»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

18.5.

Am Nachmittag dann noch einmal dieses selbst erfundene Spiel ausprobiert, das mir meine Mutter früher immer ans Bett gebracht hatte, wenn ich krank war. Ich hatte es als total unterhaltsam und vor allem auch spannend in Erinnerung behalten. Auch um diese Erinnerung möglichst unbeschädigt behalten zu dürfen, hatte ich das Spiel seit meinen Kinderkrankheitstagen nicht mehr gespielt. Gestern aber füllte ich dann, ohne dabei hinzusehen, eine Schüssel mit einigen wahllos aus meiner sogenannten Technikschublade herausgegriffenen Gegenständen, deckte dann, auch hier wieder ohne hinzusehen, diese mit den Gegenständen gefüllte Schüssel mit einem Geschirrtuch ab und brachte sie an mein Bett. Mit dem nicht Hinsehen während der Vorbereitungsschritte 1 bis 3 simulierte ich meine abwesende Mutter, die einst diese gefüllte Schüssel insgeheim vorbereitet und abgedeckt an mein Bett gebracht hatte. Das Spiel an sich aber, so stellte ich es gestern nicht gerade verblüfft, aber doch mit Freude fest, lässt sich auch hervorragend ohne die anwesende Mutter, beziehungsweise allein spielen: Im Bett liegend, schiebt man aus leicht aufgerichteter Position seine Greifhand unter das die Schüsselmündung bedeckende Tuch und fasst mit tastenden Fingerspitzen nach dem erstbesten Gegenstand. Nun gilt es, allein durch hin- und herbewegen dieses Gegenstandes unter dem Tuch, durch ein Wandernlassen des Gegenstandes durch die Fingerspitzen, durch ein Abwägen und -wiegen herauszufinden, um welchen Gegenstand es sich handelt. Raten ist erlaubt, allerdings führt das Aussprechen einer Vermutung in der Solovariante unweigerlich auch gleich zur Auflösung, da ja die Mutter fehlt, die in der Standardversion mit heiß und kalt, ja und nein etc. den Ratevorgang spannender gestalten könnte. Wichtig ist auch, bei der Vorbereitung: dass man die Schüssel nicht allzu hoch mit Gegenständen befüllt, weil sonst der Ratehand zu wenig Spielraum unter der Geschirtuchdecke zur Verfügung steht. Das Spiel hatte keinen Namen.

17.5.

Softer Malaria-Flashback über Pfingsten, der angenehm mit meiner nicht vorhandenen Frühjahrsmüdigkeit korreliert: Weiterhin früh erwachen, aber viel länger brauchen als üblich, um irgendwas hinzukriegen. Also beispielsweise einen Arm zu heben. Die Hand zu öffnen. Die Augenlider wieder zuzuklappen. Das Schlaf-und-Dämmerphasen-zu-Wachzeit-Verhältnis hat sich umgekehrt, mir bleiben also nur noch sechs Stunden, um irgendwas zu tun – Mahlzeiten eingerechnet. Also knapp dreieinhalb für Produktives, denn essen muss ich ebenfalls extrem ausführlich und auch viel. Dadurch entsteht wahrscheinlich zusätzlicher Ruhebedarf. Wenn das so weitergeht – wäre ja schön. Eigentlich.

»wo, die meine hand hält, gefährtin,
verweilst du, durch welche gewölbe
geht, wenn in den türmen die glocken
träumen, daß sie zerbrochen sind,
dein herz?«

16.5.

Den gesamten Tag im Bett verbracht und den Roman vom Miranda July zu Ende gelesen. Der lag hier jetzt wochenlang herum, in der Wohnung zuvor auch schon, wenn ich mich richtig erinnere. Beim ersten Versuch war ich bloß bis zur Seite 70 gekommen. Im zweiten Anlauf wird es ab Seite 80 richtig gut, überraschend, und ich frage mich, ob sie den Mann im Jasmin von Unica Zürn gelesen haben könnte.

