»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

9.9.

Dieser September! Anruf von Joachim Lottmann (mit einer Nummer, die ich noch nicht kannte): Offenbar hält er sich in Berlin auf, angeblich ist es ihm sogar gelungen, den legendären Wartburg wieder zu reaktivieren. Er bittet um ein klandestines Treffen, am Apparat ist von einem unveröffentlichten Manuskript die Rede, das er mir zeigen möchte. Er könnte sich gut vorstellen, dass es für Waahr interessant ist.

Zuvor traf ich mich mit Erik und Heiko am Birdhouse, um dann nach einer Einsatzbesprechung in Heikos Baustellenfahrzeug die seiner Einschätzung nach kritischen Punkte im Berliner Straßenverkehr abzufahren. Das Gute an diesem Einsatzfahrzeug ist, dass man es aufgrund einer Sondergenehmigung überall abstellen darf. Der bullige Jeep ist mit Seilwinden und sogar mit einem schwenkbaren Arm eines kleinen Krans ausgestattet. Es sieht hochoffiziell aus, beinahe ein bisschen bedrohlich. Vor allem klebt auf dem Dach eine orangefarbene Warnleuchte, die Heiko auf mein Bitten hin auch einschaltet.

Mir war nicht klar gewesen, wieviel Freude mir das Zählen von Radfahrern bereiten könnte. Immense! Als Heiko dann noch enthüllt, mit welchen Summen er diese simple Freuden bereitende Tätigkeit bei seinen Auftraggebern abrechnen könnte, sehe ich eine glanzvolle Zukunft vor mir. Solange ich das Zählen im Sommer durchführen dürfte. Es ist so warm, dass ich den ganzen Tag barfuß herumgehen kann, was erstaunlicherweise immer wieder für Aufsehen unter den Passanten sorgt. Manche fühlen sich durch meine unbedeckten Füße etwas provoziert. Als Erik einen auf dem Radweg fahrenden Motorrollerfahrer bittet, auf die Straße zu wechseln, droht einen Moment lang die Eskalation des ansonsten friedvollen Nachmittages. Aber dann schaut er sich Eriks Statur etwas genauer an, zusätzlich hatte ich ihn bereits auf die Warnleuchte auf unserem auf dem Radweg abgestellten Einsatzfahrzeuges hingewiesen. Vernünftigerweise fügt er sich und rollt ohne ein weiteres Schimpfwort dahin.

Der Ausblick auf die spektakuläre Autobahnkreuzung in der Innenstadt von Schöneberg, der uns versprochen worden war, erweist sich allerdings und leider als Ente: Unter den angegebenen Koordinaten landen wir im Hinterhof einer Hochhaussiedlung aus den Fünfzigerjahren. Den Verkehr auf dem Autobahnkreuz können wir von dort aus zwar hören, aber nicht sehen.

Barfuß mache ich mich auf den Weg zu meinem Treffen mit Lottmann. Er trifft ohne den Wartburg vor dem Souterrain ein. Aus einer Sporttasche überreicht er mit eine Klarsichthülle, in der sich zwanzig eng mit einer elektrischen Schreibmaschine bedruckte Seiten befinden. Meiner Vermutung, er habe eine IBM Kugelkopf benutzt, widerspricht er jedoch: Anscheinend hatte die in der DDR hergestellte Robotron allerdings deren klassisches Schriftbild platt kopiert. Es gibt keinen Abzug, auch kein zweites Exemplar. Joachim Lottmann weiß diese Aura des Kostbaren noch weiter zu steigern, in dem er jede einzelne Seite des Manuskriptes mit seinem iPhone abfotografiert (»Falls Du auf dem Heimweg stirbst«), bevor ich sie ihm vorlesen darf. Es handelt sich tatsächlich um jenen sagenhaft gewordenen Text, den er einst über Martin Kippenberger verfasst hatte. Ein geradezu unverschämtes Jubelporträt, das zeitgleich, also 1988, mit einem ebenfalls von Lottmann verfassten Totalverriss Kippenbergers publiziert werden sollte. Erschienen war damals aber, bedingt durch eine unselige Verkettung unglücklicher Umstände, lediglich der Totalverriss, was in Folge für einen zehn Jahre tiefen Knick in der Karriere Joachim Lottmanns wie es heißt: sorgen sollte.

