»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

16.12.

Beim Einkaufen bekam ich den Neid der Leute hinter mir am Kassenband explizit zu spüren. Weil ich mir gleich mehrere Liter Kuhmilch leisten kann. Seit die Milchpreise angezogen haben, ist mein liebstes Nährmittel zum Hassobjekt in antielitär gestimmten Kreisen aufgestiegen. Flüssiger Kaviar. Weißes Gold.

Kühe: Was fingen wir bloß ohne sie an. Seit ich mich kürzer fassen will, ufern meine Träume aus. Das scheint nach dem Prinzip des durchlöcherten Gartenschlauchs zu funktionieren. Hält man bei dem ein paar der Löcher zu, drückt es aus den übrigen mit umso mehr Nachdruck heraus.

Noch mehr aber vermisste ich: Musik.

So auch (ich muss jetzt aber auch scharf aufpassen, nicht etwa etwas dergleichen der von mir zwar geliebten, aber nicht beherrschten Gattung des Haikus unbeabsichtigterweise zu fabrizieren) auf meiner Rückfahrt aus der Stadtmitte nach Hause, währendderer mir der iPod das längst nicht mehr gehörte Stück Thought I’d never see you again von Working Week zuspielte: »Sunny Days drinking wine in the sun: that’s what you are to me«.

Für Carl Jakob Haupt

15.12.

Gestern dann mit diesem tiefen Gefühl der Befriedigung eingeschlafen, etwas Großes vollbracht zu haben. Zu groß halt, leider, wie sich heute früh dann herausstellen sollte. Und ich hatte, wie beinahe immer, noch nicht einmal etwas geahnt. Sehr gerne würde er diesen herrlichen Text in seiner Literaturzeitschrift drucken, schrieb der Herausgeber mir in seiner E-Mail, verfasst eindeutig bei Lampenschein, den sie ward‘ versandt an mich kurz nach 3 Uhr in der Früh. Während ich noch im Pilzgarten umherging, deren klingelndes Läuten in mein geflochtenes Körbchen zu ernten, denn so ging mein Traum.

Aber leider, so geht der Brief an mich weiter, ist der Text mit seinen 70 Druckseiten zu lang. Wo ihm als Herausgeber doch gerade mal 90 Druckseiten zur Verfügung stehen.

Ich verstehe sein Problem nicht. Vorbei die Zeit, da Alfred Andersch in seiner Zeitschrift Texte und Zeichen blahblahblah. Beziehungsweise: Es ist ja nicht allein seines. »Zu lang« ist seit einiger Zeit bereits zu einem Argument geworden in der literarischen Welt. Man würde so gerne, findet es persönlich auch gut, aber es ist halt zu lang. In meinem Schreibleben hatte ich dieses Argument, das für mich nie eines war, bis dahin nur von einer einzigen Person gehört: Franz-Josef Wagner, von dem ich ansonsten sehr viel gelernt habe, sagte zu mir, da war ich vielleicht 27 Jahre alt: Du musst Deine Sätze kürzer machen.

Ich denke nicht gerade sehr oft, aber doch immer wieder mal und das stets sehr gerne an diesen Satz des Meisters. Und klar, ich kann auch ganz gut meine eigenen Texte kürzen. Auch schnell. Sogar von 70 Druckseiten auf 10, wie es mir nun vorgeschlagen wird. Mein Text ist nämlich um einiges zu lang geraten. Wobei: Geraten ist da gar nichts. Ich wusste ja von vorneherein, dass 359 Bildbeschreibungen nicht auf eine Seite passen würden. Hätte ich vorher um Erlaubnis bitten müssen? Schlimm ist ja auch, seit es zu lange Texte gibt, die zum Standard gewordene Redaktionsansage: »Können Sie das auf ein Drittel eindampfen, den ganzen Text bringen wir dann online« – das Internet als Textmüllkippe. Oder eben Textreservat, ganz wie man es betrachten will. Ein Vorgänger Franz-Josef Wagners hatte einst bei der Schöpfung einer neuen Frauenzeitschrift aus dem Hause Axel Springer verkündet, damit würde »aus der Mülltonne eine Schatztruhe« gemacht. Klingt doch gleich viel besser. Nett geradezu. Das Internet eine Frauenzeitschrift, klingt ebenfalls nett. Aber halt auch ein bisschen böse. Und böse will ich auf gar keinen Fall mehr sein. Sonst ist es aus mit Träumen, in denen Pilze mir ihr Glockengeläut zur Ernte anbieten, und ich muss träumen, was auf den Bildern von Cursed Images zu sehen war. Und das dann ewiglich!

