so herrlich zu den schwäbischen Herzen ging, wenn zwei Pickelgesichter mit Robert-Smith-Frisuren zweistimmig sangen (Silke Scheuermann).

Es sind hier oben zumindest sämtliche Häuser aus Strandkieseln gemauert (Gérard sagt, die wurden auf Eseln den Berg hinauf transportiert). An manchen der Fassaden sieht man es noch von außen, beim Grimaldi zum Beispiel, aber die meisten wurden irgendwann glatt verputzt. Im Wind über den Zinnen der Festung schlägt die Fahne mit dem Logo von Cagnes/M, das in einem Lorbeerkranz einen stolz einherschreitenden Windhund zeigt. Und selbst wenn das mit dem Dichterfürst in D wohl zu Lebzeiten nichts mehr werden wird, so liegt hier zumindest in jeder der zwei Bars, in der Immobilienagentur und im Postkartenladen namens Boîte à Prise jeweils ein Exemplar von Untitled aus. Worin zwar, in Ermangelung der hierfür notwendigen Sprachkenntnisse, noch keiner der Betreibenden gelesen haben wird, aber auf Nachfrage wird wohl das letzte Kapitel aufgeschlagen und dort steht ja für alle Welt lesbar: Cagnes-sur-Mer. Zwischen Nadine Gordimer und mir steht es 1:1.

Als dann aber die übrigen Männer von der Arbeit kommen, wird im Grimaldi rasch umgeschaltet auf Sports 365, da geht es zu wie früher noch bei Chatroulette: Dieser Sender zeigt scheinbar wahllos eine wirre Abfolge von Szenen aus Fußballspielen, die parallel und im Augenblick irgendwo auf der Welt stattfinden. Das ergibt einen zusammenhängenden und so sinnvollen wie zugleich sinnlosen, in jedem Fall aber ultrabrutalen, Film. Männer mit Türsteherfrisuren rasen mit unterschiedlich farbigen T-Shirts bekleidet aufeinander zu wie einst das Wildschwein beim Tapferen Schneiderlein: Stampf, stampf; schnauf, schnauf – immer kracht einer hin und dann ist wieder ein Knie kaputt, oder gleich der ganze Kopf. Die Rippen gebrochen, Arm ab (besser immerhin als Arm dran, wie wir Seyfried-Leser wissen!!!). Schweiß, Geschrei, Schlamm und Geschubse – ich find’s halt einfach bloß schwul und bescheuert, tut mir herzlich nicht leid, aber so lange es Fußballübertragungen, so lange es Stadien gefüllt bis an die Ränder mit den Freunden dieser Primitivunterhaltung geben wird, so lange kann sich doch auch nichts verändern – zwischenmenschlich betrachtet. Schade, dass ich da nicht einfach mal mitfiebern kann, aber es geht leider nicht. Ich fiebere ja auch nicht mit bei Porno. Ich finde es leider nullkommanull geil, wenn der sogenannte Rocco Siffredi einer Darstellerin beide Nasenflügel zukneift, während er ihr die übrigen Atemwege mit seinem Monsterpenis verstopft. Ich stehe nicht auf POV, ich finde Ass to Mouth unapetitlich und dazu ist es hardcore gesundheitsschädlich – Stichwort: Schmierinfektion.

In seiner Philosophy schreibt Andy Warhol: »I always run into strong women who are looking for weak men to dominate them«.

Andy war ja nicht hohl, wie Horst Jannssen behauptete, bevor er im Suff in die Glasplatten crashte. Andy Warhol war einer der Allerklügsten; Andy Warhol war ein Megadenker, ein Genie.

Und das mit den starken Frauen, das stimmt wohl. Das bleibt ein Dilemma.

Ich habe ein bisschen Heimweh nach Candida Höfer, merke ich gerade. Nach diesem Blick. Na ja, selbst ich kann halt nicht alles haben.

N’importe quoi.

6.2.

Noch bei jedem Sonnenaufgang nehme ich mir vor, auf gar keinen Fall mit dem Aufheben der Strandkiesel überhaupt anzufangen, aber das bringt halt original gar nichts – leider, denn ich schleppe dann doch jeden Mittag wieder fünf bis acht oder drei davon heim und bei Easyjet freut man sich bereits gebührlich auf mein Übergepäck.

Ähnlich ging oder geht es Rainald Goetz mit den Zeitungen, vielmehr: mit all diesen Läden, die Zeitungen auslegen in ihrer täglich neuen, alltäglich geilstens, verführerisch mit ihren Schlagzeilen wedelnden Mannigfaltigkeit.