Dem deutschen Lektor scheint es wiederum genau andersherum gegangen zu sein, denn ab Seite 80 häufen sich die unkorrigierten Tippfehler und noch ein paar Seiten später bleiben auch verstärkt die Redundanzen stehen, was teilweise sogar zu ungemeinten Subjekt-Objekt-Beziehungen führt. Ärgerlich in diesem Fall, zumindest würde es mich extrem ärgern, wenn ich Miranda July wäre, denn sie erzählt ja nun ab Seite 80 eine Geschichte teils imaginärer Beziehungen; in einer nähert die Protagonistin sich in ihrer Einbildung als ein Mann aus ihrer persönlichen Vorstellungswelt einer in ihrer persönlichen Umwelt tatsächlich existenten Frau. Wahn und Wirklichkeit mit defekter Sprache beschrieben: problematischer als geplant. Ich sah den Lektor förmlich vor mir, wie er, genervt von seinem Desinteresse, vielleicht auch von seinem Gefühl des sich Ausgeschlossenfühlens, durch die Datei des teuer eingekauften Erfolgstitels aus den USA scrollt, bis endlich wieder eine Passage käme, die er verstehen würde. Ab Seite 180 etwa war es so weit. Da findet die Protagonistin zu einer Katharsis und es folgen Beschreibungen von Schwangerschaft und Geburt und Säuglingspflege und einem Zusammenleben unter Frauen, das aus einem Zusammenwohnen sich entwickelt hat. Frei von Wahn und Imagination. In bester Tradition der Literatur junger Frauen, die Unica Zürn noch nicht gelesen haben. Das Büroschläfchen scheint beendet. Bis zum Ende des Textes auf Seite 332 (erste Auflage) läuft es jetzt wieder fehlerfrei. Leider fand ich das Buch ab Seite 180 rasch zunehmend öde. Aber von 80 bis 180 eben: extrem gut! Einmal beschreibt sie die veränderte Stimme einer Gesprächspartnerin »wie eine Maus auf einem Pferd«.

Vor dem Einschlafen sah ich an der Decke ein graues Quadrat, darin die Schatten der Zweige vor dem Fenster. Zwei Hummer gingen mit gereckten Scheren gegeneinander vor. Sturmgeräusche, viel geträumt.

15.5.

Eigenartig, dass mir die Amselgeräusche auch nach x Tagen noch immer nicht auf die Nerven gehen. Sondern mich bei jedem Sonnenaufgang nur freuen. Woran das liegen mag? Wenn jetzt, beispielsweise, aus den Baumwipfeln jeden Morgen James Blake sänge oder Joyce Clareana.

Água Terra Fogo e Ar

Auch bei Regen, selbst bei Wind – Horror. Sogar Instrumentales, also wenn die Amsel Klavier spielen könnte. Oder Flöte (so wie Spongebob auf seiner eigenen Nase). Folter mit Vogelstimmen: unmöglich. Also bis auf Tauben natürlich: Folter mit V.

14.5.

Die neue Ausgabe der Fragmente einer Sprache der Liebe enthält nun auch jene zwanzig Einträge, die Roland Barthes bei Erstellung seiner ersten Fassung gestrichen hatte. Wie sein Herausgeber Claude Coste erklärt, wurden diese zwanzig Einträge zwar noch abgetippt und redigiert, dann aber in eine Mappe aussortiert, die mit »Abfall 1. Fassung« gekennzeichnet wurde. Es war Roland Barthes wohl wichtig, dass sein Buch eine gerade Anzahl von Einträgen enthalten würde (ursprünglich 80, jetzt sind es hundert), weil seiner Ansicht nach nur die gerade Zahl ungenau wirkt.

Mich interessiert, weshalb damals ausgerechnet diese zwanzig Einträge aussortiert wurden. Es gibt keinen ersichtlichen Grund dafür. Sehr schön beispielsweise der Eintrag zu Erschöpfung (»Müdigkeit, die beim liebenden Subjekt durch den ständigen Gedanken seiner Liebe entsteht.«) Er schreibt: »Die Unruhe des Liebenden bringt eine Verausgabung mit sich, die dem Organismus ebenso heftig zusetzt wie körperliche Arbeit. ›Ich habe so sehr gelitten‹, sagt jemand, ›ich habe den ganzen Tag so heftig mit dem Bild des geliebten Wesens gerungen, dass ich abends sehr gut schlief.‹« Den Erschöpfungszustand beschreibt er in einem weiteren Eintrag als ein »marinieren in sich selbst«; als »eine Art von schwarzem Zen«. Und gibt, in einer Nachbemerkung zu seiner Methodik zu, zwar gerne Orangen zu essen, aber sich dazu beinahe immer zu faul zu finden. Das Schälen und Zerteilen der Orangen macht ihm klebrige Finger, von daher bestelle er sich die Orangen in Marrokko oder Spanien in Restaurants, weil ihm die dort von den Kellnern bereits geschält und mundgerecht in Schnitze geteilt gebracht würden. So also, in dieser Absicht des Kellners, habe er den Diskurs des Liebenden in einhundert Redefiguren zerlegt. Dass sich die Liebenden, seine Leser, die Finger nicht klebrig machen müssen.

