»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

21.5.

Von Andreas bekam ich nur den Kopf zu sehen, weil sie die Ruine bereits mit einem Sichtschutz umstellt hatten. Er stand dort auf einer Leiter und hielt eine Zigarette. Im Inneren gingen die Aufräumarbeiten voran. Es war Brandstiftung. Am vergangenen Mittwoch, etwa gegen 21 Uhr hat sich der- oder diejenige in das Gebüsch hinter dem Easy Rider gezwängt, die Tür dort aufgebrochen, das Innere durchsucht, kein Geld gefunden, bloß Lebensmittel und Bier, die Rückwand des Kiosks mit einem mitgebrachten Brandbeschleuniger bespritzt und angezündet. Als das Dach in Flammen stand, riefen die vom Rockertreff schräg gegenüber die Feuerwehr, aber die brauchte dann über eine Stunde, um den verborgenen Imbiss zu finden – obwohl die Feuerwache ja in Sichtweite ein paar Meter abwärts den Hügel hinunter steht. Diese Feuerwehrleute aber, das wurde Andreas erklärt, sind ausschließlich für Verkehrsunfälle auf der ebenfalls benachbarten Autobahn zuständig. Jedenfalls, als die zuständigen Floriansjünger aus Steglitz dann schließlich eintrafen, war vom Easy Rider nicht mehr viel übrig. Makaber, dass an dem vom Ruß geschwärzten Sonnendächlein über der Bedienluke ausgerechnet die Worte »Seit 1954« in hellblauer Handschrift auf gelb lackiertem Grund verschont geblieben sind.

»Ich krieg’ Depressionen«, sagte Andreas. »Ich habe auch wieder angefangen zu rauchen.«

Die Versicherung kann ihm den Schaden nicht ersetzen. Für einen derart alten Kiosk wird lediglich eine sogenannte Restwertversicherung angeboten. Basierend auf einem Zeitwert ausgehend vom Baujahr 1954, vom Prinzip her also wie bei einem Oldtimer, bloß halt dass es keinen Gebrauchtimbissbudenmarkt gibt. Die Polizei rät zur Anzeige gegen Unbekannt, klärt aber im gleichen Zug über die Chance einer Aufklärung dieses Verbrechens auf.

Warum macht jemand so etwas? Die Polizei ist sich sicher, dass es sich um einen erwachsenen Täter handelt. Im jugendlichen Leichtsinn oder im Suff hätte man allenfalls das neben dem Kiosk aufgestellte Sonnenzelt angezündet. Die Vorgehensweise am Easy Rider weist für die Fachleute auf planvolles Handeln hin. Jahrelange Erfahrung im Brandschatzen, wie es heißt.

Warum beschäftigen sich diese Menschen nicht mit etwas schönerem als mit Brandbeschleunigern und der Existenzgrundlage wildfremder Menschen? Endlich ist es Frühling geworden, der Easy Rider stand inmitten von Bäumen mit zartgrünen Blättern. Die Nacht war lau am Mittwoch, es gab viele Sterne zu sehen. Gar nicht weit von dort, auf dem Parkplatz der Jugendherberge blüht der Flieder nicht bloß in den zwei klassischen Fliederfarben. Dort gibt es auch zwei Büsche, die blühen in Weiß (und wenn man ein Messer benutzt, und die Zweige nicht abreißt, kann man sich getrost einen davon mit nach Hause nehmen, auch zwei, man tut einem Gewächs wie dem Flieder damit sogar einen Gefallen in der Blütezeit).

Auf der anderen Seite, am kleinen Platz zwischen Teutonenstraße und Alemannen, kenne ich einen Kastanienbaum, ich will fast behaupten, dass es der Einzige ist in dieser Gegend, der kirschfarbene Blüten hat. Und zwischen Lohengrinstraße und Walhalla wohnt einer, an seiner Klingel steht »Privatdetektiv«. Wo genau, das gebe ich natürlich nicht preis. Wir sind ja schließlich Kollegen auf eine Art.

Um die Ecke, nicht weit davon: ein Bildhauer. Sein Haus sieht nicht danach aus. Es ist ganz niedrig, aber so steht es auf seinem Schild, einem goldenen mit Patina, wie sich das bei einem Bildhauer gehört. Dass die Antifa ihm mit weißer Farbe ihr Flaggensymbol darunter hingesprüht hat, sollte wohl stutzig machen. Bei Gelegenheit schaue ich es nach.