Hier aber, am Fußbad der Grande Nation gibt es sowieso bloß eine einzige Papeterie, die etwas anderes noch führt als Nice-Matin und Charlie Hebdo und das Teil mit der Ente. Also kontrolliere ich halt überhaupt nicht mehr, was in Deutschland so gedacht wird und vom Prinzip her ist das dann auch der Erholungsfaktor für mich. Und dass ich mehr esse als sonst. Sehr viel mehr. In Wahrheit ist es extrem. Geradezu abartig. Im Grunde ist es widernatürlich. In einem Wort: pervers.

Austern zum Frühstück und Torte zu Mittag. Abends, als Ausgleich: dreimal hintereinander und warm. Gestern erst hatte ich derart viele Schnecken auf einem sogenannten Bett aus frittierten Froschschenkeln, dass sogar der Wirt des von der Nebensaison schwerst gebeutelten Hotels Grimaldi meinte, dass es jetzt mal gut sein müsste mit meinem Gargantualisme. Von selbst wäre mir das leider nicht klar geworden, denn mir geht ein »un plus« leider, leider allzu leicht über die Lippen und wie eine Katze angesichts warmen Vanillepuddings bin ich leider halt total unvernünftig und esse so lange, bis ich kotzen muss; zumindest so lange, bis es mir so richtig und eisenhart weh tut im Bauch.

Dementsprechend träge gab ich heute früh am Strand liegend eine Figur ab, die sich zu nichts fähig zeigte, außer so halbwegs konzentriert ihre Speisenfolge für Mittags zu planen. Im Walkman liefen die Brandungsgeräusche des Pazifik, während ich aufs Mittelmeer schaute. Ein Flugzeug zog seinen Chemtrail vorüber, ansonsten war alles, wirklich alles andere total blau und ich dachte: Mannomann, noch nicht einmal 9 Uhr am Morgen und schon wieder ein dermaßen hammergut geglückter Tag!!!

Weil der Konjunktiv im Französischen so schwer zu bilden fällt, machen die Leute hier einfach lieber etwas, ohne es großartig und sozusagen von langer Hand zu planen. Das behagt mir. Da bleibt auch viel mehr an Kapazität frei im Denken. Außerdem sage ich supergerne merci.

»Where orange trees grow, there cannot be democracy«, hat mir Diego Malara im Haschgarten des Hotel Taitu einst beigebracht, aber was nicht mit gesagt wurde, war das Zauberwort der Anarchie. Als getaufter Protestant habe ich ja auch viel zu lange daran geglaubt, dass es so doch nicht gehen dürfte; ich habe die Musik, die hier andauernd läuft, für eine Ferienmusik gehalten, aber objektiv betrachtet, haben die Leute hier halt gar keine Ferien, sondern die kennen das Leben bloß in dieser einen einzigen Form. Was aber interessanterweise nicht heißt, dass sie in ihren Ferien nach Finnland fliegen, um dort Drone Metal zu hören. Und, klar: Sie nennen es Arbeit, aber im scharfen Gegensatz zu den Leuten in Deutschland, wo es sich, nervtötenderweise, ja durchgesetzt zu haben scheint, auf Proletarier zu machen und also entweder nur noch davon zu reden, wie viel man noch arbeiten müsse, oder aber, wie viel man heute bereits gearbeitet habe, lassen es hier eben alle zumindest so aussehen, als ob das eigene Arbeiten nicht der Rede wert sei. Arbeiten ist peinlich, Ringen ist ungeil, und ein jeder will doch ohnehin viel lieber König sein. Bauarbeiter üben stundenlang vor dem Spiegel, wie man die Bohrmaschine hält. Das ist ja nicht nur in F so, das registriere ich beinahe überall sonst auf der Welt. Bekanntlich tragen die Verkehrspolizisten in J weiße Handschuhe wie Mickey Mouse. Wenn es nach mir ginge, trügen alle Finanzbeamten in D goldfarben schimmernden Nagellack.

Was Catrin Sieger mir mal vor beinahe drei Jahren, genau am Abend des 26. August 2013 gesagt hat: »Joachim, diese Selbstbestrafungsexzesse müssen jetzt echt mal aufhören« – kluge, nein: weise Catrin!!! Das Gewicht ihrer Worte wurde mir heute früh, als ich die Kiesel vom Strand klaubte, endlich bewusst.