Tagebucheintrag auch schon wieder viel zu lang. Sollte meine Sätze noch viel kürzer machen. Oder halt noch länger. Dann aber bloß 1.

14.12.

Das Lied des Wirbelsturmmachers aus dem alten Ugarit hört sich gar nicht so schlecht an, wenn man es nur halblaut gestellt im Hintergrund laufen lässt. Angeblich ist es das älteste überlieferte Musikstück der Welt. Entdeckt vom Archäomusikologen Richard Dumbrill aus London. Auf der Informationsseite seines Institutes sieht man ihn an einem Arbeitsstisch sitzen, seine Rechte ist von einem türkisfarbenen Gummihandschuh bekleidet, damit greift er gerade nach einem uralten Manuskript, eventuell handelt es sich dabei um die Niederschrift des zweitältesten Musikstückes der Welt. Dr. Dumbrill trägt ein messingfarbenes Cordjackett.

Wohingegen ich den gestrigen Tag mit vergnüglichstem Bildbeschreiben zugebracht habe. Man merkt’s wie hier im Falle des Musikologen: Ich bin gut drin im Metier, die Arbeit geht mir flott von der Hand. Allerdings habe ich gestern erst die Hälfte meines Pensums geschafft. Nicht weiter tragisch, der Text muss erst morgen früh fertig sein, dann gebe ich exakt zum vereinbarten Zeitpunkt ab (ist mir ja sehr wichtig: Pünktlichkeit). Es geht um Geisterbilder, so würde ich es ins Deutsche übersetzen. Also nicht unbedingt Abbildungen, auf denen Geister zu sehen sind angeblich, sondern Fotos, deren Herkunft und Zweck während des Studiums ihrer Motivik zunehmend schleierhaft zu werden scheint, bis ihr Zustandekommen einem geisterhaft vorkommen will – und man sich im besten Fall abwenden muss. Cursed Images hieß der Account, der ein knappes halbes Jahr lang ein paar Hundert solcher Bilder gepostet hatte. Für eine Literaturzeitschrift beschreibe ich sie nun alle einzeln. Auch für den Fall, dass der Account sich irgendwann löscht (das wäre ja nur konsequent und erst wirklich geisterhaft).

Mit Dumbrills Musikausgrabung im Hintergrund leiernd (er lässt das Lied von Michael Levy* auf dem angeblichen Originalinstrument spielen, einer wuchtig aussehenden handgeschnitzten Harfenabart namens Lyre, die eher einer Apparatur zur Apfelweingewinnung ähnlich sieht), dazu eine Tasse Tee: gemütlich und auch interessant, lustig sehr oft ist der Beruf des Bildbeschreibers am Fließband. Ein Traumberuf, den ich sehr gerne ausüben würde. Vergleichbar mit dem Job, den Joaquin Phoenix hat in Her, wo er die Liebes- und Verzeih‘-mir-Briefe für andere Leute von Hand schreibt und verschickt. Würde ich auch gerne machen. Nicht ganz so gerne wie Bilder beschreiben, aber noch immer gern. Mein Traum wäre es geradezu, dass mir beispielsweise eine Firma mit Sitz im Ausland jeden Montag 1050 Bilddateien auf einen Server lädt, die ich bis zum nächsten Montag beschrieben haben sollte. Das ist zu schaffen, ich habe gestern etwas über 160 Stück beschrieben. Pro Bild, sagen wir: 5 Euro? 4,50? Wahrscheinlich würde es bei unbefristetem Vertragsverhältnis eher auf 45 Cent pro Stück hinauslaufen. Auch nicht schlecht! Ich wäre dabei.

*Wie eine Art Malbuch für Novizen der Bildbeschreibung: ancientlyre.com

13.12.

Rund und stechend hell, mit grünlicher Korona, stand der Mond in einem – endlich wieder Minusgrade – endlos schwarzen, ungetrübten Himmel über dem Haus. Schnecken wohlauf, die Heizkörper verrichteten schweigend ihr Werk. Als sei ich niemals fortgegangen. Properz hatte seine schönsten Zeilen im Schoße Hostias verfasst. Wie heißt noch diese Lebensform, in der du, kaum dass wir dort voneinander Abschied genommen, hier schon mich empfangen hättest?

Schlafend erwartete ich, dass über Tivoli die Sonne wieder schiene.

