»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.3.

Ich war etwas wund, gedanklich, von der Arbeit an einem think piece zu Blorange, einem zwischen Blond und Orange rangierenden Farbton für Haare, der in den Sommermonaten das Straßenbild bereichern wird. In den Forumsbeiträgen auf Kleiderkreisel und GoFeminin wurden die schiefgegangenen Heimfärbeversuche bereits intensiv diskutiert. Als das vielfach beschriebene – vieles auch wieder durchgestrichen vor allem – Blatt, das ich nun war, wurde ich am oberen Ende der Kantstraße in einen schmalen Imbiss geweht, in dem es sehr voll war (und warm). Als Schreibender fühle ich mich oft wie ein Kaffeefilter: Es muss alles in mich hinein und durch mich hindurch und dabei kommt in Schwarz der Text heraus.

Beim Studium des Angebots, das auf einer hinterleuchteten Fläche über der Dunstabzugshaube montiert war, entdeckte ich mich selbst, mein Gesicht auf einer dort zu Werbezwecken aufgedruckten Seite aus der BZ aus dem Jahr 1999, als ich über den Betreiber dieses Imbisses geschrieben hatte. Mittlerweile nannte sich sein Laden Superhahn, vor 18 Jahren noch Mustafas Gemüsekebab. Damals auch noch am Breitscheidplatz, wo er dann irgendwann durch diverse Neubauten verdrängt worden war. Der Kebab, ich beschrieb das damals recht ausführlich, wie es mir dann beim Wiederlesen meiner eigenen Zeilen auffiel, schmeckte noch immer ganz ausgezeichnet. Verändert hatte sich aber, dass auf dem Tresen mittlerweile zwei Gefäße mit Chilipulvermischungen, Biber im Türkischen, aufgestellt waren, deren Schärfegrade auf daran geklebten Heftpflastern handschriftlich notiert waren: »Rambo« entzifferte ich auf dem einen, auf dem anderen stand »Justin Biber«.

9.3.

Solche Gespräche lassen sich mittlerweile nur »schwer noch« zum Abdruck bringen. Wenn ich mich mit jemandem zu einem sogenannten Interview verabrede, bekomme ich dabei seltener und seltener ein Gespräch. Oft halt tatsächlich bloß ein Interview. Ob das an Facebook liegt, an Twitter, daran, dass sich nun wirklich sehr viele Menschen schon wie ihr eigenes PR-Department fühlen können, müssen, oder bloß sollen? Dass sie ihr jeweiliges Produkt pushen – in meinem Bereich oft nur ein Thema – und sich selbst lieber raushalten aus einem sogenannten Medium, dem man, solange man es noch nicht vollends kontrollieren können wird, auf sicher misstraut?

Geführt werden die Gespräche ja weiterhin – privat, wie es heißt. Darin lag für mich der Zauber bei Bohrer und Kaube: Es war seinem Klang nach privat. Und das kann sich, ebenfalls meine Privatmeinung: dadurch verändern. Die ganzen Privatpressemitteilungen rühren mich nicht.

Manchmal denke ich, dass es auch sehr zum Verständnis unserer Zeit beitragen würde, wenn sich geschätzt ein Viertel bis Drittel der Menschheit in ein Volontariat aufmachte, um an den verschiedensten Orten, zu den üblichen Zeiten, die Gespräche von anderen zu transkribieren, um sie danach für alle anderen zugänglich machen zu können. In einer elektrisch gestützten Version transkribierender Mönche. Aus dem Glauben an die Schönheit des flücht’gen Hauches heraus, dem Gestalt zu verleihen ist. Der menschlichen Sprache. Dem interessantesten Ding unter der Sonne so to say.

Für mich wurde diese Phantasie von Wim Wenders wahr gemacht; vermutlich war es eine von Peter Handke, die in den Neunzigerjahren im Film Bis ans Ende der Welt gezeigt wurde: Sie hatten sich Videobrillen gemacht, ein ausgedachter Rekorder zeichnete nachts ihre Träume auf. Tagsüber saßen sie, die Brillen über den Augen, in ihrer Höhle (draußen war es eh zu heiß mitten in Australien, wo das Ende des Filmes traditionellerweise inszeniert ward), und schauten sich ihre Träume an.

