»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

25.8.

»This is the cat who’s not on the list, playing jazz in the office of its therapist« — Ich lebe jetzt schon über ein Jahr mit diesem literarischen Ohrwurm, einst von Clemens J. Setz auf Twitter verfasst, als er von seiner Nicht-Nominierung für den Deutschen Buchpreis erfahren hatte (im Hintergrund war ein Siebdruck von Andy Warhol zu sehen, Siegfried Unseld abbildend).

Die Stunde zwischen Frau und Gitarre war das Buch jenes Jahres für mich (und nicht nur für mich!!!). Es ist es bis heute geblieben. Ich lehne Preise und Wettbewerbe grundsätzlich ab, das hat vermutlich mit meinen mangelnden Erfolgen im Sportunterricht zu tun (es war sogar so, dass ich beinahe durchs Abitur geflogen wäre, aufgrund von »Leistungsverweigerung« und wegen Sport!!!), aber ich weiß schon, dass es Menschen gibt, die das gleiche tun und vorhaben wie ich und die sich im Innersten getroffen fühlen, wenn ihre Bemühungen dann nicht prämiert werden wie es sich gehört.

Aber gleichwie: Ich habe ganz andere Probleme. Vor allem: Wie sollte ich meine Zeit verbringen, wenn ich einmal zwei Tage nichts zu tun hab. Nachdem ich megalang geschlafen hatte, wurde es bald schon derart warm – es war mir prophezeit worden –, dass ich es in meinem Bett selbst ohne Decke nicht mehr aushalten konnte.

Also essen. Das orientalische Frühstück hatte mich offenbar auf den Geschmack gebracht. Und ich brach auf zur Mutter Fourage, um dort diese Zeitung zu lesen, aber eigentlich vor allem auch deshalb, um dort die Öffnungszeit des Grünen Baums abzuwarten (der ja, Schwäbisch wie es dort zugeht, keine Frühstücksdienste anbietet).

Das wirkt jetzt müßig, ich hatte auch ein latent schlechtes Gewissen, aber andererseits kann ich keiner und keinem der zahlreichen in Berlin so unendlich hart und endlos schuftenden Redakteure, die sich in Festanstellung befinden, ernstlich raten, auch nur zwanzig Meter in meinen Schuhen (Doc Martens) zu gehen. Es ist halt schon etwas anderes, wenn man irgendwo Mittagessen geht ensemble; wenn man jemanden next door fragen kann, wie er das findet, oder wenn man, wie ich und ein paar andere: das stets und immer mit sich alleine ausmachen muss.

Von daher, von meiner schwäbischen Disposition und von meiner Erziehung her fällt es mir extrem schwer, auch einfach mal nichts zu tun. Denn auch dieses Nichts will ja gestaltet sein. Gerade weil ich nach zwanzig Jahren auf diesem Fleck ja weiß, dass der Winter so lange dauern wird wie eine Schwangerschaft, die nach neun Monaten der Innerlichkeit eine kurze Zeit des Freiheitsgefühls hervorbringen wird. Aber als ich dann im Garten hinter dem Grünen Baum endlich saß, erwies sich meine Entscheidung als eine richtige, denn dort herrschte, vermutlich für den heutigen Tag bloß, vielleicht noch ein paar Tage länger: das schwäbische Licht. Und ich sah vor mir: die orangefarbenen Plastikstühle in Stuttgart auf der Forststraße oder irgendwo sonst in einer Hanglage. Dass man überall dort auch hineingehen konnte, in einen Zeitschriftenladen, und dort gab es unter einer Haube die unerreicht zäh abreißenden Brötchen, mit Käse und sauren Gurken und Lyoner belegt.