Der Text ist, vorsichtig ausgedrückt: eine Sensation. Ich verspreche, gut auf ihn aufzupassen. Dann reden wir noch ein wenig über die Freuden des Alters, über das Altern, Altwerden vor alledem, über die richtige Lebensweise im Alter, die Rolle des Alterswerkes und über das Gefühl der Souveränität über das eigene Leben im Alter. Dann war die Sonne untergegangen und wir gingen beide, ein jeder für sich, er auf dem weißen Damenfahrrad und ich mittlerweile doch wieder in Schuhen, nach Hause.

8.9.

Seit längerem folge ich dem Hasen Puku auf Twitter. Natürlich ist es nicht der Hase selbst, der da twittert, der Account mit dem Handle @33jd2 wird von seiner Besitzerin gefüttert. Der Feed besteht aus mehr als 1000 Fotos und Collagen, die das Heranwachsen des Hasen Puku dokumentieren. Es handelt sich um ein orangebraunes Exemplar der Rasse Farbenzwerg, eine neben dem Zwergwidder in Japan extrem beliebte Rasse. Der Kopf dieser Zwerghasen bleibt auch nach dem Erreichen der Geschlechtsreife babyhaft rund, die Ohren erscheinen beinahe katzenhaft kurz, das Fell ist dicht und es glänzt seidig. Die verkürzten Läufe sorgen dafür, dass der Farbenzwerg oft in einer aufmerksam wirkenden Habachtstellung zu beobachten ist.

In Japan gibt es viele solcher Hasenaccounts. Die schönsten werden von den sogenannten Hasencafés betrieben, also öffentlich zugänglichen Cafés, in denen die Besucher bei den üblichen Snacks und Getränken mit den ebenfalls dort angebotenen Hasen etwas quality time verbringen können. Es gibt auch Katzencafés, Igelcafés, Eulencafés et cetera. Aber der Hase scheint in der Ikonographie dort eine zentrale Bedeutung inne zu haben. Was vermutlich auch damit zu tun hat, dass es in einigen asiatischen Kulturen eine Häsin ist, die auf dem Mond lebt, um dort in einem Stampfmörser den Teig für Reisküchlein herzustellen (Tsuki no Usagi). Von hier aus glaubt man ja bekanntlich, in den Kraterschatten auf der Mondoberfläche einen Mann zu sehen (Mann im Mond).

Puku kam am 20. September 2014 zur Welt. Seine spätere Besitzerin eröffnete den Account in jenem Herbst und dokumentierte zunächst ihre Besuche in diversen Hasencafés Tokios. Die ersten Postings bestehen aus den Portraits der verschiedenen Hasen, mit denen sie auf ihren Streifzügen durch die Szene Bekanntschaft macht. In dieser Zeit unterhält sie auch noch einen Account bei Instagram, der aber mittlerweile geschlossen wurde. Den Hasen, den sie später Puku nennen würde, entdeckt sie am 26. Dezember 2014 in einem Hasencafé in Shimokitazawa. Am 27. postet sie ein eigens neu gekauften Hasennachthemd mit roter Samtschleife. Hier wird auch erstmals der Name Puku enthüllt. Am 3. Januar 2015 schließlich zeigt sie eine Reihe extrem niedlicher Aufnahmen des noch sehr babyhaft wirkenden Farbenzwergs mit dem bierblonden Fell: »Puku kommt zu mir nach Hause!«

In diesem Tweet ist auch erstmals von »geschwollenen Brustwarzen« die Rede, aber dabei wird es sich um einen Fehler der Übersetzungsfunktion bei Twitter handeln, die von Bling angeboten wird.