Mein Traum spielte in einer Welt, in der sich alle etwas Dringliches zu sagen hatten, es waren Botschaften, die von Mund zu Mund weitergegeben werden mussten, aber die Münder waren voll mit sandigem Gebäck*, das, je mehr ich kaute, umso mehr an füllendem Volumen gewann. So konnte der Schreckliche sein Werk ungehindert vollenden. Allein, es war so ungeheuer umfangreich, dass selbst er, dem anscheinend alles zu vollbringen zugestanden war, nicht damit fertig werden konnte. Um kurz nach sieben wachte ich auf.

*Vermutlich induziert über einen Kalauer, den ich insgeheim aus der Bahnsteigsansage gemacht hatte: »Lassen Sie ihr Gebäck nicht unbeaufsichtigt« – hätte ich aufschreiben sollen (was im Notizbuch steht, ist dadurch unschädlich gemacht).

12.12.

Abschied von Frankfurt (der Goethe-Stadt): Um 7 Uhr ist es noch dunkel, aus dem Dach eines gegenübergelegenen Industriegebäudes quillt heller Dampf wie eigens hinterleuchtet. Darüber fliegt auf gerader Bahn und blinkend ein Stern vorüber in Richtung des Flughafens. Wolken dunkler als der Himmel, wie Schatten. Einzelne Fenster sind schon erleuchtet. Im Haus ist es still. Die Heizkörper klopfen.

Und plötzlich, gestern dann: das Lied einer Amsel. Hoch oben in einem nackten Baum vor einem irgendwie bedrohlich zartvioletten Himmel, der ansonsten frei von Wolken war. Aber ein paar Minuten später fing es mit großen warmen Tropfen zu regnen an. Beim Abendspaziergang durch die Taunusanlage ergeben sich zu allen Seiten hin die reizendsten vertical views, die in Manhattan als Sonderfunktion einer Wohnung ausgeschrieben werden (und sie dementsprechend teurer machen). Aneinanderstoßende Spiegel, Leuchteffekte, Verzerrungen der ineinander sich spiegelnden Spiegel, dazwischen ein ganz kleines Gebäude im historischen Stil. Neben dem Eingang zu einem Kunstmuseum war der ringsum verglaste Empfangsraum eines Hochhauses so eingerichtet, dass dort hinter einem breiten Tresen allein die Figur eines Pförtners saß; der Tresen ansonsten beinahe ganz leer und in glänzendem Weiß rein gehalten, ganz links außen zwei Vasen mit wenigen Blumen drin, sonst nichts, kein aufgeschlagenes Buch, in das die Besucher sich eintragen müssten. Selbst die Schranken, hinter denen es um die Ecke herum zu den nach oben in das Gebäude hinein führenden Aufzügen ginge, sind aus transparentem Plexiglas. Nichts, das den Genuß einer totalen Leere im Raum stören könnte. An der hohen Wand hinter dem Tresen nichts weiter als die Buchstaben, die, wie ein Bild, den Firmennamen darstellten. Hier, wo Fläche so teuer war, dass man in die Höhe bauen musste, bleibt der einzige einsehbare Raum leer, wie in Kyoto, der Kaiserstadt, die in der Mitte eine bauliche Leerstelle hat. Mark Wigley bezeichnet die Hochhäuser Manhattans als manifestation of greed.

Frankfurt, knapp 750 000 Einwohner, aber wie Goethe es über Bethlehem geschrieben hatte »so klein und doch so groß«, hat tatsächlich dieses Beieinander von protzig und bescheiden bis ärmlich und wieder zurück, das in den Artikeln über Berlin (die Hauptstadt) so lange beschworen wurde, bis es zumindest in Berlin selbst niemand mehr noch einmal lesen wollte – weil es ja einfach nicht stimmt. Es sei denn, man machte während der Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, PKW oder Fahrrad die Augen fest zu. Während des Transfers von der einen sozialen und architektonischen Situation zur anderen, ändert sich dort nämlich allerhand. Die Gegensätze sind da, aber sie wirken nicht krass, weil es kein Stadtviertel gibt in Berlin, wo ich beispielsweise am Potsdamer Platz rechts abbiege und schon bin ich aus einem Areal spiegelnder Türme auf einer Meile des Elends gelandet, wo sich vor einer Kulisse aus sogenannten Laufhäusern mit rosafarben beleuchteten Fenstern die dubiosen Gestalten auf der schummrig beleuchteten Straße gegenseitig drangsalieren (und dann, ein paar Schritte weiter, leuchtete die schaumig geformte Fassade des Hauptbahnhofes). Das »Groß-Stadt-Getrie-hie-be-he«, mit dem Udo Jürgens seine Glissandi begleitete (in Siebzehn Jahr‘, blo-hondes Haar), hier: ist alles zusammengedrängt und zu einer Koexistenz gezwungen, in Berlin gibt es das alles zwar auch, aber es existiert entzerrt auf das Stadtgebiet verteilt und wirkt dadurch beinahe geordnet (man taucht auf und ein). Frankfurt wirkt dadurch filmhaft beim Hindurchspazieren, Berlin wird erst im Schnitt zu diesem Film, den alle schon so oft gesehen zu haben meinen oder glauben. Und das in etwa seit Drei Damen vom Grill.