Beim Abtippen von Gesprächen geht es mir ähnlich. Das Belauschen, beispielsweise gestern, im Haus am Bayernbrunnen, ist aber auch schon nicht schlecht.

Dort saßen – ganz nah an den Kälte und Feuchtigkeit abstrahlenden Scheiben zum Platz hin – zwei Greise. Beide redeten, aber es war die Stimme des mit seinem Gesicht mir zugewandt Sitzenden, die tragend war. Der andere murrte seine Zeilen, wie es mir schien, in sich hinein. Der Laute brachte dann in die scheinbaren Gesprächspausen des von mir abgewandt Sitzenden seine Vorwürfe. Es ging, das war nach wenigen seiner Repliken klar für mich, um eine Frau. Bald schrie er schon beinahe ein auf seinen Freund – ich musste annnehmen, dass der ihm einer war, denn er zuckte nicht zusammen, ließ es sich gefallen. Offenbar befand sich der vom Umgebungsgeräusch Ausgeblendete in einer Trennungssituation.

Auf der Speisekarte wurde erzählt, vermutlich im Scherz, dass einst ein Stammgast, mit dem im alten Westberlin gern genommenen Pseudonym Nante, in diesem Lokal nach dem Trinken von 24 Gläsern Fernet Branca einen Reim auf das Wort »Orgasmusschwierigkeiten« gefunden habe, sich aber am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern konnte. Das Ganze steht eingedruckt auf dem Deckblatt des Leporellos. Es handelt sich also todsicher um eine Fiktion.

»Du musst«, schrie nun beinahe schon der Laute auf den Gemuteten ein, »diese Zitterpartie beenden – heute ist der 9. März! Sonst bist du nächstes Jahr immer noch hier!«

Um ihm – da war sein Freund bereits aufgestanden, um sich zur Toilette hin aufzumachen – eins noch mit auf den Weg zu geben: »Wenn Du das Rauchen aufgeben willst, gibst du es ganz auf.«

Der andere, es war deutlich: »Du hast ja recht.«

Alleine am Tisch zog der Wartende nun eine Plastikschachtel aus seiner Hosentasche und streute sich daraus Schnupftabak in die Beuge zwischen Zeigefinger und Daumen. Verkehrte Welt: Der eine geht aufs Klo, der andere zieht was offen am Tisch, aber es wirkt bei ihm anscheinend umgekehrt: Er wurde ganz still. Der andere blieb es. Zahlen, gehen.

Re: Alexander Kluge, Ich

Ich: »Aber wenn Sie doch selbst schon sagen, dass nur wenige noch ihr tausendseitiges Buch mit kurzen Geschichten kaufen werden – was wird denn dann mit dem modernen Roman?«

Alexander Kluge: »Ich halte ja das, was ich mache, für den modernen Roman.«

8.3.

Was für ein Genuss es es gewesen sein muss, dieses Gespräch mit Karl-Heinz Bohrer abzutippen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da auch nur ein Satz irgendwie anders gesagt wurde, als der dann gestern so im Feuilleton gedruckt stand (und eben nicht »Welch ein Genuss«, oder »abtippen zu dürfen«). Wie er, ohne ein obskures Wort zu verwenden, von der vergangenen Zeit erzählt: Allein, dass die Menschen, mit denen er im Frankfurt der späten sechziger Jahre verkehrte, dort in weißen, symmetrisch eingerichteten, in seiner Erinnerung wie Mathematikheftseiten karierten Wohnungen lebten, bevor sie sich in den späteren Jahren erst wieder zutrauten, die Altbauten zu besiedeln. Und dass es bei seinem Arbeitgeber zuvor in Hamburg einen Feuilletonchef gegeben hatte, der in der Mittagszeit mit Rotwein gurgelnd durch die Redaktionsräume lief – ich las das und sah vor der Scheibe auf dem Bürgersteig draußen einen Mann, der seelenruhig in einen städtischen Abfalleimer urinierte. Wohl auch, weil der in einer für seine Körpergröße angenehmen Höhe am Laternenpfahl angebracht war. Diese Zeit, von der Bohrer erzählt, hatte ich selbst nicht erlebt, aber nun war mir so. Als wäre zu der Zeit in den neunziger Jahren, als ich zum ersten Mal in eine Redaktion gedurft hatte, noch ein kleiner Rest von diesem Zauber übrig gewesen. War es denn überhaupt einer gewesen? Damals wohl nicht, aber in der Erinnerung. Nachmittags hatte mir Romuald Karmakar, den ich um ein Gespräch gebeten hatte, freundlich geschrieben. Er erinnert sich sogar noch an unser allererstes Treffen, es ist bestimmt schon zehn Jahre her oder neun und er schreibt, dass er noch heute einen Gedanken daraus immer wieder bei sich habe. Angeblich hatte ich gesagt, dass im Hinblick auf das Verständnis von künstlerischer Arbeit meist das Begreifen in die Zukunft projiziert würde, als seien wir gar nicht real im Hier und Jetzt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich das zu ihm gesagt hatte.