Freibadfantasien: das kurze Gras heiß und spitzig. Und im Schatten der Bäume drückten die Wurzeln durch das Liegetuch. Wie man hinübergeschaut hat in die Welt der Mädchen, die Federball spielten. Wie klumpig man selbst sich fühlte, in Anbetracht dieser reckigen und dahinhüpfenden, immer fröhlichen Wesen, die erstrebenswert waren. Und wie rätselhaft es mir immer erschienen war, mit wem sie sich dann letztendlich einließen — irgendwelche Fußballspieler mit derbem Humor und ebensolchen Arten, ihnen an den Po zu greifen. (Und du hattest dir komplizierte Gedanken zu Mixkassetten und Gedichten gemacht!)

Ich aß dann, kontrapunktisch: Käsespätzle mit grünem Salat. Klar gibt es ganz schön viele Menschen in Deutschland, die bei Hitze ausschließlich Salate zu sich nehmen. Aber dann bedenke man doch die eine echte Hitze gewohnten Völker des Orients, die ja auch heißen Tee zu sich nehmen bei 50 Grad und nicht etwa iced water wie im Land der Aircondition, Amerika. Und ich will im Sommer ja auch gar nicht aktiv sein. Ich will keine Wasserbälle herumkicken, ich will gar nicht schwimmen. Ich will mich, wie Hermann Lenz das in seinem schönsten Gedicht schrieb: einrollen wie ein Weinblatt.

Und darin will ich träumen und nachdenken über das, was kommen wird: der Herbst, die Innerlichkeit und die Liebe. Ein Solar-Aggregat will ich sein nach dem Bild einer Traube, in deren Inneren sich die Hitze sämtlicher Sommertage bewahrt. Wein will ich werden, der all dies, was über dies Jahr an Absurdem geschehen, in gewandelter Form offenbart.

Oder, Steve would hate it, wie Jan Philipp Reemtsma es einst in seinem Keller geschrieben, ganz kurz vor Schluss:

»Sie wussten, dass sie nur nebeneinandersitzen konnten, beide in ihren Gefühlen isoliert, aber mit einer Hand als Brücke.«

24.8.

Und tatsächlich begab es sich über Nacht, denn als ich am Morgen des 23. August zum kleinen Café gegenüber strebte, entdeckte ich dort unter dem Kastanienbaum die Zeichen: Jemand hatte die Fassade des Hotels, in dessen Hinterzimmer vor Wochen die klammheimliche Veranstaltung der AfD stattgefunden hatte, mit dem stolzen Fahnensymbol der Antifa besprüht. Und zwar makellos. Jeden einzelnen Blümenkübel. Dazu führte eine Spur von dem Taxistreifen mit den gewaltbereiten Taxifahrern im Stil einer Schnitzeljagd dorthin, wie einst vor Jahrzehnten in Gstaad die rosa Fußabdrücke des Pink Panther (als Blake Edwards dort den ersten seiner Filme mit Inspector Clouseau präsentierte). Und ich sprach den Hotelbesitzer an, der gerade kurz nach Sonnenaufgang damit beschäftigt war, über jede einzeln schablonierte Antifa-Fahne ein Schiefertafelimitat hängen zu lassen, auf denen er seine Truckersteaks und Matjesfilets annoncierte: »Schau, ich hatte es dir prophezeit! Würdest du deinen Frischfischhandel aus der Grauzone deines Hinterzimmers auf der Straße bewerben, hättest du eine Vermietung an diese Leute doch gar nicht mehr nötig.«

Woraufhin er sich reuig gab, und mir gegenüber Besserung gelobte.

Dann diese Zeitung, danach zum Friseur. Potsdamerstraße 155 — das kann ich mir leicht merken, denn es ist ja dieselbe Hausnummer in der nur anders benannten Straße mit selbem Verlauf. Und es kam, wie es kommen musste – mittlerweile sind wir einander ja ein wenig vertraut: »Was machen Sie eigentlich beruflich, wenn ich fragen darf?«

Nach all den Jahren, Jahrzehnten mittlerweile, verspüre ich noch immer diese Hemmung, ich suche nach einer möglichst kleinlauten Bezeichnung. Und, weil ich die darauffolgende Frage bereits erwarte, frage ich ihn: »Was heißt denn Liebe auf Arabisch?«

Und er: »Habibi (حبائب)«.