Interessant sind auch seine Gedanken zur Genderproblematik und Unisex (»gut für die Liebenden, die Friseure und Jeans; aber psychoanalytisch will das nichts heißen: nichts zu machen, der Phallus ist nur auf einer Seite.«)

13.5.

»Ich habe zwei Nachrichten für Sie, eine gute und eine schlechte«, sagt der Pilot. »Die gute: Wir landen 15 Minuten früher als geplant in Zürich. Die schlechte: Es hat dort bereits angefangen zu regnen.«

Bainvegni, 60 °F, Distanz zum Reiseziel: 409 Meilen. Unter dem Flügel zeigt sich die Buchstabensiedlung. Ich glaube, das ist die Gropiusstadt. Ich brauche ein Shazam für Luftaufnahmen. Auf jeden Fall sehen diese Gebäude aus der Vogelperspektive betrachtet aus, wie zu Worten arrangiert, und bei zweien entsteht daraus GOD.

Dann Snacks, Musik, Bordmagazin und ein Tangram aus Rapsfeldern. Dann Wolken und in Zürich regnet es wie angekündigt und zwar von früh bis spät, aber das macht nichts, denn ich bin ja zum Arbeiten hier.

In geschlossenen Räumen. Studio Achermann: schönster Arbeitsplatz auf der ganzen Welt. Hier liegt alles bloß rum, es gibt so gut wie überhaupt keine Möbel, aber weil alles, wirklich auch noch der letzte Radiergummi mit Bedacht ausgewählt wurde, sozusagen vor einem Radiergummikuratorium bestehen musste, bevor ihm Einlass gewährt wurde, sieht es halt, sehen die Millionen von Stapeln und Haufen aus Papieren und Magazinen, alten und neuen Büchern, die Bündel von Stiften und Packen von irgendwas Papierhaftem aus wie bereitgestellt, eine ganz eigene Ordnung. Und obwohl ich es ansonsten und sozusagen privat lieber sonnig mag, freut mich in den Räumen des Studios das künstliche Licht.

Eine Ausstellung zum Thema Arbeit, in der zudem andauernd gearbeitet wird. Es gibt, das weiß ich, aber dort war ich selbst noch nie, ganz hinten rechts einen Raum, in dem sehr viele Computer aufgestellt sind und dort sitzen ein paar Spezialisten, die an den Besprechungen nie teilnehmen müssen. Ich glaube, in diesem Raum dort wird die Arbeit verrichtet, die nicht so sehr großen Spaß macht – sogenanntes Reinzeichnen beispielsweise. Retuschen, Setzen von Texten, Lithografie.

Seit Neuestem gibt es nun Becher aus Styropor, jahrzehntelang kriegte man den Kaffee aus Plastikbechern. Yves hat eine kleine Theorie, warum Styropor. Yves ist müde, sagt er. In Bedas Arbeitsraum liegen sechs bis acht Kilo Vierfarbausdrucke auf dem Holzboden zu Stapeln sortiert. Handgeschriebene Kategorien eingesteckt. Die restlichen zehn Kilo sind über sämtliche Wände verteilt. Nur die Fensterscheiben sind frei geblieben, gehören aber zum Bild: Dienerstraße, »Conditorei Happy«, »Comics Rawumms«.