Zum Trost dachte ich, wobei ich ja viel weniger eines Trostes bedürftig war als der geschädigte Wirt, könnte ich mir Holunderblütenpfannkuchen machen. Auf dem Weg zu der Stelle, wo dies Bahndammgemüse jetzt blüht, kam ich im Wald an dem sowohl tatsächlich auf schattiger Lichtung gelegenen als auch obskuren Gelände der DEVA vorbei – einem Schießplatz. Dort treffen sich unter anderem die Interessensgemeinschaft »Jagd und Hund«, einem Rudiment aus der Zeit, als es die Mauer noch gab und Schießen und Jagen eine von den Alliierten genehmigungspflichtige Ausnahmeerlaubnis war, aber eben auch der Polizeisportverein, sowie die sogenannten interessierten Laien und Hobbyschützen von nah und fern. Auf dem umzäunten Gelände kann man sich so einigermaßen frei bewegen, allein, es wird halt nicht so gern gesehen. Das Schießen selbst findet in den seltsamen Gebäuden statt, deren Bauweise wie insgesamt die Anlage selbst auch an eine Gesamtschule aus grauer Vorzeit erinnert. Und so ergibt sich unweigerlich der Eindruck, dass man hier auf dem menschenleeren Hof einer Waldschule umhergeht, während in deren Klassenzimmern gerade einer Amok läuft mit seinen Kumpels, weil es aus den Fluren und durch die geschlossenen Fenster andauernd in Salven knattert und knallt. Vor dem geöffneten Kofferraum eines Wagens standen dann auch drei Greise, aber keine goldenen, sondern solche mit Wutpotenzial, die eine dort aufgebahrte Langwaffe begutachteten. Das machte einen gefährlichen Eindruck auf mich, wirkte zur gleichen Zeit aber auch erheiternd, weil sie alle drei noch ihre Lärmschutzkopfhörer auf die Stirnen geklappt trugen. Von hinten also wie Micky Mäuse im uniform hellblauen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Aber Micky Mouse ist ja auch böse.

Auf dem Gelände der DEVA werden übrigens untertags Waffen getestet. Wusste ich gar nicht. Da kann man mal sehen, wie wenig man von seinen Nachbarn weiß. Ich ging über den Grat heim, der hinter der Bahnbrücke durch das Dickicht führt, wo es die kleinste Bahnsiedlung gibt in der Gegend. Und kam dort gerade dazu, als ein Paar aus Frauen mit schwarzgefärbten Undercutfrisuren und mit Lederjacken an, ihre Emoschwester besuchten, die dort, vielleicht ironisch, in einem der Schrebergartenhäuschen am Fuße des Regionalexpressdammes wohnte anscheinend. Sie riefen »Guten Tag!«, es klang ironisch für mich. Und brachten einen Kuchen mit in einer Tupperkuchentrommel – auch das Ironie? Und auf dem Gartentisch, der noch von den Eltern war, stand eine Thermoskanne in übertrieben kaffeekannenhafter Form.

Trotzdem verspürte ich da ganz unironisch einen Neid oder Schmerz, dass ich nicht dazu eingeladen war, mit ihnen den Kaffee zu trinken und zwei Stücke Kuchen zu vertilgen. Selbst wenn dann die Gespräche eher irgendwie verlaufen wären als hochinteressant.

Aber gleichwie, dachte ich mit meinen Blüten, das Heimweh spürst Du in den Füßen. Dort bleibt es und so trägst Du es mit Dir herum.

Und: Alles lassen die Leute im Wald liegen, wirklich beinahe alles, der Eindruck wirkt nach, wenn man den Wald nach einiger Zeit wieder verlassen hat und durch lichtere Gefilde spaziert. Alles, außer Geld.

20.5.

Eine Spezialwetterlage hatte Deutschland in den letzten Tagen in zwei Klimazonen geteilt. Erst war es im Westen schöner als im Osten, dann im Osten schöner als im Westen. Gestern war der Unterschied dann besonders krass angeblich: Regen und Stürme im einen Teil, der Himmel über Berlin erschien schon beinahe grau vor lauter Licht bei über 30° Grad.