In den folgenden Monaten wird das Zusammenleben mit Puku auf die ansprechendste Weise dokumentiert: Puku bezieht einen für Tokioter Wohnverhältnisse extrem geräumigen Käfig, in dem sich neben einem hasenförmigen Schlafhaus aus geflochtenem Heu (das er in Folge noch zwei bis dreimal komplett zerlegen und aufessen wird), einem möhrenförmigen Knabberstift und einem Spiegel auch eine Hasentoilette befindet. Vergleichbar mit Katzen können Haushasen durchaus zu Stubenreinheit erzogen werden. Puku wiegt bei seinem Einzug 475 Gramm.

Am 7. Januar wird eine Aufnahme gepostet, die den Kopf Pukus mit den ordentlich aneinandergelegten Ohren in der Draufsicht zeigt. Entzückt stellt seine Besitzerin fest, dass diese Ohren sie an Hummerscheren erinnern. Am 12. Januar erscheint der Stammbaum, auf dem Mama Puku und Papa Puku abgebildet sind. Hier wird nun auch zum ersten Mal das Geschlecht des Hasen bekannt gegeben. Es ist, so schreibt die Besitzerin: »ein Junge«. Von nun an gibt es reichlich feminization play: Puku im Ballettröckchen aus gelbem Tüll, Puku im Jeanskleid, Puku mit rosa Schleife um die Ohren, Puku an der Leine im Park, Puku vor dem Spiegel et cetera. Über die nöchsten Monate wird Puku auch immer wieder gewogen und seine Besitzerin freut sich (»geschwollene Brustwarzen«) sehr über seine stete Gewichtszunahme. Mittlerweile hat sie mehr als 2000 Follower. Und Puku wiegt 750 Gramm.

Im Frühsommer wurde noch Pukus erster Pfirsich dokumentiert, ein meganiedliches Bild, auf dem ihr die delikat geformte Scheibe in einem blitzblanken Porzellanschälchen serviert wurde, sowie, beinahe mein absoluter Liebling: Puku und die Hortensie — (Abb.: 15 Emojis »Eyes Full of Love«). Dann aber kam es zu einer, wie @dickebuerste53 es nennen würde, »Twause«: einer Pause auf Twitter. Es kamen einfach keine Tweets mehr von Puku (und das ist einer von nur zwei Accounts, die ich auf Notifications gestellt habe). Ich befürchtete das Schlimmste. Japanische Sommer sind ja extrem heiß, da hilft angeblich gegrillter Seeaal, aber das wollte ich mir lieber nicht vorstellen müssen!

Nun ist ein langer Brief erschienen, er klebt oben auf der Seite in Form des mittlerweile virulenten »angehefteten Tweets«. Es handelt sich um einen Screenshot, da kann Bling nicht weiterhelfen, von daher danke ich herzlich und in aller Form Frau Midori Hirano,  die mir freundlicherweise mit einer Übersetzung geholfen hat. Es war wohl so, dass ein feindlich gesinnter Hasenaccount mit dem Handle @k11036151k, der mir ab und an schon unangenehm aufgefallen war, eine beispiellose Schmähkampagne gegen Puku gestartet hatte. Das Cybermobbing, das dieser vermutlich von Neid befeuerte Wuthase gegen den von mir so geschätzten Puku gestartet hat, muss wohl für derart schrecklichen Stress bei der Besitzerin gesorgt haben, dass in Folge auch der empathiebegabte Farbenzwerg seines Lebens mit ihr nicht mehr richtig froh werden konnte. Von daher hat sie, die Besitzerin, sich vorerst entschlossen, ihre Postings einzustellen. In dem Brief entschuldigt sie sich in aller Form bei allen ihren 2472 Followern. Vor allem auch ausdrücklich bei denen, es waren wohl einige, die sie in den Verwirrungen der letzten Wochen entfolgen musste.

