»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

18.3.

Gestern früh sah ich von meinem Fensterplatz im Airbus 976 aus 31.000 Fuß auf das Leipziger Messegelände und unter ihren Schwingen zog die Maschine der Swissair den Frühling über das gesamte Land.

Später, als ich dann wirklich nach Hause kam, fand ich im Kies eine tote Fledermaus. Anscheinend falten die sich sterbend die zarten Flügel eng an den walzenförmigen Leib, der tatsächlich von einem Fell bedeckt ist, ähnlich dem einer Haselmaus.

Die Sonne schien. Der Himmel war blau und zwischen den Ästen der Bäume wurden die Stämme von schwarzen Schatten gestreift. Fladder 22 lag im Wasser neben der Wappen von Berlin. Am Ufer: schlafende Enten. Paarweise, einander gegenüber, die Schnäbel ins Gefieder gesteckt.

Im Hotelzimmer hatte ich ein paar Stunden lang wahllos ferngesehen. Dazu die leider nur in der Schweiz erhältlichen Kartoffelchips der Marke Zweifel. Auf einem englischen Kanal gab es einen Werbespot für das Disneyland im nahen Paris. Man sah ein Teenagermädchen, das von der SMS eines Teenagerjungen geweckt wurde. Das Mädchen lächelte.
Voice-Over: »O je, die Kinder. Zeit vergeht.«
Dann drehte sich das Mädchen noch einmal in seinem Bett um und umarmte einen Plüschdonald unter ihrer Decke.
Voice-Over: »Aber bis dahin geht ihnen nichts über ihre erste Liebe. Deshalb rasch noch einmal nach Disneyland, bevor aus ihren Kindern bald schon Erwachsene werden.«

Oder so ähnlich. Die Message war jedenfalls diese.

Heute früh sang wieder die Amsel für mich.

(Für Philomene)

17.3.

In der 29. Minute spuckte der Trainer des FC Bayern vor sich aus. Ich wusste zuerst gar nicht, was ich schlimmer finden sollte: dass er es tat oder dass dies vom ZDF in Zeitlupe übertragen wurde. Und zwar nicht als ein Zufallsfund, während etwa im Vordergrund gerade um einen Ball gerangelt wurde, sondern als eigenständige, als eine diesen Mann portraitierende Szene gesucht, gerahmt und, wie gesagt, unter der zusatzlich präzisierenden Zeitlupe gesendet.

Ich weiß schon, was ich gegen Fußball habe. Es ist einfach das Allerletzte. Oder wie es Emily Segal ultimativ formuliert hat: »Just one giant screen saver«. Leider halt dazu noch laut. Wir schauten das Spiel an und zugleich auch nicht an, im Hinterzimmer des Morgenstern in der Zwinglistraße. Ein Restaurant, das mir auch deshalb sympathisch ist, weil es auf der Visitenkarte unter Öffnungszeiten heißt »Sonntag nur für Spezialanlässe«. Auf dem extrem kleinen Tisch, der gerade so in das Hinterzimmer hineinpasste, lagen Zweige, an denen wuchsen Zitronen. Bald schon wurde mit den Zweigen geworfen. Dann mit den Zitronen.

Im Überschwang der Gefühle legte der Wirt zwei Fünfzigfrankenscheine auf den Tisch als Wetteinsatz. Die waren dann weg.

16.3.

Warum berührt mich der Ausblick auf den See in einer ganz anderen Weise, als der, den ich auf den Fernsehturm hatte? Ich war noch gar nicht am Wasser unten, fiel mir dabei ein. Anfänglich hatte ich zu Unrecht befürchtet, der See könnte es schaffen, durch seine nackte Erscheinung so einen schwäbischen Nutzungsstress in mir auszulösen. Dass ich dann täglich einmal ans Ufer gehen müsste, weil: Wann lebt man schon mal in der Nähe eines Ufers! Oder die Wassertemperatur prüfen am Steg. Wie in der Beziehung mit einer Frau, die extrem große Brüste hat: dass man sich dauernd daran erinnert, noch etwas mit diesen Brüsten zu machen, weil die eben vorhanden sind und aufgrund ihrer auffälligen Größe fähig, auf sich selbst hinzuweisen.

Warum bewegt mich der Morgengesang der Amsel hier auf ihrem Baum vor meinem Fenster in ganz anderer Weise, als der meiner Amsel, die dort auf einem Baum vor dem denkmalgeschützten Plattenbauensemble wohnte? Gut möglich, ja, ich wünsche mir eigentlich, dass es sich hier noch um dieselbe Amsel handeln mag; dass sie mir nachgefolgt ist, über dem dahinfahrenden Lastauto fliegend, um sich dann vor meinem Fenster hier einen neuen Schlafbaum auszusuchen.