Bald darauf fing es zu regnen an. Kalt und silbrig lappte das Wasser über den Rand der Markise und mir fiel ein, dass es ja die Einladung gab von Andreas, der die Jubiläumsausgabe der Von Hundert in der Bar Babette feiern wollte. Aber vom Savignyplatz bis an den Strausberger Platz, diese Reise kam mir nun wie nicht mehr zu bewältigen vor. Und das lag vielleicht am Regen.

7.3.

Gedacht wird Hermann Pedro Blumenau, die Anzeige steht isoliert auf einer Seite mit vermischten Meldungen. Über dem Namen, den sich Borges ausgedacht haben könnte, steht mittig ein Signet aus einem Stern mit konkav ausgezogenen Spitzen, ein Seestern, in dessen Zentrum ein Schmuckstück eingelegt ist – ein Orden? Das Geburtsdatum fällt mir erst auf, nachdem ich die biographischen Zeilen gelesen habe: »Träger des Eisernen Halbmonds und der Liakat-Medaille, Technischer Direktor der Kriegsrohstoffabteilung in Konstantinopel, Beratender Ingenieur für Bergbau und Hüttenwesen in Europa und Übersee, Bergwerksdirektor in Pachuca, Mexiko«.

Geboren 1868, »starb am 7. März 1917 im Rang eines Majors in Konstantinopel. Als ›Kriegsfreiwilliger‹, Teilnehmer der ›Expedition Klein‹, erschloss er Kohlevorkommen zur Versorgung der darniederliegenden Schifffahrt auf Euphrat und Tigris.«

Sein Sohn gründete eine nach ihm selbst benannte Stadt, Blumenau in Brasilien. Auch das rufen die unterzeichnenden Nachfahren in Erinnerung mit dieser Anzeige, die anlässlich des einhundertsten Todestages von Hermann Pedro Blumenau in der Zeitung erscheint.

Alles in diesem Text wirkt so ausgedacht auf mich wie dieses Signet eines Seesterns. Sogar der Name, wie gesagt. Alles ist über einhundert Jahre ganz langsam zu Literatur geworden. Geburtsjahr und Todestag anzuführen wäre nicht nötig gewesen. Wozu die Zahlen? Nichts davon existiert: Konstantinopel, Schifffahrt auf Euphrat und Tigris, Hüttenwesen, Blumenau. Noch nicht einmal die Liakat-Medaille will ich googeln. Die Worte stehen für sich da und bleiben, schön wie sie sind, isoliert wie die Anzeige selbst.

6.3.

Freitagnacht kaufte ich beim Umsteigen (ich war aus Neukölln zurück und hatte in der Wilmersdorfer Straße das indianische Mosaik entdeckt) im russischen Supermarkt ein kleines Brot. Der Supermarkt hat an allen Tagen an deren sämtlicher 24 Stunden offen, die Betreiber könnten also auch »Hat immer offen« auf ihre Tüten drucken lassen, sogar ohne »hat« würde das noch verstanden, aber dann wiederum wahrscheinlich auch nicht; jedenfalls scheint diese Zahl 24 dann doch wichtig als Hinweis. Sie zieht die Aufmerksamkeit potentieller Kunden auf sich, die dort selbst noch nicht eingekauft haben, aber in Anbetracht der 24 auf den Tüten von Passanten denken: Aha, der russische Supermarkt hat immer offen – das merke ich mir.