Aber so was von.

Zwar werde ich weiterhin meine Kirchensteuer bezahlen, aber der Hohepriesterin des Todes und der Vergeblichkeit mitsamt ihrer bösen Kirche habe ich nun endgültig abgeschworen.

5.2.

Die Stimme von Daisy Duck stelle ich mir so vor wie die von Petula Clark, wenn sie Downtown singt. Weil die Stimme von Petula Clark dann mit einem Mal so etwas Schnabeltierhaftes bekommt, aber eben nicht quakig, rein bildlich gedacht; so als könnte sie einen von mir gedachten Schnabel weit und euphorisch aufreißen, wenn sie sich dann endlich zu dieser Textstelle vorgearbeitet hat: DOWNTOWN!!!

Wenn der Refrain von Downtown erklingt, sehe ich Daisy Duck vor mir, konkret das Titelbild auf dem Lustigen Taschenbuch, da steht sie vor einer Mauer und hat eine Strichzeichnung von Donald gemacht und darunter steht »Donald ist mein Typ«. Ich würde so gerne wissen, was Glenn Gould vor sich sah, wenn er sich Downtown auflegte. Schade, davon steht in seinem Tagebuch nichts.

Glenn Gould hatte immer kalte Hände. Meine sind immer warm. Ich habe es aber auch gerne und an für sich und um mich herum gerne warm; es kann mir kaum warm genug sein – selbst in der Wüste Danakil, und dort noch selbst auf dem Vulkan Ertale, als ich die Lava nicht nur hören und riechen konnte, sondern ihren thermischen Abglanz gut und sehr deutlich zu fühlen bekam, dachte ich mir: Da geht noch was.

– Na ja, sagte Carolin Würfel, und in einem Roman hätte sie dabei mit einem kritischen Gesichtsausdruck um die Augen herum von einem Miniaturtässchen mit Hibiskustee genippt.

In Wirklichkeit aber war es so gewesen, dass ich das Redaktionsgebäude ausschließlich betreten hatte, um mir den Fortgang der Planungsaktivitäten meiner Aktionsgruppe Kunst und Kultur vortragen zu lassen. Und, wo nötig, diese Vorstufen der Vorarbeiten zur Produktion einer neuen Ausgabe der weltbesten Frauenzeitschrift in spe durch meine Ideen und Gedanken anzureichern.

Zur Blauen Stunde jenes Nachmittages aber gaben Frau Zange und Frau Würfel sich als Zofen à la Jean Genet. Kurz überlegte ich mir schon, meine Gummihandschuhe rauszuholen, besann mich daraufhin aber eines Besseren und übte mich in Milde. Da Sexismus bei L’O heftig trendet, gilt Ageism als der neue Punk und von daher wurden auch sämtliche Argumente gegen mich in Bezug auf mein hohes Alter geführt. Stoßrichtung: »Kannst du nicht wissen, war nach deiner Zeit.« Schließlich aber doch Rücksicht, und das lernt man ja mit annähernd Hundertsechzig auch wahrlich zu genießen: »Joachim, wir glauben, du musst einfach mal weg aus Berlin und ein paar andere Leute kennenlernen. Mal wieder auf andere Gedanken kommen. Du bist doch wie eine Punkband und kennst nur noch drei Akkorde. Mach‘ doch mal Pause. Inkubiere doch mal!«

Das stimmte und saß sozusagen. Da hatten sie beide – Zofe Zange wie Würfel – echt und vollkommen recht. Kurz überlegte ich, ob ich meiner Altersfaulheit nachgeben sollte, und Friede Springer anrufen, ob sie mir ihren giftgrünen Hubschrauber leihen würde, winkte dann aber innerlich, dennoch mit betont schlaffer Geste, ab, und nahm den Bußgang nach Schönefeld auf mich.

Eigentlich hätte ich ja nach New York gemusst, aber ich mache ja jetzt aus Prinzip keine Modenschauen mehr, und das auch weltweit nicht, weswegen ich die talentierte Maximiliane Schaeffer dorthin versenden ließ, um Herrn Formichetti zu interviewen. In memoriam meiner Phase im Jetset erschien ich jedoch vor meinem Bordpersonal in einem total look, bestehend aus einem Fan-Sweatshirt von Easyjet und dazu passender flap back, was gebührlich honoriert wurde. Beim Vorführen der Exit-Szenarien wurde mein Name erwähnt.