7.9.

Der Tag hatte sich erfolgreich Mühe gegeben, den Megahit von The Orb zu bebildern. Die sprichwörtlich gewordenen flauschigen Wölkchen wurden zum Mitttag hin en masse herangewunken. Weiß und ungeheuer unten, dabei eine jede auf Abstand bedacht. So ergab sich ein biomorphes Schachbrett. Blau gewann.

Im Strandbad bestellte ich mir erst einmal einen Spaceslush. Ich hatte die Zeitschrift Barbara dabei, in der ein mir unbekannter Bademeister des Strandbades als eingeölter Leckerbissen angeprisen worden war. Er war nicht anwesend, und die Leute am Slush-Ausschank hatten ihn auch noch nicht gesehen. Ein Schiffchen zog vorüber, die hatten ihren Ghettoblaster voll aufgedreht, Julio Iglesias, und für einen sehr langen Moment war es dann so, wie Andreas Neumeister es einst beschrieben: Von Saxophonen angetrieben steuerte der Musikdampfer namens Planet Erde durchs tiefe, dunkle Weltenall.

Bis auf die Bademeisterstrecke und eine Fachsimpelei über Pipi ist die Zeitschrift Barbara, die ich nun zum ersten Mal studierte, eine irritierend trockene Angelegenheit. Als ich mal in München lebte, hatte Barbara Schöneberger dort eine Sendung bei TV München, in der es um nichts anderes ging als um Analverkehr. Die ganze Sendungszeit über. Die Sendung kam mehrmals am Tag – jedenfalls ist das in meiner Erinnerung so. Und jetzt: Kein Wort mehr davon. Die ganze Zeitschrift Barbara ist eine komplett vom Analverkehr befreite Zone. Möglicherweise hat Barbara Schöneberger der Umzug in den protestantischen Nordosten nicht gut getan – also von ihrem Phantasiehaushalt her; eventuell ist sie aber einfach so prüde geworden. Egal. Jedenfalls fand ich keinen einzigen Tipp- oder Druckfehler, was ja schon einmal sehr erfreulich ist. Dabei las ich extra aufmerksam und mit dem Stift in der Hand.

Ich war schon etwa eine Stunde lang mit dem Heft beschäftigt, da kamen zwei deutsche Frauen heran. Die eine trug eine Frisur im Stile Beate Uhses, die andere im Stile Barbara Rüttings. Sie hatten auch ähnliche Vornamen und rieben sich mit Tiroler Nussöl ein. Ich wollte es nicht, aber ich musste heftig an Lanzarote von Michel Houellebecq denken. Es hörte gar nicht mehr auf. Eventuell, so überlegte ich verzweifelt, hatte es sich bei der aprikosenfarbenen Flüssigkeit in meinem Kühlschrank, die ich, in der Annahme, es handelte sich um Fruchtsaft, am Morgen getrunken hatte, überhaupt nicht um Fruchtsaft gehandelt. Oder jemand hatte mir etwas in meine Cornflakes gemischt.

Menschen am Dienstag. Was soll da heute noch groß kommen?

6.9.