Brot gibt es dort rund um die Uhr, im direkten Vergleich zur benachbarten Fleischpalette ist die Auswahl aber bescheiden bis mono. Diverse Fladenbrotgrößen und Formen mit diversen Körnern bestreut. Mein Brot war anders, es war klein und braun. Außerdem wog es erstaunlich viel in Anbetracht seiner Größe, das versprach bang for the buck. Wie ich zu Hause angelangt dann feststellte, schmeckte es auch noch gut. Und das ist sogar noch untertrieben, ich formuliere hier bereits aus der Perspektive des enttäuschten Liebhabers dieses kleinen Brotes aus dem russischen Supermarkt, das, wie ich beim Auswickeln aus der Plastikfolie noch vor dem Anschneiden feststellen konnte – ich wendete es zu diesem Zweck in meinen Händen hin und her – in einer schmalen Kastenform gebacken worden war, sodass der überquellende Teig die Oberfläche des Brotes zu einer pilzhaften Verbreiterung geformt hatte, die auch nachts noch appetitlich glänzte. Im Anschnitt erinnerte die Krume des Brotes an den mit Kandiszucker bestreuten Honigkuchen, den es in Holland zum Frühstück gibt. Vage ging der Geschmack des russischen Brotes auch in diese Richtung. Also dunkel: ja, aber eben nicht säuerlich wie bei manchen Vollkornbroten, sondern ins eben eher Siruphafte weisend (dies aber ohne ausgesprochen süß zu sein). Extrem schmackhaft. Darüber hinaus handelte es sich um eine Wunderkruste, denn weder die anfängliche Folienumwicklung noch eine Aufbewahrung über das Wochenende konnten der Knusprigkeit dieses von außen klein, von innen undsoweiter Brotes aus dem russischen Supermarkt etwas anhaben. Ich aß, obwohl ich anders drauf war, stets nur wenige Scheiben. Und immer wenn ich von dem Brot gegessen hatte, freute ich mich nach einiger Zeit schon wieder darauf, mir bald wieder etwas mit Brot zubereiten zu können. Es schmeckte halt auch alles auf diesem Brot – ohne leider. Für Honig war es genauso geeignet wie für Fleischwurst. Perfekt zu Eiern. Genial auch nur mit Butter (gesalzener). Oder einfach mal, als mir eine Scheibe daneben ging und zu keilförmig geraten war, um noch mit etwas belegt zu werden: ohne irgendwas drauf, einfach nur ein Brot als Brot.

Ich war sogar schon drauf und dran mein Russlandbild zu korrigieren. Ich dachte, vielleicht hat sich dort etwas Entscheidendes getan, vielleicht gibt es dort einfach auch Orte, an denen es sich aushalten lässt; wo die Russen gut drauf sind und sich am Leben und an Broten wie diesem erfreuen. Da mein persönlicher Vorrat allmählich zur Neige ging, ich aß die vorletzte Scheibe mit Honig und plante den morgigen Einkauf im russischen Supermarkt, der mir mittlerweile schon als Delikatesshimmel à la Butter Lindner erschienen war in meinem vom Brot verblendeten Geist, da biß ich mit voller Wucht und einem von daher auch hässlichen Geräusch auf etwas hartes. Viel härter noch als mein Zahn – jedenfalls fühlte es sich so an. Es war ein Stein. Nichts besonderes, Rollsplit, Stück vom Straßenbelag, etwas in dieser Richtung. Ich versuchte noch, das Brot aufzuessen, aber die Schmerzen waren zu intensiv. Glücklicherweise war mein Zahn nicht zerbrochen, aber der mahnende Schmerz ließ nicht nach. Mir wurde dadurch sehr klar gemacht, wie wichtig der Erhalt meiner Zähne für mein Fortbestehen war. Der Schmerz warnte: Das darf nie wieder geschehen! Bitte in Zukunft Nahrung gründlich untersuchen. Und um mir diese Lektion noch gründlicher einzuprägen, wachte ich heute Nacht alle zwei Stunden auf und fühlte mit der Zungenspitze nach, ob mein lieber Zahn denn noch da war. Er war. Und tat dann auch noch ein bißchen weh. Sanft pulsierend. Vom Aufprall auf den wider Erwarten harten Stein war er tief ins Zahnfleisch gehämmert worden. Er hatte sich, um die Kausalkette aus dualistisch animierter Perspektive wiederzugeben: auf mich verlassen. Ein Zahn hat nun mal keine Augen. Ich war schuld.