Spät am Abend ließ ich die Erschöpften zurück und stieg am Nikolassee aus der Bahn. Schon die Fahrt über hatte ich an vergnügliche Dinge gedacht, vor allem doch an diese Schnecke namens Jeremy, die nun als Shellebrity Snail angeredet werden will, beziehungsweise angetwittert, denn sie besitzt einen eigenen Account. Wenn das alle Schnecken so hielten, würde die Welt wohl kaum zu einem besseren Ort, auch Twitter nicht, aber zu einem anderen – so wie man ja Personen, die sich im Gesicht plastisch haben operieren lassen, nicht wirklich attestieren wollte, dass sie nun jünger aussehen. Aber anders, das schon. Ganz eindeutig sogar sehen sie anders aus. Irgendwie.

Na ja und Shellebrity Snail, die Schnecke, die einst noch Jeremy genannt wurde, bevor der Guardian, bevor Le Monde und die Frankfurter Allgemeine Zeitung über sie berichtet haben, das zweihäusige Wesen mit dem falsch herum gedrehten Häuschen aus Kalk auf dem Rücken (es gibt davon nur sehr wenige; Missbildung sollte man es aber nicht nennen!) twittert ja nicht selbst, versteht sich, sondern der Wissenschaftler, der diese einsamste Schnecke unserer Tage erforscht.

Gerade als ich mir überlegte, ob ich das so schreiben könnte, dass Schnecken an sich ja wie gemacht sind für die Bedienung eines Touch Displays, beziehungsweise war es ja umgekehrt, stand ich an der vertrauten Biegung des kleinen Waldweges, der auf das Strandbad zu führte und ich spürte, dass etwas Schlimmes geschehen war. Gespür in einem animalischen Sinne. Wie Tiere, die unruhig werden auf der Weide kurz vor dem Eintritt der Sonnenfinsternis.

Dann, nach den beiden Langnese-Schildern konnte ich es zuerst sehen, dann riechen: Der Easy Rider war abgebrannt.

Das musste sich vor wenigen Tagen zugetragen haben. Ich war ewig schon nicht mehr dort gewesen, weil es in diesem Jahr mit dem guten Wetter so lange gedauert hatte. Die Außenwände standen noch so einigermaßen. Aber alles, was einst noch rot oder gelb lackiert gewesen, war jetzt schwarz. Nicht kohlrabenschwarz, kein bisschen mehr Glanz, holzkohlenschwarz. Paul-McCarthy-schwarz. Vorbeischwarz.

Andreas, der Wirt, nicht da. Hinter dem Kohlenkasten (auf dem schwarzen Dach stand ein Liegestuhl, der Plastikkürbis auf dem Schornstein zwar rußig, aber auch noch orange) ein Paar, die Ruine untersuchend. Wie es bei Peter Handke heißt: »Kalt wie auf einer Brandstätte«. Unaufhörlich strömen die vom Strandbad Heimkehrenden an der Brandstätte vorbei. Einer, die Sonnenbrille schief über der Nase, deutet mit dem Finger auf die Brandstätte und schreit: »So eine Scheiße!«

Wohl wahr. Dann lange nichts.

Traurig, dass ich mir nicht einmal die Telefonnummer von Andreas aufgeschrieben hatte. Irgendwann im letzten Sommer, als wir uns mehrmals in der Woche gesehen hatten. Er hat mir die alten Zeitungen aus der Sammlung seines Vaters geschenkt, wir haben gemeinsam den Raub des Buddhas erlebt, es gab die Sache mit der englischen Querflöte. Im vergangenen April, der um einiges wärmer und trockener gewesen war, hatte ihm eine Familie ein Übernahmeangebot für den Kiosk gemacht. Ablöse 150.000 Euro. Andreas hat abgelehnt. Weil er mit dem Kiosk, mit dem Verkauf von Speisen und Getränken in den wenigen warmen Monaten genug Geld machen konnte, um damit seine immerhin vierköpfige Familie zu erhalten. Am einzig schönen Tag im April dieses Jahres hatten wir kurz gesprochen, da hatte er gerade den Pachtvertrag für einen kleinen Garten unterschrieben. Die Wurstqualität war übrigens 1A. Die Speisekarte, die wir zu Beginn des Sommers 2016 zum ersten Mal in der jahrzehntelangen Geschichte des Hauses Easy Rider in zwei Sprachen abgefasst hatten, war bis auf die unvermeidliche Novität Süßkartoffelfritten erfreulich konservativ. Die Übernehmerfamilie hatte Expansionspläne hinsichtlich Grillhähnchenstation, Döner und freistehendem Pizzaofen neapolitanischer Bauweise. Andreas hatte einmal, im Überschwang seiner gastronomischen Ambitionen, mit einem Lavasteingrill experimentiert. Kostete damals noch über eintausend Euro in der Anschaffung. Gibt es mittlerweile bei Tchibo. Die Steaks wollte aber damals schon kein Mensch.