Gestern eröffnete mir die Gemüseverkäuferin, dass wir uns in drei Wochen zum letzten Mal sehen werden für – ich konnte es ihr kaum glauben: sechs Monate! Einige Menschen, an die ich mich hier gewöhnt habe, kündigten mir in letzter Zeit ähnliches an. So langsam glaube ich nicht mehr, dass sie es scherzhaft meinen. Anscheinend handelt es sich bei dieser Gegend hier um eine Saisongegend, vergleichbar mit einem Strand in südlicheren Gefilden. Dann hat halt so ziemlich alles bald zu. Neulich, als ich in der Innenstadt war, hatte ich Markus aus einer Art Vorahnung heraus darum gebeten, mir demnächst mal meine Kaffeemaschine vorbeizubringen, die noch immer, seit dem Tag, an dem die im Schädels aufgestellte gestreikt hatte, bei ihm im Lager steht. Einen Vormittag lang hatte meine winzige Maschine dort den professionellen Zwecken gedient. Aber wenn es erst kalt sein wird, wenn es jeden Morgen schon eiskalt regnet und dazu auch kein Sonnenschein: Wozu soll ich denn dann noch über die Straße gehen oder überhaupt aus dem Haus? Zum 1. Oktober brauche ich dann auch die Zeitung im Abonnement. Für sechs Monate, so es das gibt. Und trotzdem freue ich mich auf diese Zeit der Häuslich-, vor allem: Innerlichkeit. Aber Kerzen: So weit wird es nicht kommen.

5.9.

Kurz nach elf Uhr fing es an zu tröpfeln. Der Asphalt war noch warm vom Sonnenschein des Vortages, so kam es zu dem bekannten Phänomen. Von Comme des Garçons gab es ein Parfum, es wird schon lange nicht mehr hergestellt, das roch wie dieses Phänomen, abgefüllt in ein leuchtend blaues Fläschchen (kein Flakon). Darauf stand in leuchtend roter Schrift Tea, um alle in die Irre zu führen, denn wer daran roch, konnte entdecken, dass damit eigentlich Bitumen gemeint war.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich herausfand, dass ich nicht der einzige bin, der diesen Geruch, die Verbindung der Düfte verdunstender Regentropfen auf warmem Asphalt, nicht nur als angenehm empfindet, sondern auch als stimulierend. Einige assozieren mit diesem Riecherlebnis ein Phänomen in der Region ihres Solarplexus, das sie, mit der Lebenserfahrung eines Erwachsenen, als identisch mit dem ihres Verliebtgewesenseins beschreiben. Mich beschäftigt bei solchem Wetter noch immer die Frage, was damals, als ich in diesem Zusammenhang dieses Gefühl zum ersten Mal verspürte, meinen Solarplexus stimuliert haben könnte; also woraus sich da, mit sechs Jahren, mein Verliebtheitsgefühl erzeugt haben könnte. Ich komme nicht drauf. Der Regen wird es nicht gewesen sein; Sommer?

Ich weiß aber noch, dass es abends war.

Gestern ging ich so langsam wie möglich nach Hause, eine schwierige Übung, die ich mir zu solchen Gelegenheiten auferlege, aber ich werde kaum besser darin. Wie alles Schöne ist dieses Phänomen von kurzer Dauer. Je mehr Tropfen auf dem Asphalt gelandet sind, desto rascher kühlt sich der Untergrund ab, bald ist der seltene Geruch schon verflogen und dann riecht es nach abgewaschener Natur. Es gibt ein zweites Phänomen, ein paar Minuten nachdem der letzte Regentropfen gefallen ist. So lange es noch warm ist, riecht es dann draußen eine Weile lang dämpfig und trotzdem klar, ich nehme an, es rührt von der feuchten Erde her. Aber von der Stimulation her läßt es mich kalt. Vermutlich verbinde ich damit kein Kindheitserlebnis, weshab diese Duftwahrnehmung keine hypnotische Qualität besitzt.

»aller Alchemie
erlauchten Ausgang. Meine Brauen, die
den Brücken gleichen, siehst du sie

hinführen ob der lautlosen Gefahr
der Augen, die ein heimlicher Verkehr
an die Kanäle schließt«

Idealer Tag, um die Blüten und Blätter aus Frühling und Sommer in das große Heft einzukleben.

4.9.

Der vorläufige Höhepunkt eines an Höhepunkten wahrlich nicht geizigen Jahres ereignete sich am gestrigen Nachmittag um 15 Uhr 23 an einem Bratwurststand. Wir saßen im Garten des Literarischen Colloquiums unter einer Eiche, ich aß eine Bratwurst, da näherte sich dem Bratwurststand ein einzelner Mann. Wie zögernd war er in einigem Abstand zum Grill stehengeblieben.