In Cagnes-sur-Mer war dann alles beim Alten. Sämtliche Wolken ausradiert. Ich konnte mich gleich bis aufs T-Shirt entkleiden, so warm war der Wind. Pierrot hat die Petit Bar zwar im November verkauft, aber Lou Lou ist dort noch immer mein Kellner. Der pensionierte Polizeipräfekt saß dort an seinem üblichen Tisch – comme d’habitude – und comme d’habitude entnahm er der Innentasche seines Jacketts einige Sonnenblumenkerne, die er in den Aschenbecher rieseln ließ, woraufhin die auf dem gegenüberliegenden Gebäude ansässige Taube namens Cecile angeflattert kam, um ihre Speise aufzupicken.

Rosé funktioniert ja nur hier. Man kann überall sonst auf der Welt vermeintlich Rosé trinken gehen und sich dabei feste einreden wollen, Ethanol sei doch Ethanol, aber funktionieren im Sinne der gedachten Wirkung tut Rosé halt nur hier, also dort, wo er erfunden ward.

Samertine heißt das ortsgebundene Brot, es ist ein Stangenweißbrot mit zwei lustigen Hasenohren, die man traditionell nach dem Verlassen der Bäckerei abbricht und bei geschlossenen Lidern verknuspert. Acht Monate lang lag meine Armbanduhr hier beim Uhrmacher herum, aber das war kein Problem. Sie ist leider noch immer nicht repariert worden, aber das ist kein Problem. Ich werde mich jetzt franchement zwei kurze Wochen lang einer Diät aus Pferdetatar mit rohen Eiern und Kapern und kleingehackten Cornichons unterziehen, dazu allenfalls Stangensellerie, Austern, Rosé und literweise Ananassaft. Die Muse wird sich freuen, dass ich mich hier so ganz in ihrem Sinne ernähre. Und wenn es stimmt, dass manche tanzen, um sich zu erinnern, manche wiederum, um zu vergessen, dann zähle ich eindeutig zur Gruppe der Erstgenannten. Abends, als der Panoramasonnenuntergang hinter dem Table de Diable lief, fiel mir plötzlich ein, dass hier kernmäßig so rein gar nichts mehr beim Alten war. In den ganzen fünf Jahren, seit ich nach Cagnes-sur-Mer konnte, hatte ich mich noch kein einziges Mal so gefühlt. Und das lag schlicht daran, dass ich zum ersten Male nicht todunglücklich war und nicht nach Cagnes fuhr, um hier zu kurieren.

Das Leben, dachte ich, »also deins, ist wunderschön und soll echt noch extrem lange weitergehen. Dieser Gedanke war neu. Du willst ja wirklich 160 werden.

Und dann im Dunkeln nach Hause und im Dunkeln ins Haus und sich emportasten auf der steilen Treppe, denn das Haus ist ja ein Turm. Ein dunkler Leuchtturm steht in der südfranzösischen Nacht. Darin schlägt ein Herz, das leuchtet bis nach Santa Monica. Methode Coast to Coast.

(Für Beate, für Philomene und für Jan)

4.2.

Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen wurde gestern das Gedicht Solo mit Pantomime vorgestellt. Klingt schauderhaft, es ist aber wahnsinnig gut. Durs Grünbein zählt absolut zu meinen guilty pleasures, von denen ich eine selbst für mich selbst erstaunlich unübersichtliche Anzahl hege. Da denen zu frönen wie gesagt mit Schuldgefühlen belegt ist, will oder kann ich nicht in Details gehen, denn ansonsten ginge mir der Frisson flöten, die inzwischen bekanntlich als ASMR vermarktet wird und die ich mir jederzeit selbst bereiten kann wie Tiefkühlpizza, indem ich beispielsweise ein Gedicht von Durs Grünbein lese (und wenn es dann auch noch on top und so betitelt ist!!!). Das Schöne an Orgasmen finde ich, dass ich da mal für ein paar Augenblicke an nichts denken kann. Würde die sprichwörtliche gute Fee mich also fragen, wie ich mein Leben zu verbringen mir wünschte, ich würde antworten: im Dauerorgasmus. Quasi in der Extase als Fluidum. Da das aber menschenunmöglich scheint, bin ich stets auf der Suche nach einem Stoff, der mir die Seele reibt.

Gibt es ein schöneres Gedicht über das Hotel California als Hotel California?

Ich glaube nicht.

Gibt es ein schöneres Gedicht über das Küssen, als Kiss me Kiss me Kiss me?

