»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

2.3.

Der Sonnenaufgang färbt das Wasser für ein paar Augenblicke lang rosig ein. Glatt ausgebreitet liegt es da, auch weil ich es ohne Brille betrachte. Wie an einem Sommerabend. Den Tag über und die Nacht hindurch hatte es geregnet. Pariser Wetter, die Luft gerade das eine, vielleicht zwei Grad wärmer, sodass sich die Kälte des Wassers, das in Tropfen vom Himmel fällt, auf dem Gesicht und an den Händen unangenehm bemerkbar macht. Zeit des Hasens: Im Schaufenster des Delikatessladens Goldfasan am Stuttgarter Platz steht schon ein besonders schöner, gut vierzig Zentimeter hoch, in violettfarbene Alufolie eingepackt. Aus dem Efeu zwitschern die vom Regen zurückgedrängten Spatzen. Es klingt empört.

Das Purple Institute hat ein kleines Heft herausgegeben mit den Vogelporträts von Carsten Höller. Nur wenige Seiten, aber ich nehme es immer wieder zur Hand, um es von neuem zu studieren. Die Vögel werden auf Einzelseiten gezeigt, wie sie sich im Griff einer Männerhand mit kurz geschnittenen Fingernägeln befinden. Wie schön jedes einzelne Vogelauge von dem immer anders, immer anders prächtigen Gefieder abgesetzt ist. Wie ein polierter Spiegel, wie ein dunkler Stein von einem farbigen Ring eingefasst. Ich spüre das Gewicht jedes einzelnen Vogels, sie wiegen gar nichts im Vergleich zu meiner Hand; ich erinnere mich auch an die Wärme des Vogelkörpers und dass da, hält man einen Vogel in der Hand, eine Feuchtigkeit spürbar wird – sie geht in die Erinnerung ein –, weil auch die Vögel schwitzen.

Neulich las ich es sogar in einem Artikel über einen Hirsch, der, aus Gründen, die sein Geheimnis bleiben werden, seit Monaten in Symbiose mit einer Kuhherde lebt (möglicherweise waren es aber auch Pferde). In der Zeitung fragte der Text auf den Hirsch bezogen »Was treibt ihn an?«. In der Tradition rhetorischer Moden ist diese blöde Frage en vogue. Ich frage mich, seit wann das offen ausgesprochen interessant wurde, zur Frage, was sie, es, ihn antreibt. Eine in Anführungszeichen gesetzte Eingabe bei Google »Was treibt ihn an?« ergibt erstaunlich wenige, nur ein paar hundert Treffer für deutsche Webseiten. Auf Onlineveröffentlichungen bezogen, taucht die Frage vor vier Jahren zum ersten Mal auf, der Einsatz häuft sich seit vorletztem Jahr und verbreitet sich da bereits aus den Zeitungen und Zeitschriften in die Verlautbarungen von Gemeindeverbänden, Feuerwehrvereinen und Bäckereien. Auf ähnliche Weise interessiert mich, wann zum ersten Mal Apfelschorle bestellt wurde in Deutschland. Das muss in den späten Achtzigerjahren gewesen sein, in den Neunzigerjahren war die Bestellung bereits zu einem no brainer etabliert. Apfelschorle hat in der englischsprachigen Wikipedia einen eigenen Eintrag, der sie als typisch deutsches Getränk erklärt. (Und angeblich bestellen die Österreicher dann eine Chrissy – aber hieß die Apfelsaftschorle in Ö nicht Obi g’spritzt? Ganz sicher bin ich mir auch nicht, ich war länger schon nicht mehr in Österreich, kann mich aber noch an das Kracherl erinnern, durch dessen Bestellung man eine Aprikosenlimonade erhielt, die stark prickelnd schmeckte und auch ansonsten köstlich war.)

Vögel, Geräusche machend im Efeu bei Regen, Vögel umherhüpfend auf dem nassen Rasen, Vögel bei Wind. Äugelnd. In die Kamera, mir entgegen, ins Offene, ins Nichts. Vögel in der Hand des Menschen, der ihnen Ringe anlegt ans Fußgelenk. Milliarden von Vögeln, Millionen von Arten. Was treibt sie an?

1.3.

»Müllrose ist ein ruhiger Ort in Brandenburg.« So fangen Texte an, zugleich komme ich, gleich wie schlimm das ist, was sich dort zugetragen hat, nicht über den Ortsnamen hinweg. Gehört also verboten. Ist, wie es in der Neuen Zürcher heißt, eine Sauglatterei.

Beim Nachtessen fiel mir dann endlich ein, endlich, weil ich seit nun schon 15 Monaten darüber nachdenke, wie ich den grundlegenden Fehler des Tagebuchs beheben kann (der ja ein konzeptioneller ist und ein Problem der Perspektive beinhaltet). Ich war spät dran. Das war, nicht oft, aber meines Dafürhaltens zu oft passiert: Aufgrund oder wegen alltäglicher Probleme aus dem Reich der Realität war mir die von mir dafür zugeteilte Zeit des Schreibens am Morgen nicht zur Verfügung gestellt. Im sogenannten Hinterkopf mahnend, fürchtete ich den Fluch des ungepflegten Blogs. Analog dazu, noch aus der Zeit vor den Blogs, die berüchtigte »Serie in loser Folge« – mir schon immer ein Grauen, eine Notlösung, wenn auf einer oder zwei Seiten, die unverhofft frei geblieben waren, nichts anderes mehr stattfinden konnte (oder man hatte die Tragfähigkeit eines Seriengedankens nicht weit genug bedacht).

Mir war die eingehende Formel des »Gestern war dies, das« schon längst als zu starr und wie vorgegeben erschienen. Sie drängte sich scheinbar auf und schränkte mich vielleicht sogar ein. Warum also nicht, der Spalt zwischen dem ungewohnt kurzen Februar und dem traditionell die Tage zählenden März bot sich dafür wie naturgemäß an, von vornherein aus einem Gestern berichten? Und so, das dachte ich (gestern): den einen Tag überspringend, von vorneherein gleich aus der Retrospektive beschrieben, so, als ob es bereits heute war?

Der Eintrag zum ersten Dritten erscheint von daher am zweiten Tag des März, technisch, sozusagen, beschreibt aber mein Erlebnis vom ersten, so als ob der erst heute war. Klar, das lässt die Bezifferung der Einträge über die Jahre, und das zunehmend, abstrakt erscheinen. Als ich vor einem Jahr um diese Zeit beschlossen haben wollte, dass ein Jahr von nun an am Ostersonntag beginnen würde, war das schon ein Schritt in diese Richtung, aber das perspektivische Problem hatte ich damit noch nicht gelöst. Was es brauchte, war die Verschiebung innerhalb der dem Tagebuch inhärenten Einheit, in der Zählung der Tage selbst. Auf dass deren Datum fiktiv würde.

Von daher sah ich einen Tannenbaum vor dem Zwiebelfisch, der, bei den Temperaturen kein Wunder, noch immer keine einzige seiner Tannennadeln verloren hatte. Zudem hingen dort heute, zwischen den Resten von rotem Wachs, die Ostereier aus Plastik (und dazwischen klemmten flauschige Küken in Blau). Vor meiner Tür ist seit Neuestem ein Maulwurfshaufen aus Kies. Wenn ich die Tür aufstoße, blubbert es aus dem Inneren des Kegelstumpfes. Ich vermute, es ist dann der Maulwurf selbst, der sich ins Erdreich zurückzieht, ruckhaft. Wie einst von Peter Handke in seiner Langsamen Heimkehr beschrieben. 

Was ist schon Zeit! Ich sah blendend aus.

 

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