Die Stammkundschaft des Easy Rider, zu denen ich mich auch nach dem intensiv dort verbrachten Sommer 2016 nicht zählen will, setzt sich freilich zusammen aus greis’ gewordenen Motorradrockern aus der first wave der Hell’s Angels, dem örtlichen Bestatter, der sich aber zur Ruhe gesetzt hatte, dem pensionierten Polizeiwachtmeister, einem irren Schwätzer, der auf einem winzigen Telefon herumtippt und recht viele Telefonnummern auf einem laminierten oder vakuumierten Din-A4-Blatt mit sich führt, einigen Ehefrauen, die zwar eindeutig zuordenbar waren, jedoch mit ebenfalls blass bleibenden Ehemännern auftauchten, von denen ab und an einer auch wegblieb, weil er entweder operiert werden musste, oder verstorben war. Der Easy Rider war zur Hälfte immer auch ein Speisesaal auf dem sich verjüngenden Vorhof zum Pflegeheim. Und dazu reichlich sogenannte Laufkundschaft, die entweder zum Strandbad hinstrebten (noch nüchtern, zumindest so einigermaßen), oder vom Strandbad weg (voll).

Andreas, Held, Koch, Konditor ja eigentlich, Buddhist (angeblich, aber ich habe ihn gleich bei unserem ersten Gespräch widerlegt; er nahms gelassen – also doch!), großer Sänger, ein Fels. Na gut, es reicht jetzt. Er wird es überlebt haben. Von daher soll es keine Grabrede werden. Bis bald.

Zu Hause war es still und bald dunkel. Applaudierende im Nachbargarten. Dann kam der Sturm.

19.5.

Lauschig

Flauschig, sehr vermutlich mit dem Wort verwandt, ist die Nacht,
wenn ich bei geöffneten Fenstern liegen kann.

Die Stille ist weit,
sie schläfert ein,
sie führt mich in die Wälder.

Es klingt schon wie von ganz weit her,
wenn dem Nachbarn beim Reintragen das Tablett runterfällt.
Dann wieder still,
bis auf den sehnsüchtigen Vogel.

Auf der Vilbeler Landstraß’ gibts eine gleichnamige Bar.

Ich würde Tender is the Night mit Lauschig ist die Nacht übersetz’.

18.5.

Gleich hinter dem toten Gleis am Bahnhof Zehlendorf stehen die Flieder dicht an dicht. Und in den Lücken dieser naturbelassenen Hecke, die wuchert und blüht wie es ihr gefällt, zeigen sich die Dächer der Gartensiedlung, die reicht anscheinend bis zum Horizont. Die Dächer niedrig, die Hecken hoch. Kaum Fahnenmasten. In anderen Gartensiedlungen, zum Beispiel in Griesheim, gibt es davon mehr. Ich sah dies alles im Vorüberfahren aus meinem Fenster. Die Frau mir gegenüber las in dem Roman One Day. Ich war dann extra aufgestanden, als sich der Zug in die ewig lange, sanfte Kurve vor der Haltestelle Schlachtensee begab auf seiner Bahn.

Der Abendhimmel: blau und hoch, wie senkrecht aufgespannt im eigenen lauen Wind vor einem Licht, das es nur im Sommer gibt. Ein Wisch am Himmel, hell, wie vergessen. Oder wie absichtlich, dann aber ungeschickt plaziert.