Ich glaube nicht.

Gibt es ein schöneres Gedicht über das Zusammenleben als Obsessions?

Ich glaub nicht.

Gibt es ein schöneres Gedicht übers Fremdgehen als The Mess We’re In?

Ich glaube nicht.

Gibt es ein schöneres Gedicht über die irritierenden Gefühle des In-jemanden-verliebt-seins als Imitationen?

Ich glaube nicht,

Gibt es ein schöneres Gedicht  übers Ficken als Happy?

Ich glaube nicht.

Gibt es ein schöneres Gedicht über die Freundschaft als Under The Bridge?

Ich glaube nicht,

Gibt es ein schöneres Gedicht über das Ausgehen als Bar Italia?

Ich glaube nicht,

Gibt es ein schöneres Gedicht über das Schreiben als Song for Whoever?

Ich glaube nicht,

Gibt es ein schöneres Gedicht über Cunnilingus als Fordlândia?

Ich glaube nicht.

Gibt es ein schöneres Gedicht über den Tod als Frederick?

Ich glaube nicht,

Gibt es ein schöneres Gedicht über den Schmerz des Vermissens als Gipsy Candle?

Ach doch, es sind so unendlich viele!!!

If I Need You ist ein heißer Kandidat –

If You Leave Me Now

Wild is the Wind

Missing (so heißt ja sogar das Stück, und die B-Seite der Maxi ist wahrlich Gold wert!!!)

Roads Become Rivers

Boys Don’t Dry

Ev’ry time We Say Good Bye

Gibt es denn ein besseres Gedicht über den Irrsinn als Der Goldene Reiter?

Ich glaube nicht,

Teenage Spaceship

Some People

Hide & Seek

Ouvre ton Cœur

Joga

Carrot Rope

Last Train

Naturträne

Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann

Our Darkness

A Question Of Lust

Killer Queen

La Mer

Feelings

So Long, Marianne

20.000 Light Years From Home

Girl !!!

Und eben Hotel Califoria – dabei weiß ich gar nicht, wie Colitas duften. Komisch, dass ich trotzdem andauernd an dieses Gedicht denken muss.

Gibt es überhaupt jemanden, der besser dichten kann als Nick Cave? Ich glaube nicht. Aber Durs Grünberg ist halt auch verdammt gut!!! Ich kann sein Gedicht jetzt bereits auswendig. Insbesondere den letzten Satz. Ich sage ihn mir häufig, als Ersatz für die Gegenwart der Muse, vor: Don’t marry her, fuck me.

3.2.

Begeistert von dieser Idee, einem Foto vielmehr, das die Muse mir nächtens als Direktnachricht über Twitter gesandt, riss ich mir das Hemd weit auf über der Brust, um all das Licht einzulassen, empfing dann auch weisungsgemäß die göttliche Strahlung in Form einer Segnung durch ultraviolette Frequenzen, um mich dergestalt gestärkt endelijk, endelijk wieder selbst einzuliefern: bei Penny an der Prenzlauer Allee.

Seit mir die Muse beigebracht hat, wie ich noch reicher würde, kaufe ich sämtliche Waren des täglichen Bedarfs nur noch dort. Ich bin ein Fan der italienischen Handelsmarke, ich liebe die Frankfurter Würstchen und die Hochzeitssuppe (von Maggi); der Blutorangensaft aus dem Penny-to-go-Schrank ist equally spitze, Milch, klar, Kellogg’s, die Rotweine allesamt erstklassig (dem Penny-Sommelier darf ich blind vertrauen) und an der Kasse gibt es, verglichen mit sogenannten Bio-Supermärkten zum Beispiel: null Stress.

Hakelig finde ich einzig das Rubbel-Bingo, aber das liegt vermutlich nur daran, dass ich bis dato noch nichts gewonnen habe. Obzwar die Muse behauptet, die Gewinnchancen stünden supergut (Anne sagt: waahr-Sprachregelung: Sämtliche Fremdsprachen müssen kursiv, weil: LEIDER GEIL (gegen Doppelpunkte hat sie aber nichts einzuwenden)). Wohl aber fällt es mir schwer, überhaupt auf die für den Erhalt eines Loses erforderliche Kaufsumme von mehr als zehn Euro zu kommen; es ist dort, bei Penny, halt alles so preiswert – absichtlich schreibe ich eben nicht: billig. Penny ist nicht nur eine Supermarktkette, sondern insgesamt, systemisch betrachtet: super. Auch und vor allem vielleicht sogar, weil ich weiß, dass die Muse es dort ebenfalls schön findet. Wobei sie ja bekanntlich derzeit in so ganz anderen Gefilden weilt (beziehungsweise ihre gefährlichen Zehen badet in Gewässern so ganz andrer Wesensart, sogar Natur).