11.12.

Schönes Datum heute, aber Zahlen lassen mich ungerührt. Wenn unsere Zeitrechnung hingegen mit Buchstaben notiert würde Punkt, Punkt, Punkt.

Trübe Aussicht, zwar kein Nebel, aber der Himmel scheint aus ausgeleierten Schläuchen zu bestehen, gefüllt mit nassem, grauem Material (man will es nicht wissen, was es ist; also ich). Bloß einmal geradeaus auf ungefähr zwei Uhr gibt es eine rundliche Öffnung, dahinter leuchtet das Himmelblau. Den einzig schönen, weil überhaupt sichtbaren Sonnenaufgang gab es, seitdem ich hier bin, gestern. Bald darauf war im Internet schon beinahe eine Mannigfaltigkeit von Aufnahmen des in zarten Farben getönten Morgenhimmels, vor allem halt gespiegelt in den Hochhäusern des Bankenviertels, durchzogen von wie Kreidestriche anmutenden Kondensstreifen, aber auch reflektiert von dem vom Nachtregen glänzend gemachten Asphaltbelag der Straßen, hier insbesondere als ein Motiv begehrt, sobald darüber eine S-Bahn-Brücke Sonnenschatten spendete, es dahinter aber himmlisch rosa ward.

Diese Technik, von der ich neulich in der Zeitung las, Apple hat sie bereits an Konzertveranstalter vermarktet, scheint vom Prinzip her aus einer Art Störsender zu bestehen, der bestimmte Funktionen des iPhones auf Kommando lahmlegen kann (also während des Aufenthalts an einem Veranstaltungsort beispielsweise die Kamerafunktionen des Smartphones). Sie wird dann auch von Neuschwanstein aus, in den Häfen von Bilbao und Sidney, vom Berliner Fernsehturm herunter und im Frankfurter Bankenviertel betrieben werden. Kaum scheint die Sonne, kaum geht sie mal ansehnlich unter oder auf, wird das Fotografieren des Schönen kostenpflichtig. Man lässt die Motive per App freischalten, um sie fotografieren zu können. Auch schöne Menschen, also beispielsweise solche mit einem malerisch zerfurchten Gesicht wie Samuel Beckett, oder sein Verkörperer in dem Videoclip von Killing An Arab, werden sich einen dieser Störsender implantieren lassen. Die interessanten Tiere im Zoo auch, klar. Das Schöne angucken bleibt aber bis auf Weiteres kostenfrei.

Sehr toll wird dann freilich die Gegenbewegung, betrieben von den Leuten, die absichtlich nur das Unansehnliche, das also offiziell Unschöne, beziehungsweise nicht Fotografierenswerte fotografieren und ihren Anhängern zur Verfügung stellen werden. Aus Trotz, vielleicht auch noch schnöder: Aus Geldmangel wird diese behauptete Schönheit dann zwangsläufig zu einer etablierten sich mausern. Möglich, auch wenn es mir gerade zu komödienhaft vorkommen will, dass die durch solche Aufnahmen zu Gesellschaftsruhm und folglich auch zu Wohlstand gekommenen Künstler, dann wiederum ihre einst unansehnlichen Motive zu kostenpflichtigen Sehenswürdigkeiten codieren mithilfe der Störsender-App. Woraufhin dann das Bankenviertel bei Sonnenuntergang mit einer eigens produzierten Imagekampagne als Classic Sight beworben werden wird; man befände sich in einem Wettbewerb mit Capri, der Insel und dem Central Park zu Zeiten des Indian Summer.