»Sie sehen aus, als wollten Sie eine Bratwurst«, rief der Bratwurstmann.

»Ja«, sagte der Zögerliche, »aber nicht jetzt«. Dabei griff er sich mit beiden Händen bedeutsam in den Bauch.

»Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel«, rief der Bratwurstmann.

»Ja, aber ich will nicht noch männlicher werden. Es reicht.«

Wie immer, wenn mir so etwas passiert, hatte ich nichts zu schreiben dabei (also Notizbuch oder überhaupt Papier), also notierte ich den Dialog auf eine Wurstpappe. Beinahe ein mise en abyme!

Kurz darauf fingen in der sogenannten Rotunde am Wasser die Lesungen an. Es war deprimierend. Und Anne, die angeblich an einer durch die Einnahme von Aspirin Complex verkomplizierten Sommergrippe litt, steigerte sich in den Wahn, in dem Gebüsch hinter uns hingen Verwesungsgerüche (was ehrlich gesagt auch gut sein konnte, denn es gibt hier derzeit des Nachts umherschweifende Füchse, die in den stillen Gärten ihre Paarungsspiele aufführen). Nicht einmal Joachim Lottmann war gekommen. Der einzige uns bekannte Schriftsteller war Alban Nikolai Herbst. Anne drängte auf sofortigen Abbruch des Experiments.

Am Tor trafen wir auf Philipp Albers und Holm Friebe, die versuchten eine der Stipendiaten des Hauses telefonisch zu erreichen, um das Eintrittsgeld (8 Euro) zu sparen. Mit Holm Friebes Journalistenausweis hätte es sogar nur 5 Euro gekostet. Ich fachsimpelte mit Luke über mein Holzbein. Bald würde es ja wieder Zeit sein, dass ich diese Hose tragen könnte, und, so Lukes Hoffnung nun seit über einem Jahr, dann wäre auch bald darauf die schöne Erntezeit gekommen, dass Luke die aus meinem Holzbein sprießenden Gemüse endlich ernten dürfte. Dann lockte die Hüpfburg, die als Kinderfang gut sichtbar im Eingangsbereich vor dem Haupthaus aufgepumpt worden war. Schon einige arglos vorbeispazierende Familien waren an diesem Nachmittag von ihren durch die Hüpfburg faszinierten Kinder in die Fänge des Sommerfestes geraten. So auch der nette Unternehmensberater, den wir mittags beim Zitronenkuchen kennengelernt hatten, und dessen freundlichen Söhnen wir arglos von den Freuden des Sommerfestes erzählt hatten. Auch die hielten sich nun schon seit einer Stunde in der Hüpfburg auf. Ihren Vater, der für den Erfinder von Red Bull einen Salzburger Buchverlag aufbaut, hatten wir leider nicht wiedergesehen. Vermutlich networkte der im Gebüsch. Dann kam endlich die Stipendiatin, Philipp und Holm wurden erlöst.

Heute früh: Nebel, Kirchenglocken. Eine Novität. Anscheinend werden die den Sommer über abgeschaltet.

3.9.

Mit den Worten Jürgen Dollases aus dem ausgezeichneten Gespräch mit Sven Michaelsen fuhr ich gegen Mittag in die Innenstadt. Wie schön er von seinen Lehr- und Wanderjahren verdanks LSD erzählt: »Wenn man was drin hat, kann man das so sehen. Das Drogenohr hört ja ein bisschen anders. Wir haben psychedelisch korrekte Musik gemacht, die unter Drogeneinfluss sehr gut wirkte. Ich hatte enge Beziehungen zu einer Kommune in Viersen am Niederrhein, die indische Musik hörte und sehr mit fernöstlicher Philosophie zugange war. Wir waren in einer Phase des LSD-Konsums angelangt, in der es keine Halluzinationen mehr gab. Für uns waren Drogen ein todernstes Wahrheitskonzept. Drogen waren unser Leben. Wir verstanden Leute nicht, die sich Drogen reinschmissen, nur um in ihrem Kopf irgendwelche irren Kinoeffekte zu erzeugen und dann staunend und mit offenem Mund rumzuliegen. Das war eine andere Abteilung. Mit der hatten wir nichts am Hut. Uns ging es um ein psychedelisches Klarbewusstsein.«