Ich: »Na, ich meine das etwas Intimere!«

Er: »Hayet (محبة). Hayet, oder Hob (حب)«.

Das deckt sich mit meinen Recherchen. Wobei im Internet ja auch behauptet wird, es gäbe im Arabischen weit mehr als hundert verschiedene Worte für Liebe (so wie bei den Inuit, die kennen ja angeblich hundert verschiedene Worte für Schnee – aber welchen Schnee: tauenden, fallenden, tags, nachts, im Gegenlicht?, pulvrigen, überfahrenen, angepissten, überfrorenen, in den Händen nach Hause getragenen Schnee?). Und wenn ja, kann das Wort für Liebe des Arabischen Hob dann auf das Deutsche Sprichwort Wo gehobelt wird, da fallen Späne hindeuten? Frage ich natürlich nicht.

Danach ging ich mit Tabassom ins Persepolis, weil mir die Idee, warmen Hummus zum Frühstück zu bekommen, derart Lust gemacht hatte, Orientalisch zu essen. Da war ein kleiner Spatz (گنجشک), der sich in den Gastraum verflogen hatte, und nach einer Weile seines Herumfliegens landete er vor dem großen Spiegel und pickte sich an. Der Kellner, der uns Sabzi brachte, erklärte: »Ja, das ist an jedem Morgen so. Wenn wir dann mit dem Brotbacken anfangen, kommen die großen Vögel herein, die ihnen den Weg nach draußen zeigen.«

Dann kaufte ich ein obszön billiges Sweatshirt von Vetements in schreiendem Violett. Und als ich meinen Aperitiv bestellte, tippenderweise, haute mir plötzlich einer auf die Schulter: Vely, der Busfahrer, den ich seiner Ferien wegen seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Er sah gut aus und sagte: »Schaut her, hier schreibt jemand ein Buch!«

Ich saß dort neben dem Hotel, dessen Betreiber es mittlerweile gelungen war, sämtliche Stolperflaggen mit seinen Essensempfehlungsschildern zu verbrämen. Und wartete auf Eric, der meine Wohnung reinigen würde, wie er es einst im Dienst der amerikanischen Marine in U-Booten gelernt. Ich händigte ihm den Schlüssel aus und dazu eine Sprühflasche Fensterreiniger, die er dringend benötigte. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der derart selbstbewußt mit einer Flasche Fensterreiniger über den Platz marschiert. Ich war so stolz auf ihn. Nächste Woche gebe ich ihm Tampax.

Und ich sagte zu Lydia, die ihn mir vermittelt hatte: »Eric is the sweetest guy in the world«.

Und Lydia sagte: »I know. If I wouldn’t like girls, I would like him«.

»Does he know that?«

»We lived together for years. He knows.«

23.8.

Die 23 wirkt als einzige von allen Zahlen in jedem Monat auf mich. Und das stark. Es hat mit Weihnachten zu tun. Der Tag vor Heiligabend. Man wird da früh schon mit dem Adventskalender auf die 23 geprimed. Es geht um die 24, aber die Vorfreude kulminiert am Tag zuvor. Die Strecke der Tage ist zurückgelegt, morgen ist es soweit.

Gestern vormittag, ich saß an den Korrekturen für den Text über das Attentat in der Geschichte, der am Sonntag erscheinen soll, da fiel mir ein: Nein, jetzt hast du die Zeremonie mit dem Oberbürgermeister in der Hauptstraße 155 verpasst. Dabei hatte ich mich extra akkreditieren lassen. Na ja. Ging nicht anders, war nicht mehr zu ändern. Am Nachmittag wurde ich belohnt mit einem Gefühl der Erleichterung, weil ich nun sämtliche Auftragsarbeiten aus den letzten zwei Wochen abgeschlossen hatte. Und somit heute und morgen nichts müssen muss, sondern nur machen kann, was ich will. Schlafen zum Beispiel. Etwas anderes fällt mir nicht ein.