5.3.

Für den Sonntag war durchgehend Sonnenschein versprochen, dazu eine Temperatur um 20 Grad: Nichts davon kam durch die Wolkendecke, die sich aus vielfach über ungesaugten Parkettfußböden gewälzten Wattebäuschen zusammengeballt hatte (und wo dann mal ein blauer Fleck zu sehen war, erschien mir der wie hilfesuchend, eingesperrt, gerade so, als hätte er sich ein Sichtfenster freigewischt).

Bevor Andreas als Wirt den Kiosk Easy Rider übernommen hatte, den es damals vor dreißig Jahren zwar schon gab, aber da noch unter einem anderen Namen, hatte sich das kleine Haus im Wäldchen zwischen Autobahnausfahrt und Auffahrt zum Strandbad allmählich zu einem Treffpunkt von Motorradrockern etabliert. Damals, so geht die Legende, betrieb ein Wirt, dessen Namen heute niemand mehr weiß, auch noch ein kleines Bordell im Hinterzimmer des Kiosks. Was heute nicht nur schwer, sondern überhaupt nicht mehr vorstellbar scheint, denn der Bau an sich ist für unseren an heutigen Bedürfnissen orientierten Blick bereits derart knapp bemessen, dass alles, was durch die Bedienluke von seinem Innenraum ersichtlich wird, so winzig und klein erscheint, wie die Welt vom Flugzeug aus betrachtet. Angeblich waren die Menschen früher noch kleiner von ihrem Wuchs her – vor vierzig Jahren auch?

Jedenfalls führte dann dieser Zuspruch seitens der Zweiradfreunde aus Berlin und dem westlichen Umland (?) bald dazu, dass vor dem Wäldchen, auf einem direkt an der Straße gelegenen Grundstückchen, ein zweiter Kiosk eröffnet wurde, der konzeptuell von vorneherin auf eine Kundschaft von Fahrern sogenannter heißer Öfen setzte. Und dieser zunächst sehr kleine Betrieb wurde dann zugleich noch zu einem Symbolbild der neuen Wirtschaftsordnung, denn über die kommenden Jahrzehnte wuchs er beständig und wie ein Teil eines Organismus immer weiter. Aus einem Häuschen wurde ein Haus. Aus dem Haus eine Halle. Davor breitete sich eine Terrasse aus, umgeben von Parkplätzen. Im Sommer wird heute eine direkt an den Abgrund zur darunter hinwegsausenden Autobahn eine Wiese mit Liegestühlen möbliert, auf deren roten Stoffbespannungen sich jeweils das Logo der Limonade mit Kräuterauszügen namens Almdudler wiederholt.

Und das ist schließlich halt doch interessant. Denn auch der Innenraum des Rockertreffs ist im alpenländischen Stile gehalten. Vom Boden her noch abwaschbar und dementsprechend mit breitflächigen Kacheln aus blutwurstfarbenem Steingut belegt, sind die Wände bis hinauf in die Zirbeldecke aus gehobeltem Fichtenholz. Eine lange Vitrine, die belegte Brote und Sahnetorten enthält, leuchtet gelblich. Die warmen Speisen sind, das wird überall auf den handbeschrifteten Tafeln aus Schieferimitat durch Unterstreichungen betont, nach Tiroler oder Grazer Rezepten zubereitet. Es hat niemand eine Flasche Almdudler vor sich, und dennoch ist dieses Logo, auf dem sich ein Mann und eine Frau, die beide Schlapphüte aus grünem, dem Anschein nach weichem Material tragen, mit Almdudlerflaschen zuprosten, aus deren Hals jeweils ein rot gestreifter Strohhalm ragt, omnipräsent.