15.3.

Gestern Abend, als Ergebnis einer zwar kurzen, dafür heftig ausgetragenen Debatte zum Thema Nature versus Nurture, dachten wir uns, die Muse und ich, gemeinsam die folgende Geschichte aus:

Ein kleiner Junge sieht, seit er sich erinnern kann, wie sein Vater seiner Mutter abends vor dem Schlafengehen ein Glas Wasser an ihre Seite des Bettes stellt. Eines Abends fragt er seinen Vater, ob der ihm auch ein Glas Wasser ans Bett stellen würde, da erklärt ihm der Vater: nein. Schließlich sei er ein Junge, später dann würde er selbst ein Mann sein, und einst würde er seiner Frau ein Glas Wasser ans Bett stellen.
Der Junge fragt noch ein, zwei Mal, dann lässt er es für immer sein.

Jahre später lernt eine junge Frau diesen jungen Mann kennen. Sie unterhalten sich, es herrscht eine Anziehungskraft, die beide unerklärlich finden und ein bisschen beunruhigend auch, aber sie beschließen jeder für sich, ihr nachzugeben. Als sie das nach vielen Gesprächen und Telefonaten und Spaziergängen vor einander aussprechen, das mit der Anziehungskraft, küssen sie sich das erste Mal.
Später irgendwann sind sie in einer Wohnung, vielleicht auch in einem Hotelzimmer, er liegt auf dem Bett und wartet auf sie, die noch im Badezimmer ist und sich wäscht. Als sie herauskommt, hält sie ein Glas Wasser in der Hand, das sie neben ihn stellt. Dann legt sie sich auf die andere Seite und küsst ihn. Er weint.

Sie fragt ihn, warum, und er sagt ihr, wie es ist: dass er sich das immer gewünscht habe; was der Vater gesagt habe; und nun sie -
Sie schaut ihn an, dann sagt sie, dass es für sie nichts besonderes bedeute, ihm vor dem Schlafengehen noch ein Glas Wasser hinzustellen. Sie wolle ja bloß nicht, dass er nachts extra aufstehen müsse, falls er wach würde und durstig sei.

Er schaut sie an und kann sein Glück nicht fassen. Und beide wissen nun, dass sie füreinander geschaffen sind.

14.3.

Aus dem äthiopischen Grundgesetz, niedergelegt im ersten Jahr der Gründung einer Föderalen Demokratischen Republik Äthiopiens (Federal Democratic Republic of Ethiopia), am 21. August 1995 (nach dem Gregorianischen Kalender gerechnet; circa im Jahre 1987 äthiopischer Zeit) in Addis Ababa:

PART TWO

DEMOCRATIC RIGHTS

Article 29
Right of Thought, Opinion and Expression

1. Everyone has the right to hold opinions without interference.

2. Everyone has the right to freedom of expression without any interference. This shall include freedom to seek, receive and impart information and ideas of all kinds, regardless of frontiers, either orally, in writing or in print, in the form of art, or through media of his choice.

3. Freedom of the press and other mass media and freedom of artistic creativity is guaranteed. Freedom of the press shall specifically include the following elements:

a) Prohibition of any form of censorship

b) Access to information of public interest

4. In the interest of the free flow of information, ideas and opinions which are essential to the functioning of a democratic order, the press shall, as an institution, enjoy legal protection to ensure its operational independence and its capacity to entertain diverse opinions.

5. Any media financed by or under the control of the State shall be operated in a manner ensuring its capacity to entertain diversity in the expression of opinion.

6. These rights can be limited only through laws which are guided by the principle that freedom of expression and information cannot be limited on account of the content or effect of the point of view expressed. Legal limitations can be laid down in order to protect the well-being of the youth, and the honour and reputation of individuals. Any propaganda for war as well as the public expression of opinion intended to injure human dignity shall be prohibited by law.

7. Any citizen who violates any legal limitations on the exercise of these rights may be held liable under the law.

[…]

Article 35
Rights of Women

1. Women shall, in the enjoyment of rights and protections provided for by this Constitution, have equal right with men.

2. Women have equal rights with men in marriage as prescribed by this Constitution.

3. The historical legacy of inequality and discrimination suffered by women in Ethiopia taken into account, women, in order to remedy this legacy, are entitled to affirmative measures. The purpose of such measures shall be to provide special attention to women so as to enable them compete and participate on the basis of equality with men in political, social and economic life as well as in public and private institutions.