22.8.

Auf dem Rückflug fiel mir wieder einmal krass auf, wie würdelos sich viele Menschen in einem Flugzeug benehmen. Insbesondere beim Einsteigen: so als hätten sie noch nie eine Modenschau gesehen. Ein Catwalk ist zwar etwas breiter als der Mittelgang, aber auch dort wird man halt, wie es bei Kraftwerk heißt, »von Millionen Augen angeguckt«. Scheint aber fast allen egal. Ebenso, dass das Flugzeug sowieso nicht losfahren wird, bevor alle ihren Platz gefunden haben. Es fährt nicht früher los, die Türen öffnen sich auch nach dem Landen nicht eher, wenn man seinem noch sitzenden Gangnachbarn das Gesäß ins Gesicht streckt, um schon mal das Gepäck aus der Lade zu zerren.

Die meisten Menschen, mit denen ich gestern geflogen bin, waren doch bereits mit der zivilen Luftfahrt aufgewachsen. Für kaum einen wird es das erste Mal an Bord eines Flugzeuges gewesen sein (jedenfalls hat leider keiner beim Blick aus dem Fenster gerufen, dass dort unten alles wie Spielzeug ausschaut). Und trotzdem kann ich mich an wenige Flüge erinnern, bei denen es beim Ein- und Aussteigen nicht unvernünftig und unwürdig zuging. Außerdem frage ich mich, wie eigentlich diese sehr dicken Menschen reisen, die es ja sehr wohl gibt. An Bord eines Flugzeuges sehe ich sie nie. Der dickste Mensch, den ich jemals selbst an Bord eines Flugzeuges gesehen habe, war Peter Sloterdijk. Er saß aber schon längst, als ich eintrat. Ich vermute aber mal, dass er sich aufgrund seiner langjährigen Dozententätigkeit seiner Catwalk-Wirkung bewusst ist, und aus seinem Auftritt vor den Passagieren das Optimum gemacht haben wird.

20./21.8.

Samstagfrüh, es war noch stockdunkel, vom Geräusch des Regens erwacht. Es rauschte und platterte wie auf ein Zeltdach, ich stand unter der Buche und wartete auf das Taxi. Dann mit der Frühmaschine nach Düsseldorf. Leider hatte ich mir nicht genau überlegt, wer wohl an einem Samstag um kurz nach sechs nach Düsseldorf muss: Das Flugzeug ist riesig und füllt sich langsam, aber allmählich dann doch mit Urlaubern, die meisten von ihnen wollen, wie ich höre, nach Miami (da war ich noch nie und ich verspüre auch keine Lust darauf, dort jemals hinzufahren). Grandioser Sonnenaufgang über der Wolkenschicht, der Himmel strahlt in einem tiefen Blau und ich träume vom Regen.

Aufgrund der Verspätung blieb mir in Düsseldorf auch keine Zeit mehr, was schade war, denn der Flughafen dort ist aufgrund seiner kompakten Bauweise ein Snackhimmel, vergleichbar in dieser Form eigentlich nur noch mit dem von Istanbul und dem von Kairo. Na ja. Der Flugkapitän behauptete, sein Name sei Carlos Sprüngli. Am Flughafen in Zürich leuchtete auf einem Display: »Der König der Schweiz trägt keine Krone aus Gold, er trägt einen Kranz aus Grünem«.

Als ich das letzte Mal hier war, gab es noch Osterhasen überall.