Die Zweiradfreunde selbst sind vom Altersdurchschnitt her in ihren Vierzigern. Man trägt hier keine Kutten, sondern teuer wirkende Ganzkörperrüstungen aus Kevlargewebe. Leder ist nur noch selten zu sehen. Einige Männer zeigen sich mit Langhaarfrisuren. Sehr viel häufiger ist die willentliche Totalglatze zu sehen. Auch oft mit Bart und einer auf dem rasierten Schädel getragenen Sonnenbrille. Wenige Frauen haben sich, wie man das ungesehen vermuten würde, die Augenbrauen abrasiert und in anderer Form hintätowieren lassen. Und es gibt, sitzt man dort auf der Terrasse an einem der langen Tische, die aus halbierten Baumstämmen mit extraknorrigen Tischbeinen bestehen, auch kaum etwas Rockertypisches in den Tischgesprächen zu belauschen. Es geht sogar enttäuschend wenig um die Maschinen, die auf dem Standstreifen vor der Almhüttenhalle in einem chromblitzenden Knäuel bis hinüber an die Autobahnbrücke aufgestellt sind. Die moderne Kluft des Motorradfahrers sitzt hauteng und lässt sich während einer solchen Ruhepause auch während der Mahlzeit nicht öffnen, sodass es von Nahem wirkt, als sei eine transhumanistische Formfantasie bereits Wirklichkeit geworden, wenn ein android wirkender Körper aus in schwarz und weiß gemusterten Kevlarbauteilen mit draufgeschraubtem Frauenkopf ein Stück Germknödel mit Mohnfüllung zwischen seine permanent Make-up-Lippen schiebt (und im Hintergrund der Spitzgiebel der Almhütte). Über dem Eingang steht in echter Kreidehandschrift C+M+B 2017. Keine Musik übrigens. Es läuft, von nebenan, die Autobahn.

3.3.

Orgasmus für 3 Euro 40, da kann man nicht meckern. Und auch ansonsten werden die Getränke in der Bierbar am Hermannplatz zu Preisen wie im tiefsten Frieden verkauft. Bier gibt es, Orgasmus, aber auch Tee. Ich saß dort mit zwei Frauen um einen runden Tisch. Die Frauen tranken auch Tee, sie unterhielten sich sotto voce, die Kerze war aus. Ein Fensterplatz, die Scheiben reichten vom Fußboden bis zur Decke, die Bierbar hatte sich in den ehemaligen Verkaufsräumen einer Metzgerei eingerichtet. Der Ausblick zeigte den Karstadt, dessen Gebäude den Hermannplatz beinahe ganz ausfüllt. Auf dem Vorplatz wurde ein Wochenmarkt abgebaut. Es war einer dieser Wochenmärkte, wie es sie in Berlin an verschiedenen Orten gibt: Die Stände sehen alle identisch aus, ein Holzgestell wird mit einer cremefarbenen Markise überspannt. Vermutlich werden diese Marktstände zentral verliehen. Es gibt auf den Märkten, die aus diesen cremefarben überdachten Ständen bestehen auch immer dasselbe Angebot – Oliven und Pasten, Hüttenschuhe, Räucherfisch, Halbedelsteine, Kristalle, Filztiere, Seifen aus Marseille.