»Hallo Beda, Hallo Markus, Hallo Adi, Hallo Toldo, Mannomann, das sieht ja alles unfassbar großartig aus.«

»Schau dir diesen hübschen Mann an«, sagt Beda, als dieser mir bis dato unbekannte Toldo den Raum verlässt, um zum Zwecke der Untermauerung einer grafischen These ein paar Gramm Ausdrucke anzubringen »Das ist der beste Grafiker, den ich kenne. Der ist so gut wie ich.«

Der Digitale Beda. Smartbeda. Und die Frage, durchaus im Ernst gestellt, nach den Gestaltungsmaximen für das sogenannte Favicon.

Dann, wir finden es selbst auch lustig, spielen wir das lustige Spiel. Das geht so: Du, mein lieber Professor, schreibst jetzt sechs Stunden auf, was dir zu unseren Ausdrucken einfällt. Und dann werden wir dir erklären, dass es alles zu schön, zu kompliziert, vor allem aber auch viel zu lang ist für unser Büchlein. Und dann machst du es so, wie wir es dir beigebracht haben. Und dann hast du wieder etwas gelernt. Dafür bezahlen wir dich. Und zwar erstklassig. Falls du Nüssli brauchst oder Schokolade: bei der Kaffeemaschine.

»Road trippin’ with my favourite allies«

Mein Lieblingsspiel. Weltbestes Regularium. Fällt eine Maus in den Fluss, kann kaum schwimmen, wird immer müder. Sagt die Katze am Ufer: Komm, hier ist meine Pfote. »Ich hab aber Angst«, sagt die Maus und rudert. »I wo«, sagt die Katze, brauchst du nicht »Halt dich an meiner Pfote fest!« »Na gut«, sagt die Maus »Ich machs.« Die Katze hievt sie raus, wischt ihr eine und das Letzte, was die Maus sieht, ist das grinsende Katzengesicht. »Warum hast Du das getan«, denkt die Maus. »Ich bin halt eine Katze«, sagt die Katze.

»Haha, sehr schön war’s, also dann bis morgen um zehn.«

Um 21 Uhr 25 passieren wir Frankfurt und unter mir gab es eine winzige Öffnung in der nachtgrauen Wolkendecke, die ansonsten aus lauter Klößchen bestand. Und hinter der Öffnung glitzerte es verkehrsorange vor tiefschwarzem Grund wie in dieser Stelle in den Marmorklippen, wenn Bruder Otho zu Boden schaut und in dem Augenblick bestehen sämtliche Erdschichten aus gläsernem Material und darin blinkt und fließt das Nervensystem der Menschheitsgeschichte, sichtbar gemacht.

Zu erschöpft für den Bus, ich leiste mir ein Taxi, in dem es nach Zauberbaum duftet. Und mir fällt der Katalog von Phillips De Pury ein, den ich am Mittag durchgeblättert habe und darin war eine Zeichnung von Mel Ramos (Los Nr 160) mit dem Titel Antilope, geschätzt auf 12 – 18.000 Dollar, erstmalig versteigert bei Christie’s in Rom am 18. Oktober 2002 (Los Nr 116), seitdem in Privatbesitz.

Der Fahrer sagt »Sie sehen kaputt aus. Das meine ich aber nicht böse.« Ich sage »Ich weiß.«

Einmal pro Woche diesen Ausflug, kann von mir aus ruhig immer regnen dort, hier: Balkon, Sterne, geiler Wind.

Die Conditio humana aus Sicht eines Hasen beschrieben (mümmel mümmel und studier‘).

Stefan Marx: I WAIT HERE FOR YOU FOREVER AS LONG AS IT TAKES

»We used to play doctor and nurses as kids, we used fizzlers as tablets to make the patient feel better! It caused a few fights… But my kids still play today«.

(Abb. Screenshot aus dem Internet: I Want to Spend the Rest of My Life, Everywhere, with Everyone, One to One, Always, Forever, Now von Damien Hirst. (Glass, compressor, rubber tubing, spray-gun and ping-pong ball). Dimensions variable)).

A revair.

12.5.

Weil der Planet sich dreht, erscheinen abends schöne Farben.

Weil der Planet sich dreht, ziehen Wolken über mir dahin.

Weil der Planet sich dreht, gibt es Gravitation.

Wenn meine Tränen aufwärts fließen, ist die Welt am Ende, hört der Planet aber vermutlich nicht auf, sich zu drehen.

Und der Wind. Und die Zeit.

Angst davor, wie es weitergeht, und

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