4. The State shall enforce the right of women to eliminate the influences of harmful customs. Laws, customs and practices that oppress or cause bodily or mental harm to women are prohibited.

(a) Women have the right to maternity leave with full pay. The duration of maternity leave shall be determined by law taking into account the nature of the work, the health of the mother and the well-being of the child and family.

(b) Maternity leave may, in accordance with the provisions of law, include prenatal leave with full leave.

6. Women have the right to full consultation in the formulation of national development policies, the designation and execution of projects, and particularly in the cause of projects affecting the interests of women.

7. Women have the right to aquire, administer, control, use and transfer property. In particular, they have equal rights with men with respect to use, transfer, administration and control of land. They shall also enjoy equal treatment in the inheritance of property.

8. Women shall have a right to equality in employment, promotion, pay, and the transfer of pension entitlements.

9. To prevent harm arising from pregnancy and childbirth and in order to safeguard their health, women have the right of access to family planning education, information and capacity.

13.3.

Die Krise überwindet Peter Handke in einem Bungalow vor der Stadt. Sein Verleger Siegfried Unseld besorgt ihm das Haus in Kronberg im Taunus. Peter Handke lebt dort als alleinerziehender Vater seiner Tochter, nachdem ihn die Mutter des Kindes während eines Jugoslawienaufenthalts sitzen lässt, um sich auf ihre Karriere konzentrieren zu können. So zumindest stellt es Peter Handke selbst in seiner »Kindergeschichte« dar. Das Ereignis der Geburt schildert er in einem Brief an Siegfried Unseld, datiert vom 22. April 1969:

»Lieber Siegfried,
Ich schreibe schon wieder, aber ich habe im letzten Brief vergessen, Dich zu bitten, von meinem Guthaben beim Verlag
10000 Mark
an meine Mutter,
Maria Handke,
Altenmarkt 6,
A-9112 Griffen, Kärnten, Österreich
überweisen zu lassen. Ich dachte, das sei einfacher, als wenn ich mir das Geld erst hierher überweisen lasse. In Griffen gibt es eine Sparkasse, die auch Bankgeschäfte erledigt. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Überweisung recht schnell möglich wäre.
Über die 2. Auflage der Gedichte freue ich mich recht sehr. Hoffentlich geht es immer weiter. Auch die Tormanngeschichte müsste dann verkäuflich sein.
Vorgestern hat Libgart das Kind gekriegt, es ist ein sehr schönes Mädchen und heißt Amina. Es ging recht gut, Komplikationen kamen nicht vor. Das Kind ist 53 cm groß und wiegt 3,85 Kilo, das ist für ein Mädchen recht viel. Es ist vor allem gefräßig und müde. Libgart hat viel Blut verloren, ist aber schon wieder recht munter. Jetzt am Abend fahre ich wieder in die Klinik hinaus. Wir sind beide recht froh, ich selbst befinde mich in einem Zustand gelöster Langeweile, aber der ist sehr angenehm. Erst jetzt kommt heraus, daß ich vom Arbeiten doch recht erschöpft war.
Ich schicke Dir auch den Vertrag für den Hörspielsammelband zurück. Er liegt diesem Brief bei.
Ich bin unfähig, etwas Vernünftiges zu schreiben, geschweige denn zu denken.
Herzlich
Dein
Peter (Handke)«

In Kronberg entsteht »Die linkshändige Frau«. Peter Handke erzählt aus der Perspektive dieser Frau, einer Übersetzerin, die mit einem kleinen Jungen zusammenlebt. Es gibt darin eine Schilderung seiner Aussicht auf das Tal und ein aufsteigendes Flugzeug. Die lese ich seit Jahren immer wieder und kann sie noch immer nicht auswendig.

Gestern nachmittag habe ich vier Stunden lang Bücher und andere Gegenstände ausgepackt, sortiert, aufgestellt, vor allem aber die meisten davon lange angeschaut. 43 Monate ziemlich konsequenter Wohnvermeidung sind damit beendet. Es steht hier nun wieder alles versammelt, was mir gehört. Seltsam fand ich, dass ich jeden auch noch so belanglosen Gegenstand wiedererkannte. Sehr gut fand ich, dass ich endlich wieder Platz genug hatte für alles und nichts mehr aussortieren musste. Sogar der fadenscheinige Kissenbezug, in dem ich das äthiopische Silber aufbewahrte, ist wieder aufgetaucht. Und die geflochtene Giraffe aus Oaxaca, in deren schlankem Leib es von zig Körnchen, vielleicht Saatgut?, rasselt.