In der Maya-Entzifferungsgruppe geht es derzeit um einen Teller auf drei Beinen. Er stammt aus der Mitte des 7. Jahrhunderts vor Christus. Laut der bereits entzifferten Schriftzeichen wurde er am Hofe Chahks verwendet, der in der Geschichtsschreibung der Maya mit dem Ehrentitel des Urvaters erwähnt wird. Die Frage ist nun, was auf dem Teller serviert worden sein könnte. Monatelang deuteten die hieroglyphenhaften Zeichen daraufhin, dass es sich um einen Präsentierteller für Speisen gehandelt haben könnte. Er ist, wie gesagt, außerordentlich schön. Anzunehmenderweise waren darauf repräsentative Speisen ausgestellt worden, etwa besonders schön gewachsene Ananas oder zartfleischige Mangopflaumen, die man direkt so aus ihrer weichen Schale löffeln konnte, ohne sich noch mit dem Filetieren abzumühen. Dann aber stellte sich mit der Entdeckung eines bis dahin unbekannten Schriftzeichens heraus, dass auf diesem Teller sowohl diesseitige wie auch mythologische Speisen präsentiert wurden. Er diente also, darin lag seine besondere Funktion im Haushalt am Hofe Chahks des Urvaters: als Sammelgefäß zweier Welten. Eine Ananas, die auf dem Teller mit den drei Beinen plaziert wurde, zeigte sich dort als essbare Frucht und als Repräsentation der Idee von Fruchtbarkeit und Ertrag. Auch die Gebete an eine für die Fruchtbarkeit verantwortliche Gottheit, wie deren Segen oder, im schlimmsten Fall Strafe, wurden in diesem Gefäß reflektiert (und es hat von seiner flachen Form auf drei Beinen tatsächlich etwas von einem Rotationsparaboloid.) Die entscheidende Silbe, nur ein Segment eines Schriftzeichens, dessen Entdeckung diese Deutung erst möglich gemacht hatte, lautet wi.

Das brutal hässliche Gebäude des fensterlosen Einkaufszentrum mitten im Straßenverkehr, umgeben vom bäuerlich geprägten Marktgeschehen, auf dem nur industriell erzeugte Waren verkauft werden – der Atmosphäre wegen? Die Atmosphäre ist nicht schön. Der Karstadt könnte auch leer stehen, wird es wahrscheinlich auch bald. Abreißen ist teurer als umbauen. Ich kann mir nicht vorstellen, was dort einst entstanden sein wird. Ich bin selten nur in Neukölln. Als ich in der Konstanzer Straße in die U-Bahn-Station hinunter gestiegen war, fand ich dort sämtliche Gänge mit münzgroßen Fliesen ausgekleidet. In knallendem Orange, Orangenorange. Und an den Rückwänden der beiden Tunnel hinter den Gleisen ein Mosaik aus breiten Streifen in Gelb und Lila inmitten dieses Sea of Orange. (In der Mythologie erscheint Chahk der Urvater aus einer endlos schwarzen See; also stets: die mythologische Figur des auch in der Wirklichkeit regiert habenden Herrschers entsteht zu jeder Zeit als ein soeben den schwarzen Wassern im Entsteigen begriffenen.)

Starkes Denkmalschutzbedürfnis. Insbesondere seit ich weiß, aus Frankfurt, von der B-Ebene dort, wie kaputt und im Prinzip unrettbar verloren eine ungeschickt sanierte U-Bahnstation aussehen kann. Auf der Heimfahrt dann vom Hermannplatz mit der U7, die auf ganzer Länge von Rudow nach Spandau führt: Wilmersdorfer Straße. Der Holy Grail. Die orangefarbenen und gelben Fliesen wurden zu hochglänzenden Trapezen geschnitten, winzige Partikel, nur etwas größer als die Quadrate von Bisazza, und zu indianischen Ornamenten arrangiert, von denen gerahmt der Name der Haltestelle sogar noch etwas exotisches bekommt. Und dann erst der Kontrast bei Kontakt mit der Oberfläche, also wenn man dann aus der Station heraustritt und die Wilmersdorfer Straße erst schaut! Umgekehrt ergibt sich ein vergleichsweise flauer Effekt in Paris (für Deutsche) beim Verlassen der Métro Stalingrad.

Aber einst, bei Planung und Ausbau der Wilmersdorfer Straße, aber auch bei Fehrbelliner Platz und Konstanzer – das sind meiner Ansicht nach die Großen Drei unter den U-Bahnhöfen – war die Umgebung oben ja noch hässlicher, hatten die Polizisten noch diese grünen Uniformen an zu braunen Schlaghosen. Und alle rauchten und waren gerade erst aus Stalingrad heimgekommen. Frauen benutzten Haarspray. Das Bier hieß Schultheiss. Es gab die Mauer. Und Bonn.

Dann hinunter in die Wilmersdorfer Straße, und beim Warten auf die klappernde U-Bahn auf dieses indianische Wandbild starren. Die U-Bahnwaggons waren ja damals schon gelb lackiert. Karstadt am Hermannplatz noch ein Sehnsuchtsziel. In einem anderen Grau.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«