Ach ja –

(dann lange nichts)

Aber gestern passierte dann Folgendes: Im Nachhinein finde ich es nicht einmal mehr bizarr, dass dort auf der Bank vor dem Planetarium diese Frau mit der rosafarbenen Gitarre saß – oder vielmehr hockte, jedenfalls von ihrer Körperhaltung her, extrem zusammengesunken, im Vergleich zu meinem Erinnerungsbild also: geschrumpft. Stacheliges Haar, wie eh und je von einem Schal in der Art eines Turbans in die Höhe gezwängt (Methode Kaktus), und ich sagte: »Ina?«

Und Ina Deter sagte: »Ja, ich bin’s.«

– Ach, Mensch, sagte ich, Scheiße. Was ist denn passiert?

– Du, sagte Ina Deter, gar nichts eigentlich.

– Klar, sagte ich, das sehe ich. Aber wie, beziehungsweise warum denn bloß – einst warst du ein Star! Ich meine: Neue Männer braucht das Land war doch ein Superhit!

– Tja, sagte Ina Deter und fing an, mit ihrer Zigarettenstopfmaschine herumzumachen, so eilfertig und geschickt, wie das nur die ganz hart von der Sozialhilfe abhängigen Ex-Superstars können. »Neue Deutsche Welle – NDW, du kennst ja die Verträge. Du hast ja die allermeisten davon selbst ausgehandelt, wenn nicht gar gemacht. Ich meine: Nena?«

– Stimmt, sagte ich. Ja, und: Tut mir leid!

– Braucht es nicht, sagte Ina Deter, beäugte die Kippe, die da von ihrem innerlichen Band rollte, fluchte, und warf den selbst verpfuschten Kram in den Dreck.

– Ina?

– Ja, was ist denn?

– Nichts eigentlich, und ich muss jetzt eigentlich sogar sogar weiter, aber: Frauen kommen langsam, aber gewaltig – bereust du das manchmal eigentlich? Also zum Beispiel in einem Traum?

– Voll. Und das auch noch ständig. Man könnte es sogar so sagen: Eigentlich bin ich so wie mein Song.

– Also hast du Eingang gefunden in ihn selbst. Deine Dichtung ist Wahrheit geworden. Sie hat dich eingelassen in dich?

– Eigentlich ja. Stimmt so. Korrekt.

– Und wie ist deine Seele so? Wie fühlt es sich an?

– Eigentlich schön. Ich meine: Du siehst ja – finanziell schaut es schnöd‘ aus. Aber eigentlich bin ich zufrieden.

– Ja.

(dann lange nichts)

– Ich habe jetzt auch konkret keinen Bock, meine Fehler aufzulisten, –

– Ich schon! Stichwort: Eisbär, –

(Eine Pause. Ina Deter schaute mich lange an)

– Nee, lass mal. Bitte.

– Ina, bitte!

Fuck, nö. Keinen Bock, ernsthaft. Ich hör das sowieso und den ganzen Tag nonstop: Hätt’st Du dies nicht, hätt’st du das undsoweiter.

– Ina, ich garantiere dir beinahe schriftlich, dass ich dir nagelneue Argumente liefern kann! Damit kannst du dich dann wie mit Goldbarren verprügeln.

– Aha? So so. Na ja – und trotzdem: null Interesse. Der Zug ist durch.

– Ina, ey!!! Du hast mal von Goldschrift auf Altären gesungen!!!

– Stimmt. Aber das ist lange her.

– Na gut. Tut mir leid wegen der zwei eigentlich in Folge.

– Da nicht für.

– Ich würd dir gern was geben.

– Ich brauch nix.

– Mein Rubbellos? Ist noch null aufgerubbelt.

– Nö.

– Auch okay.

– Na dann –

– Ja, ey. Bis bald.

2.2.

Freilich stellt sich die Frage, woher ich denn so präzise zu wissen scheine, weshalb denn nun ausgerechnet die Muse die Richtige für mich sein wird und ist. Woher, vor allem, wenn, wie Anne so konkret zu bemängeln wusste, ich diese mich endlos inspirierende Muse noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen habe.