Die ganze Langstrasse riecht, als sei sie mit Bier abgewaschen worden. Ich bin zum ersten Mal an einem Wochenende hier und sehe nun, was Beda und Yves mir ansonsten am Telefon erzählen: Auf dem Platz vor dem Studio werden drei Schreihälse von gummihandschuhtragenden Polizisten weggetragen. Die kommen jetzt ins naheliegende Gefängnis, das noch genauso ausschaut, wie man sich ein Gefängnis vorstellt: aus Felsbrocken gemauert mit Eisengittern vor den Fenstern. Nach einer Nacht dort, lässt man sie wieder frei. Zusätzlich zu diesen Abschreckungsmaßnahmen fährt die Stadt Zürich noch eine Plakat-Aktion, die in zwinglianischer Tradition rein typografisch gestaltet wurde: »DJ Dreck feat. MC Lärm spielen nicht in Zürich – Nachtleben und Lassen«. Von hinten durch die Brust ins Auge ist der Gang der Echternacher Springprozession.

Beda sitzt an seinem Schreibtisch und streicht mit schwarzem Filzstift seine Sätze von gestern durch, bis die gesamte Tagebuchseite so ausschaut wie ein von Jenny Holzer gestaltetes CIA-Protokoll. Ich beglückwünsche ihn zu seiner neuen Tapete, denn wo beim letzten Mal noch zig Ausdrucke zum Themenkreis Schauspiel und Tanz hingen, kleben jetzt Motive und Gedankenstützen zu Ausstellungsformen, Bilderwitze von David Shrigley und Fischli und Weiss, sowie so ziemlich alles, was es zum Topos des Waschbeckens zu denken, sagen, beziehungsweise anzugucken gibt.

Der Prozess der gedanklichen Zusammenarbeit wird von einem zarten Satz abgeschlossen: »Weißt du eigentlich, wieviele Menschen es gibt, mit denen man einfach so sitzen und reden kann, und dabei entsteht alles, ohne dass ich viel erklären muss – nicht so viele«.

Dann durch die Napfgasse in die Kronenhalle. Es nieselt, die Luft aber steht. Es ist megaschwül und von daher stört es nicht, dass die Kleidung feucht auf der Haut liegt. Man ist in einem Element. Der Kellner weist uns einen ungewohnten Tisch an, wo früher angeblich Josef Ackermann immer saß, bevor er sich dieses Privileg auf unzwinglianische Weise verspielte. Von dort aus kann ich mein Lieblingswappen am Deckenfries sehen, jenes von Riesbach, daneben steht in einer Fraktur:

HOHE MASTEN
SCHWERE LASTEN
SCHLIESSEN UM DIE WELT EIN BAND

Das Wappen besteht aus einem auf den Kopf gestellten J, die Krümmung in weiß, der Griff aber rot auf dunklem Grund. Nach dem Geschnetzelten mit doppelt Rösti stellt man uns eine Saaltochter vor, deren Großvater bereits hier als Kellner gearbeitet hat. Gespräche über Liebe und Freundschaft und Liebeskummer auch. Der unter Männern angeblich so rare, in Wahrheit doch extrem wichtige Themenkreis.

Zu Fuß durch den warmen Regen über die Brücke nach Hause, wo vor meinem Hotel bereits die Vorbereitungen für die nächste Party laufen. Deren Fortgang wird im weiteren Verlauf der Nacht direkt bis in mein Zimmer im vierten Stockwerk live übertragen. Der Ventilator läuft die ganze Zeit, bis es hell geworden ist und die Langstrasse riecht schon wieder so, wie abgewaschen mit Bier.

Das Gute an Zürich ist für mich, dass ich mir um den ganzen Rest, um die Straßennamen und Gebäude, um die Umgangsformen und den Look hier, überhaupt keine Gedanken mehr machen muss, weil dazu alles, wirklich alles bereits gesagt und geschrieben worden ist.

19.8.

»Nur in alten südlichen Städten gibt es dieses Laternenlicht, das mühelos die Schleusen der Erinnerung öffnet«, las ich neulich in einer Kritik von Andreas Kilb zu Julieta, dem neuen Film von Pedro Almodóvar. Und das ist so. Es ist ein orangefarbenes, punktuell klares, dann zu den Seiten hin ausblutendes Licht, das von den Laternen dort ausgeht. Nachts erscheinen diese Landschaften wie bewacht von dem orangefarbenen Licht. Dazu feilen die Grillen und raspeln die Frösche. Autos geben beim Anfahren unnötig viel Gas. Zu Silvester gibt es kein Feuerwerk, es wird gehupt.