Ich schlief ganz anders als sonst.

12.3.

Im Mittelbau seines Werkes, angefangen mit Der Chinese des Schmerzes bis hin zu Der Bildverlust, geht es Peter Handke um die Problematik der Schwelle. Das Spektrum der Empfindungen gegenüber Schwellen aller Arten - Türschwellen vor allem, aber auch in der Natur vorgefundene, also schwellenartige Felsformationen, Senken, quer über einen Weg oder Pfad verlaufende Wurzeladern, Wasserläufe und dergleichen mehr, mit denen seine Erzähler und Erzählerinnen sowie Figuren, von denen erzählt wird, sich in den Erzählungen Peter Handkes konfrontiert finden - reicht von Schwellenfurcht bis Schwellenlust. Mal wird die Schwelle gescheut und mal wird sie besungen.

Das wird nicht jeder Handkeforscher bedeutsam gefunden haben. Ich schon. Aus persönlichen Gründen, denn so etwas wie eine Schwellenfurcht kenne ich wohl. Vor allem rührt meine von einer Angst vor allem Neuen und vor Veränderungen, die ich in beiden Fällen – Anschaffungen und damit einhergehende Veränderung meiner Umgebung; Veränderung meiner Rituale durch das Benutzen neuer Kultgegenstände – unnötig finde und von daher auch zu vermeiden suche, wo es nur geht.

Es handelt sich dabei aber tatsächlich um bloße Schwellenfurcht, denn sobald das Gefürchtete dann hinter mir liegt, also eine neue Zahnbürstensorte gekauft wurde, der Besuch nicht bloß vor der Tür steht, sondern bereits Platz genommen hat und zu erzählen beginnt, ist durch mein Überspringen der Schwelle alles gut. Und wie es in dem Bild von der Schwelle heißt, liegt dann alles Fürchterliche hinter mir. Es lässt sich betrachten wie durch den gedachten Türrahmen ohne Tür, dem die gefühlte Schwelle zuunterst lag und die Gefühlswelt auf der anderen Seite beinhaltet auch diese Furcht. Aber sie bleibt durch die Schwelle gebannt und lässt sich betrachten, vermag aber nicht über die Schwelle herüber und durch den Rahmen ins Diesseits hinein.

Jahrelang habe ich, in einer Verweigerungshaltung verharrend, ein Telefon aus dem Jahr 1998 benutzt. Mit dreifach belegter Tastatur und milchigem Display. Das Nokia 6310 ist extrem formschön, es liegt gut in der Hand, aber in letzter Zeit häuften sich die Probleme. Neulich verschlief ich einen Anruf der Muse, weil es irgendwie falsch, vielleicht auch nur zu leise klingelte. In Paris erhielt ich über Stunden weder Anrufe noch Nachrichten. Oft ging es auch mitten in Gesprächen einfach aus. Alles nicht schlimm, aber irgendwann muss man sich auch mal entscheiden.

Als ich gestern am Alexanderplatz vorbeikam, holte ich tief Luft und hielt diese an, bis ich die Filiale von Vodafone betreten hatte. Man kümmerte sich sehr lieb um mich. Es gibt keine Telefone mit Tasten mehr, und als ich meine Bedürfnisse schilderte, Ansprüche auch, wählte die extrem sanft verhandelnde Kundenberaterin ein Modell aus, das sich sowohl durch eine extrem klare Übertragungsqualität auszeichnete, dazu noch wohlgeformt war und, so behauptete sie zumindest: unzerstörbar sein sollte.

Mal schauen.

Wenn Daniel Dennett Recht hat, und es sieht ja extrem danach aus, dass er Recht behalten wird, dann sind Telefone und Computer eben längst keine Geräte mehr, sondern es sind Kolonien unseres Bewusstseins. Als die Verkäuferin mich darauf hinwies, dass dieses Gerät sogar wasserdicht sei, und ich damit unter der Dusche telefonieren könnte, nickte ich, sagte »Klaro« und wunderte mich nicht.

Da war die Schwelle längst gebannt und erledigt und ich trat, den Laden unter den Gleisen verlassend, in eine neue Gefühlswelt ein.

Im Gehen tippte ich die Nummer der Muse, die Glasplatte quittierte jede Zahl mit einem energischen Pulsen, das fand ich schon mal extrem gut. Was dann geschah, war exakt so, bloß noch heftiger, wie damals, als Christian Naujoks im Berghain Do It Again von Steely Dan über die große Anlage laufen ließ.

Der Klang einer Stimme als inneres Erlebnis.

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