Das Beste an LSD scheint mir vor allem, dass man diese Wahrnehmungen, die Jürgen Dollase als »psychedelisches Klarbewusstsein« beschreibt, als bereichernde Erfahrung mit in die Nüchternheit nehmen kann. Dass man sich besser, ja: klarer als bei jeder anderen Droge, die ich kenne, daran erinnern kann, was man anders gesehen, dadurch erlebt hatte. So kann ich mir besser erklären, weshalb er (Dollase), als er noch regelmäßig in der Zeitung über Restaurantessen geschrieben hat, zu diesen für ihn typischen Texturanalysen von Nahrungspartikeln gefunden haben konnte. Er schrieb da oft und wie ich finde auch unnachahmlich aus der Perspektive eines Wesens, das irgendwelche speziellen Zubereitungen zum entweder allerersten Mal auf diese Weise zu sich nahm, oder das, aufgrund seiner Wesenheit, sämtliches, was dort auf dem Teller vor ihm wartete, in seiner fremden Eigenart zu beschreiben versuchte, als handelte es sich dabei um den Bericht von einer Expedition. So kann das Ergebnis einer gelungenen Erfahrung mit LSD sein: Man sieht den Wald, die Bäume und die Freunde, die Sonne, und später den Mond und die Sterne wie zum allerersten Mal (an das man sich bis dato ja leider nicht mehr erinnern konnte), und wächst nun noch einmal, wie ein Kind, das sich später an diese Weltwahrnehmungserfahrung erinnern können wird, mit allen Sinnen in die Dingwelt hinein. Für manche wirkt das wie eine religiöse Erfahrung, und sie verlassen die Kirche in dem Gefühl, ein besserer Mensch geworden zu sein.

Später am Tag wurde mir in der Punk-Pizzeria ein Modedesigner vorgestellt: Juri aus Nürnberg. Er ist sechzehn Jahre alt. Er betreibt mit seinem Freund ein Label, HUMM. Sie entwerfen T-Shirts, die sie aus ihren Jugendzimmern heraus vertreiben. Bezahlung per Paypal. Ich bestelle mir eins. Noch während wir reden, erhalte ich die Versandbestätigung (Tommy Hilfiger hat Juri nach Berlin einfliegen lassen, um seine Veranstaltung während der Bread & Butter mit jungen Talenten zu garnieren, der Freund ist daheim in Nürnberg geblieben und kümmert sich um die Geschäfte). Juri trägt einen medivial haircut, wie er einst für die erste Kollektion von Raf Simons erfunden wurde. Als Raf Simons auch das Ding mit den Motorradhelmen auf dem Laufsteg erfunden hat, das später von Daft Punk übernommen wurde. Juri sammelt alte Teile von Raf Simons, den er durch A$AP Rocky entdeckt hat, und den er jetzt als ein Vorbild für seine eigene Arbeit als Designer nimmt. Juri trägt eine feste Zahnspange, und Tabassom gibt ihm zehn Euro, damit er sein Telefonguthaben aufladen kann. Dann zeigen wir ihm noch das Bless-Apartement, weil Juri Bless noch gar nicht kannte. Alles viel zu teuer für sein Budget, aber er scannt jedes einzelne Teil, vor allem die rekonstruierten Jeansjacken, dann bringt ihn Jonas zur U-Bahn.

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