Seitdem ich hier auf dem Weihnachtsmarkt die erste gebratene Rindswurst am Stand des Eberhardt gekauft, ging es mit meinem großen Rindswurst-Test bloß noch bergab. Beispielsweise ging ich in der Kleinmarkthalle beinahe achtlos an einem Stand vorbei, weil ich von dort keine Bratdüfte hatte vernehmen können. Bloß um hinterher zu erfahren, dass ausgerechnet dort heiß gemachte Fleischwurstringe verkauft würden, deren gewünschte Abschnittslänge die Kunden vermittels einer pantomimischen Geste aus schieblehrenhaft zueinander parallel gehaltenen Handflächen anzuzeigen aufgefordert waren.
Ein Sample, geholt bei Erich Zeiss, bestehend aus einer traditionellen Rindswurst und seiner pikanten, brachte kaum so viel Neues – Zeiss führt seine Stadtmetzgerei seit dem Schicksalsjahr 1908 –, dass ich noch Lust verspürte, weitere Rindswürste probieren zu wollen.
Das Packaging der als Jahrhundertmetzgerei gepriesenen Sachsenhausener Institution Gref-Völsing – übrigens von zwei Frauen geleitet, von denen eine Friederike heißt; außerdem wurde im Schicksalsjahr 2009 eine Straße im Frankfurter Ostend in Gref-Völsing-Straße umbenannt – ist ein Hammer. Die Würste: freilich auch. Wobei mir beim Abbeißen von den Gref-Völsingschen Rindswürsten der für mich besonders ärgerlicherweise von Bertolt Brecht stammende Klassiker des Mansplaining in den Sinn kam, nämlich dass es sich bei Enttäuschung um ein Produkt von Selbsttäuschungen handeln wird. Es spielt im Falle GV vermutlich stark der historische Fakt hinein, dass die Eheschließung des Schlachtermeisters Karl Gref am Tag seiner Firmengründung vollzogen wurde. Beziehungsweise verhielt es sich aus seiner und seiner Ehefrauens Sicht halt exakt umgekehrt: die Wurstfabrik wurde eröffnet, die Ehe geschlossen. N’importe quoi.

Lustig war es aber auch. Beispielsweise als wir auf dem Markt im Kaisersack noch früh am Morgen eine Rindsbratwurst bestellten, der sogenannte Vogelsberger so eine aber noch nicht fertig hatte. Das allein noch nicht, aber als er dann in die uns als Ersatz angebotene Käsekrainer pikste, spritzte die ihm ihren heißen Käsesaft ins Aug‘! Gottlob ist der Hesse an sich gemütsruhig. Gemeinsam wurde dann noch viel gelacht.

10.12.

»Kanzi® ist ein erfolgreicher Apfel, der durch seinen hervorragenden Geschmack überzeugt. Die Süße und der knackige Biss von Kanzi® sind unvergleichlich. Wer einmal diesen exquisiten Apfel gekostet hat, wird begeistert sein«, so steht es in weißer Schrift auf dem schwarzen Karton, in dem vier Stück des Apfels Kanzi® zum Kauf angeboten werden. »Zögern Sie nicht…probieren Sie Kanzi®.«

Der Apfel schmeckt okay. Sympathisch, frisch. Es gibt eine eigene Website (kanziapple.com), auf der Apfelrezepte und ein paar Informationen zur Züchtungsgeschichte zur Verfügung gestellt werden. Hier, in der Stadt des Apfelweins, interessiert das selbstverständlich. Aber sonstwo? Legt man den erfolgreichen Kanzi® übrigens falschrum hin, also auf den Stiel und nicht auf die Blüte, dann fängt er dort nach zwei Tagen kreisrund rings um den Stielansatz an zu faulen, wie alle anderen Äpfel auch. Gegen die Reifungsgase ausdünstenden Bananen und Zitrusfrüchte in seiner Obstschale ist auch der Kanzi® noch nicht immun und reift unweigerlich mit allen anderen mit. Und wer die Züchtungsgeschichte gelesen hat, wird einigermaßen enttäuscht sein, wenn er so drauf ist wie ich, denn der sirihafte Ton des Textes verheißt ja zumindest die Ankunft eines Retortenapfels à la synthetische Schlange, aber tatsächlich ist der Erfolgsapfel halt doch bloß eine Frucht vom primus malus, gekreuzt aus den Sorten Gala und Braeburn.