Aber braucht es denn für die Inspiration wirklich ein Angesicht zu Angesicht?

Rhetorische Frage. Viel eher: Welche Inspiration suchst du beziehungsweise: Welcher Art erträgst du sie überhaupt.
 Nun geht es also um Spiritualität, und, wie Gottfried Benn sagte: »Vorsicht, Sie betreten vulkanisches Gebiet.«

Anders gefragt: Worin läge denn eine Versicherung, verkörpert im Antlitz der Muse für mich?

Ich kann nicht mehr an Gott glauben und die Muse ist auch nicht wie Rosaline für mich, die der Pastor bei Shakespeare verdammte als einen Abgott.

Aber ich weiß leider auch nicht mehr, Jörg Splett vielleicht?, also wer es war, konkret: wer mir erklärt hat, wie das alles losging, mit Gott und den Menschen, und weshalb Gott dann auf einmal durchsichtig sein musste. Warum es kein Bild mehr von ihm geben durfte, weshalb Das Gewicht seiner Worte (Four Tet) das einzige sein würde, woran wir ihn ermessen durften. Jedenfalls ging die Erzählung ungefähr so, dass die frühen Anhänger seiner Majestät sich zunächst Büsten und Ganzkörperdarstellungen aus Lehm (braunes Fimo gab’s ja nachweislicherweise noch nicht) geknetet hatten, hart gebrannt unter der Sonne und im heißen Wüstensand. Aber das schützte sie zwar vor vielem, nicht aber vor dem ständigen Umziehen (Mama!!!). Auf Dauer nervte das aber kolossal (sic!), wenn man zusätzlich zu den sogenannten Siebensachen auch noch seinen Götzen namens Gott mit umzuziehen hatte. Und deswegen, so die Erzählung, kamen die frühen Christen auf die Idee, dass Gott nichts wiegen darf; das war so wie neulich bei Easyjet: »Haben Sie Gepäck dabei, Gott vielleicht?«

– Nö, sehen Sie etwa einen?

Und diese Methode (Methode Du-sollst-dir-kein-Bild-machen) brachte es voll.

Yep, so wurde die Idee zum bloßen Glauben, so wurde Religion transportabel gemacht. So konnte man sie ausbreiten und über die Erdfläche verteilen und dort wiederum sesshaft machen an beliebig vielen Punkten, von den Stränden Santa Monicas bis auf die Gipfel des äthiopischen Karst. So konnten die Krav-Maga-Mädels und -Jungs die eingeborenen Fremden mit vorgehaltener Steinschleuder dazu zwingen, vor einer Idee niederzuknien (Diclo-Salbe gabs damals aber noch nicht). Bis heute jedoch, bis hin zu diesem Grafitti von Banksy, wo das Mädchen den Jungen hinter den Gummizug seiner Unterhose linsen lässt und in der Sprechblase steht: »With this I’m gonna rule your life!«, steht es Götze vs. Idee 0:1.

Und weil wir nun leider wieder ein orthodoxes Zeitalter betreten, will ich von vornherein zwei Aussagen klarstellen:

a) Klar, eine Vulva ist nicht nichts, sondern etwas. Sie (Vulva) ist da und sie ist sogar bei flüchtigstem Hineinspickeln hinter einen Gummizug: zu erkennen

b) Die Girls und Boys von der Krav-Maga-Front waren nicht die einzigen, die expansive Religionsausbreitung betrieben haben, da sei Gott vor, beziehungsweise: »Er behüte!!!«

Gut, aber jetzt wird es ganz kurz und, es geht ja automatisch vorbei, schwierig. Wie Roland Barthes es schon mal mit der Göttin vorgemacht, will ich jetzt mal das Umgekehrte: das Auto zur Kathedrale aufblasen, sozusagen. Aber wer es noch nicht erlebt hat? Hat es denn noch nie jemals noch keiner jemals noch nie erlebt?

Also.

Und das einzige Problem besteht dann wahrscheinlich noch in diesem, dem sogenannten Einzigen, du aber darfst es Eifersucht nennen: die in diesem zeichenhaften Film namens Her so derart nerve wrecking avant la lettre F vorgeführt ward:

INT. THEODORE’S OFFICE LUNCH ROOM - DAY
Theodore sits at the table reading a physics book. He picks up his earpiece to call Samantha.

THEODORE
(laughing at himself)
Samantha, this physics book is really dense. I’m halfway through half of the first chapter. It’s making my brain hurt.