Ganz lange fliederfarbene Querstreifen über dem Wald am anderen Ufer. Das Wasser wellte sich seidig, sah aus wie ein Bildschirmschoner. Im Geiste ging ich den langen Weg zurück durch die warme, lebendig gewordene Stadt mit den Menschen und den Bratdüften aus den offenen Fenstern und Türen bis zu dem ersten Bild meines Tages, als ich im Park vor dem von Raupen mit einem Gespinst überzogenen Baumgerippe stehengeblieben war. Sie hatten ihm zunächst sämtliche Blätter abgefressen, im zweiten Schritt (die haben ja viele Beinchen) dann die Äste und den Stamm in ihre Fäden eingesponnen, alles mit jenem Gewebe überzogen, dessen Material sie durch die Vertilgung der Blätter des Baumes gewonnen hatten, um schließlich, im letzten Schritt, dann sich selbst in Kokons verpackt an diesem von ihnen zu diesem Zweck vorbereiteten Wirtsbaum aufzuhängen. Als ich davor stand, hingen sie schon alle dran wie an einer Art Kettenkarrusell. Es war früh am Morgen und recht warm. Wenn alles gut ging, wie von den Schmetterlingen vorgesehen, würden sie in wenigen Wochen aus den Kokons schlüpfen können. 

An die Gründer, die Raupen, an den Baum würde sich niemand erinnern. Schwundstufen der Schmetterlingsgesellschaft. 

First walk, then fly.

16.5.

Noch schöner als hier ist es zu dieser Zeit nur noch in Baden-Württemberg, vor allem genau dort, im lieblich geschwungenen Strohgäu, wo ich aufgewachsen bin. Es ist jetzt ja die Zeit der Apfelblüte. »Unsere Obstkultur ist seit vielen Jahren durch ihre Ausdehnung berühmt und unsere Obstwälder, welche die Städte und Ortschaften umgeben, unsere Obstalleen, welche die Landschaften durchziehen und sie so malerisch machen, werden von allen Fremden, besonders von den Besuchern aus dem Norden Deutschlands, mit Bewunderung und Freude betrachtet.«, heißt es in einer Festschrift aus dem Jahr 1871*. 

Diese Obstwälder und Alleen, vor allem aber die in mehr oder weniger gradlinigen Reihen die Hügel hinauf und hinunter wachsenden Blütenbäusche, gibt es dort zwar immer noch, aber sie bestimmen das Bild heute nicht mehr in dem Maße, wie damals, als ich dort noch durch die Gegend gefahren wurde und später auch selbst mal am Steuer saß. Das Schnellstraßensystem hat sich enorm entwickelt. Um jeden Ort, und selbst die kleinsten unter ihnen sind mittlerweile schon groß, führt man die Straße in einer Schleife herum, bevor man vor dem Ortsausgang, wo heute eine Ladenscheune von Netto zu stehen hat, in einem Kreisverkehr scheinbar beschleunigt wird, um auf einer landeinwärts führenden Schnellstraße voran sich schleudern zu lassen. Was dann links und rechts an einem vorbeifliegt, enthält diese blühenden Apfelbäume. Sie sind eingegangen als Sprenkel und Saum in die flurbereinigte industrialisierte Landwirtschaft. 

Im Traum, so komme ich überhaupt darauf, ging es noch einmal in einem Bus über Land, an dessen niedriger Decke die mit Apfelblüten beladenen Zweige an den Oberlichtern entlangstreiften, sodass ich von unten her die feinen gelblichen Striche auf den duftenden Blütenblättern erkennen konnte. Scharf wie gestochen. Das Gefühl im Traum war Herrlichkeit. Auch als wir, was es in Wirklichkeit ja gar nicht gibt, unter einem Baum hindurch fuhren wie durch die Puschel einer Waschanlage, bloß halt dass dieser Baum über und über mit den Dolden von Holunderblüten vollhing (und damit segnete er sämtliche Scheiben des Traumgefährts ringsum).