Man weiß sofort, dass man dort ist, gleich bei der Ankunft. Hat man sich dort jemals wohlgefühlt (wozu es keine Verpflichtung gibt), atmet man auf, denn nun ist man daheim.

Die Laternen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees hier haben eine ähnliche Wirkung. Als ich neulich mit Christoph gegenüber des Stehimbisses zum Schleckermäulchen nachtessen war, erzählte er mir von einem Buch, in dem er gelesen hatte, dass es noch immer als eine ideale Umgebung für Menschen gilt, wenn ihre Behausung sich auf einem Hügel befindet, mit einem Blick auf ein Wasser und im Rücken der Wald (oder zumindest stünden dort Bäume). Das sei so, laut Christoph, weil Menschen seit Urzeiten sich solche Umgebungen als Siedlungsplätze gesucht; um eine Wasserquelle in der Nähe zu haben, dazu den Schutz im Rücken, sowie Ausblick nach vorne, um im Vorhinein erkennen zu können, falls sich eine Gruppe von Feinden anschleicht.

Kann gut sein, dass ich deswegen hier selig bin. Kann aber auch genauso gut sein, dass es hier schön ist. Ich las in einem Buch von Wolfgang Ullrich über »Raffinierte Kunst« von einer Erfindung der Landschaftsmaler, die als Claude-Glas bezeichnet wurde. Dabei handelte es sich um einen Spiegel, konvex, sodass das darin Gespiegelte etwas verkleinert und somit entrückt dargestellt wurde. Das Claude-Glas gab es in Schwarz getönt und in Gelb, um Mondlicht oder Sonnenaufgänge simulieren zu können. Das Claude-Glas wurde angeblich sogar eingesetzt, um bereits existierende Landschaftsgemälde in einer idealisierten Darstellung betrachten zu können.

Ich schaute in die Lichtsituation, in jene Lücke zwischen der Bäckerei und den Bäumen: wie das noch einmal hell einstrahlende Sonnengelb in den Frisuren der Passanten eine Korona erzeugte; wie es durch einen Stapel aus Leihfahrrädern hindurch schöne Effekte auf die Oberflächen der Sättel und Griffschalen produzierte. Selbst das elfenbeinfarbene Oberdach eines vorüberfahrenden Doppeldeckerbusses (»Ich soll Sie schön grüßen«) wirkte veredelt. Und vielleicht ist das ja wirklich so, dass mir ein solches Claude-Glas gehirnlich immer schon eingebaut war.

18.8.

Rings entlang seiner Ufer ist das Wasser des Sees nun auf vier, fünf Meter Breite eingefärbt im grellen Grün der Algenblüte. Von den Brücken aus betrachtet sieht das hübsch aus. Auch morgens schon, im Kontrast zu den herbstlicher beginnenden Tagen. Ich brauche jetzt bereits einen dünnen Wollpullover, wenn ich, wie heute, noch im Freien sitzend lesen will, wie der Humor in Sven Regeners Romane gelangt.

Dazu singt von der Krone der Kastanie, an der schon seit drei Wochen die grünen Stachelkugeln hängen, eine Meise. Tim legt die mit dem Logo von Orangina bedruckten Liegestühle in den vorgeschriebenen Abständen auf den kleinen Platz neben den Gleisen, wo vor drei Wochen noch das Erbeerhäuschen stand. Bald schon reist er nach Konstanz, um dort noch ein paar Tage mit seiner Frau zu verbringen, dann fliegt er nach Australien, um zu überwintern.

Auf dem Foto in der Zeitung sieht Sven Regener aus wie Joachim Lottmann. Und Heimito von Doderer hat eine abgefahrene Badehose an.

Es ist Vollmond, die Schreihälse schreien, und der Himmel ist weiß.

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