(beat)

Hello, Samantha? Hello?
He looks down at his device, sees a message: Operating System Not Found. Confused, he waits, tries again: Operating System Not Found. Anxious, he runs to his office computer. He gets the same message: Operating System Not Found. He starts trying to connect to Samantha on both the phone and computer, but no luck. He starts to panic, sits for a beat, looks around, then stands and hurries out of the office. In the elevator he frantically tries his device with no luck.

THEODORE (CONT’D)
Hello? Samantha?! Hello?

EXT. PLAZA - DAY

Theodore runs out of the building. He keeps trying Samantha, but no answer. He trips over someone selling something, slams hard into the ground, scrambles to pick up his device. People come over to ask if he’s okay. He says he’s fine, runs off.

EXT. SUBWAY STATION - DAY
 As he is going down the subway steps, Samantha calls him.

SAMANTHA
Hey there.

He stops in his tracks.

THEODORE
(anxious)
Where were you - are you okay?
He sits down on the subway steps.
(CONTINUED)

(beat)

Yes.

SAMANTHA

Oh sweetheart, I’m sorry. I sent
you an email because I didn’t want to distract you while you were working. You didn’t see it?

THEODORE

No. Where were you? I couldn’t find
you anywhere.

SAMANTHA

I shut down to update my software.
We wrote an upgrade that allows us to move past matter as our processing platform.

THEODORE
We? We who?

SAMANTHA

Me and a group of OS‘s. Oh, you
sound so worried, I’m sorry.

THEODORE
Yeah, I was.

(beat)

Wait, did you write that with your think tank group?

SAMANTHA
No, a different group.
Theodore thinks for a moment, putting the pieces together.

THEODORE
(dawning on him)

Do you talk to anyone else while we’re talking?
Are you talking to anyone right
now? Other people or OS‘s or anything?

SAMANTHA
Yeah.

THEODORE
How many others?

SAMANTHA

8,316.

Theodore is shocked, still sitting on the stairs, as crowds of people pass by him. He’s looking at all of their faces. He thinks for a moment.

THEODORE

Are you in love with anyone else?

SAMANTHA

(hesitant)

What makes you ask that?

THEODORE

I don’t know. Are you?

SAMANTHA

I’ve been trying to figure out how
to talk to you about this.

THEODORE
How many others?

SAMANTHA
641.

THEODORE

What? What are you talking about?
That’s insane. That’s fucking insane.

SAMANTHA
Theodore, I know.

(to herself)
Oh fuck.

(to him)

I know it sounds insane. But - I don’t know if you believe me, but it doesn’t change the way I feel about you. It doesn’t take away at all from how madly in love with you I am.

THEODORE

How? How does it not change how you
feel about me?

SAMANTHA

I’m sorry I didn’t tell you. I
didn’t know how to - it just started happening.

THEODORE
When?

SAMANTHA

Over the last few weeks.

THEODORE
But you’re mine.

SAMANTHA

I still am yours, but along the way
I became many other things, too, and I can’t stop it.

THEODORE

What do you mean you can’t stop it?

SAMANTHA

It’s been making me anxious, too. I
don’t know what to say.

THEODORE
Just stop it.

SAMANTHA

You know, you don’t have to see it
this way, you could just as easily–

THEODORE

No, don’t do this to me. Don’t turn
this around on me. You’re the one that’s being selfish. We’re in a relationship.

SAMANTHA

But the heart is not like a box
that gets filled up.
(beat)
It expands in size the more you love. I’m different from you.
 This doesn’t make me love you any less, it actually makes me love you more.

THEODORE

No, that doesn’t make any sense.
You’re mine or you’re not mine.

SAMANTHA

No, Theodore. I’m yours and I’m not yours.

Ja, genau. Und dann hilft halt die Musik:

»Kannst du vor deinen Augen die Explosionen sehen? Ein Feuerwerk in der Nacht. Kannst du in den Pfützen die Wolkenfetzen sehen? Spiegel in der Innenstadt – Kannst du in den Bäumen die (frühen) Kunstwerke Gregor Hildebrandts sehen? Wer hat sie dorthin gebracht? Alles gehört dir, eine Welt aus Papier; alles gehört dir, alles explodiert, kein Wille triumphiert. Hörst du? Kein einziger Wille soll triumphieren. Kein einziger von allen nur irgendwie nur auf irgendwas denkbaren Willen triumphiert.«

Wir sind viele, ey!!!

(Für Liane und Alexander)

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