Eine blitzhafte Nachricht aus der Kindheit, darauf gepfropft ein Wunsch nach Herrlichkeit. Wie in dem Text zur Festschrift von 1871 berichtet wird, hatte der pomologische Verein damals eine Ausstellung mit den 3000 wichtigsten Apfelsorten organisiert. In der Ortschronik meines Heimatsortes Heimerdingen erzählt Otto Schwarz: »Einige gebräuchliche Apfelsorten waren: Rote und blaue Luiken, Fleiner, Postmichel, Bittenfelder, Pratzel- und Holzäpfel«. Ich selbst kann mich noch an das Ernten erinnern von Gewürzluiken, Blutstreiflingen, Schafsnasen und Jakob Fischer. Die Bäume blühen ja nicht bloß schön. Sie treiben aus den Blüten auch zentnerweise Früchte. Das Gemälde Mittagsgebet in der Ernte von Theodor Schütz wirkt vorzeitig, aber noch in den frühen Achtziger Jahren, bevor sich der Palisadenschnitt und die Plantage bei den schwäbischen Obstbauern durchgesetzt hatten, wurde dort so geerntet: Die krummen und hohen Bäume wurden mit langen Leitern umstellt. Die zentnerschwer in den Kronen hängenden Früchte wurden in Körbe gepflückt, die Körbe in Säcke gefüllt, die Säcke auf Anhänger entleert. Die Anhänger abends von Traktoren weggeschleppt. Und in jedem neuen Frühling fangen die Apfelbäume wie von sich aus wieder von vorne an mit dem Blühen.

*Zitiert nach: Eine Württemberger Apfelgeschichte von Bernd Neuner-Duttenhofer

15.5.

Am Nachmittag gingen wir in den China Club. Von der Terrasse dort hat man einen schönen Blick bis hinüber zum Potsdamer Platz. Leider fing es, kaum waren die Kaffeetassen serviert, zu tröpfeln an. Der Kellner, angetan in seiner von Anne Maria Jagdfeld entworfenen Barjacke mit chinoisen Knebelverschlüssen, bedauerte: Bei den Schirmen auf der Terrasse handele es sich um Sonnenschirme, bei Regen würden sie nicht aufgespannt. Also verfügten wir uns in die Bibliothek und saßen dort noch kaum, da fing es aber derart krachend zu plattern an – auf dem Platz unten hasteten die Denkmalstouristen mit über die Köpfe gezogenen Pullovern und Shirts zwischen den von den herabstürzenden Wassermassen glänzend gemachten Betonblöcken herum wie Mäuse im Käsekästchenlabyrinth auf der Suche nach dem Ausgang.

Auf der Fahrt durch das Regierungsviertel, meiner ersten seit einigen Monaten, war mir schockhaft aufgefallen, wie viele exakt gleich aussehende Bauten dort seit meinem letzten Spaziergang durch die Straßen hinter dem Hauptbahnhof entstanden waren. Beziehungsweise, dass es da selbst diese Straßen noch gar nicht gegeben haben konnte, von daher auch nicht diesen Spaziergang, diese öden Straßen waren mit diesen Häusern einfach mitgekommen wie Helmut Lang das einst über seine Mode gesagt hatte, bloß halt, leider, dass diese Häuser nicht schön waren. Der Stil nennt sich Schlitz- und Spaltarchitektur. 

Das Gute am China Club ist freilich, dass man dort seine Ruhe hat. Es ist also in etwa so wie zu Hause, bloß teurer. Und dass einen zu Hause auch keiner sieht, während man wohnt. Aber es hält sich, verglichen mit dem Soho House zum Beispiel, noch in Grenzen. Im Soho House wohnt man von den Fremden umtost. Im China Club kann es gut sein, dass man den Tag über nur ein, zwei Seelen begegnet, die einem das wohnende Dasein bezeugend versichern. 

Köstlich sind allerdings die Nüsse. Das hat sich herumgesprochen und ausnahmsweise stimmt alles, was man sich über die Nüsse im China Club erzählt. Von den Snacks im Soho House weiß man ja eher nichts.

Leider hörte es dann zwar zu regnen auf, aber dann kamen, wir hatten es beinahe schon vergessen, die ersten Notifications von der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen rein. Schlechte News, die SPD hatte versagt. Frau Kraft tritt ab. AfD über 5 Prozent: Es ging immer so weiter. Der Tag war gelaufen. Irgendwie lustlos geworden tranken wir noch etwas Weizenbier, das in extrem kleinen Gläsern serviert wurde, sodass es beim Selfiemachen so aussah, als ob wir zu große Hände bekommen hätten. Eine Gruppe maoistischer Kämpfer aus Beton im Hintergrund (Kunst). 