Gestern sprachen wir länger über basale Erfahrungen und wie sie vermutlich unsere Abneigungen und Vorlieben geprägt haben werden. Auch kulinarisch: Ich stamme aus einem Apfelanbaugebiet, der Apfelsaft aus Heimerdingen gehört, nach wie vor in der Fabrik der Familie Bayer ausgepresst, zu den besten der Welt. Finde ich, aber das hat vermutlich mit meinem ersten Trinkerlebnis zu tun; mein erster Apfelsaft war einer aus Heimerdingen und so müssen seit jeher sämtliche Apfelsäfte sich mit jenem tiefgoldenen und muskatgefärbten Nass aus Heimerdinger Streuobstwiesenäpfeln (und ein paar Birnen pro Liter, denn es wird noch immer von Hand sortiert und irgendwann muss man halt auch mal niesen, oder vom Vesperbrot abbeißen dürfen) sozusagen messen. Wohinein auch spielen dürfte, dass ich mir meine ersten Mark in den Schulferien als Sortierer und Entlader von Traktoranhängern und später auch Lastwagen bei den Bayers verdienen durfte. Einmal, da war die Ernte schlecht gewesen und man hatte einen Lastwagen voller Äpfel aus Belgien bestellt, da schwamm im Wasser des Sortiergrabens ein Feinrippunterhemd an mir vorbei. Und, jung und dumm wie ich war, stellte mir vor, wie der Geschmack des ausgepressten Feinrippunterhemdes so ganz fein und leicht, subtil, wie ich es heute nenne, in den Säften einer bestimmten Charge herauszuschmecken sein würde.

So wird es dazu gekommen sein, dass ich den Anblick nasser Äpfel, vor allem den Anblick von Äpfeln im Frühtau zwischen Grashalmen, insbesonders wenn es grüne mit dünnen roten Streifen und einigen dunklen Flecken sind, schön finde. Ja, dass mich dieser Anblick sogar mit heimatlichen Gefühlen beschickt zurückzulassen schafft. Und als ich 1998 zum ersten Mal die Buchmesse besuchte, sah ich im von gelblichem Scheinwerferlicht bestrahlten Innenhof einer Sachsenhausener Apfelweingaststätte auch auf einen großen Haufen nasser Äpfel, die dort zu einer vagen Pyramidenform aufgeschüttet lagerten. Nur so, also im Anblick dieser nassen Äpfel dort in Sachsenhausen, konnte ich wohl diesen folgenden Abend dort überstehen. Der Apfelwein selbst ist nämlich fürchterlich. Und das gestern wie heute: er schmeckt einfach grässlich. Noch nicht einmal abstoßend, sondern gar nicht. Sauer und fad. Ich bin aber sowieso nicht dafür, dass man, wie Carl Schmitt es in liebevoll tadelnder Absicht über seinen fehlgegangenen Schüler Gerhard Nebel schrieb, »gleich Neptun anruft, wenn man einen Brathering vor sich hat«. Den Kölnern ihr Kölsch, den Mexikanern ihre Pulque lautet meine Devise. Hesse ist, wer Hesse sein will, so lautet bekanntlich die Zinnsche Definition des Hessentums; das Apfelweingutfinden fällt da bereits unter den Tisch.

Im Rahmen meines mittlerweile extrem großen Rindsworscht-Tests probierte ich auf dem Weihnachtsmarkt sogar den sogenannten Heissen, also einen Glühapfelwein, dessen namensgebende Erhitzung (man spricht es sympthischerweise wie Hase aus!!!) mir aber in den Worten meines unseligen Mathematiklehrers (Manfred Deschner! Das war eine Type – müsste ich glatt mal eigens beschreiben, es klänge wie ausgedacht, also literarisch as hell) als veritable Verschlimmbesserung vorkommen wollte. Apfelwein und ich: we don’t match. Dass auch das regionale Bier aus der Brauerei Binding nichts taugt, dieses Fass lasse ich lieber zu. Doch soll ein Spezialfall, der uns im anmutigen Ambiente der Marktstub‘ in der Kleinmarkthalle zur Bratwurst serviert worden war, nicht unerwähnt bleiben: Der frische Apfelmost der Kellerei Haas, zuletzt im Jahre 1978 mit einer Bronzemedaille der DLG e.V. ausgezeichnet, schmeckt im Vergleich zu den übrigen Erzeugnissen der Apfelweinszene hier schlaraffisch, kommt aber leider noch nicht einmal annäherungsweise an die Produkte schwäbischer Mostkellereien heran. Und, aber da bin ich wie gesagt frühkindlich geprägt: Über all diesen Flüssigkeiten schwebt, einem Wasser über den Wassern gleich, der Heimerdinger Apfelsaft im goldenen Ornat.

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