Tja. Schlimm, wenn man, wie Martin Schulz, sich dann noch nicht einmal mehr besaufen kann. Zumindest konnte ich die frische Bettwäsche aufziehen, die den Duft von Dash, Wind und Sonne verströmte. Im TV sagte Hannelore Kraft einen Satz, der auf »sachgrundlose Befristung« endete. Noch nie gehört. In der Wikipedia hieß der zugehörige Artikel »Befristetes Arbeitsverhältnis«, ich fing zu lesen an, aber es war wie in einem Traum, weder gut, noch alb-: ich scrollte und scrollte, es hörte nie wieder auf.

14.5.

Auf dem Küchentisch steht jetzt ein Strauß von kleinen gelben Blüten, die ich heute früh beim Zeitungholen unter dem Felsenbirnenbaum gebrochen habe. Die Rasenflächen sind in Weiß und Gelb getüpfelt, Gänseblümchen, ganze Felder, ringsum ragen Pusteblumen auf. Das in meinem Aug‘ so liebliche Blühen bedeutet in Wirklichkeit die Verbreitungsoffensive der Arten. Das ist mir zum Glück aber erst dann klar, wenn ich daran denke, also lasse ich es gleich wieder und wähle mit Bedacht eine winzige Vase aus Japan, deren eingekerbte Form etwas von einem Fruchtbarkeitskelch hat – aber subtil natürlich, da von japanischem Väsner geformt – und gebe mich meinen Frühlingsempfindungen hin. Die Fenster stehen offen, die Wäsche trocknet, ich lasse mich anwehen von der herrlichen Duftnote von Dash Color plus Sonne plus Wind. Bei den Nachbarn sind die Großeltern zu Besuch, ein Greis wurde in der Früh schon auf einem Stuhl sitzend in den Garten getragen, wo er mit Blick auf die Verkehrsschifffahrtsszene im Halbschatten verharrt. Seine Ohrmuscheln leuchten freundlich. Er schien mir auf Empfang gestellt.

Teller, die auf einen Holztisch ohne Tischtuch abgestellt werden. Das Wetzen des Bestecks an Besteck.

Am Freitag waren mittags auch plötzlich die Computer verschwunden. Dann die Tische. Nie wieder wird eine Wohnung je wieder so schön sein wie vor dem Hineintragen der Möbel. Aber schon halb ausgeräumt wirkte alles viel größer und weiter, und es könnte hier, so schien es mir, so viel mehr noch möglich gewesen sein. Seltsamer Gedanke, dass diese Räume, in denen sich zuvor eine Praxis befunden hatte, davor eine Wohnung mit immer wieder wechselnden Bewohnern bis in die Zeit vor den Zweiten und den Ersten Weltkrieg noch, nun wieder zu einer Wohnung umgebaut würden. Wie wenig Gedanken man sich selbst macht, wie wenig man weiß, worin man da eigentlich wohnt. Wie so ein Einsiedlerkrebs, der von der Muschel ja auch nicht mehr wissen will, auch kapazitätsmäßig bedingt natürlich, als wie hoch, wie breit, wie tief – beziehungsweise: Passt mein des Schattens bedürftiger Hinterleib hier hinein?

Es gab eine große Flasche Helium und zweihundert Ballons aus silberner Folie, die nach den Silver Clouds von Andy Warhol gestaltet waren. Und so verbrachte ich die Zeit bis zum Eintreffen der Gäste mit dem Aufpusten dieser spiegelnden Kissen und ließ sie eins nach dem anderen an die hohe Decke steigen. Es wurde heller und heller im Raum, die Spiegelkissen fingen das schwindende Licht ein, und bei jedem Windhauch machten sie, aneinander reibend, über die Zimmerdecke treibend, ein kraspelndes Geräusch.

Eine befriedigende Tätigkeit übrigens, wie ich herausfand. Man lässt das Gas in den Ballon, man lässt ihn steigen, schaut ihm nach, nimmt den nächsten. Hätte ich tagelang so vor mich hinmachen können. Irgendwann war freilich die Flasche leer. An den letzten band ich eine Karte aus silbernem Karton mit einer Botschaft, trat ein letztes Mal dort auf den Balkon und überließ ihn den Krähen und der Laune des Abendwinds.

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