»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

12.7.

Im Traum war ich in aller Munde. Man sprach von mir, untereinander, innerhalb einer sich in Bewegung befindlichen Gruppe von Personen, mit denen ich mitging. Man strebte einem Ziel entgegen, wo, als der Pulk zum Stehen gekommen war, angeblich ich betrachtet werden konnte bei dieser Tätigkeit, von der uns bis dahin nur berichtet worden war.

Ich saß dort und flocht aus vielleicht Stroh das Dach eines niedrigen Hauses. Das goldgelbe Material war fein und glänzte wie junger Draht in dem Licht, das so warm leuchtete wie ein Widerschein der untergehenden Sonne auf dem Spiegel eines Sees. Und es schien ebenso flüssig, es rann dem, der angeblich ich sein sollte, von oben herab durch seine flechtenden Finger. Und war es geflochten, schien es erstarrt.

Der duldsame Waldboden, auf dem wir standen, reichte bis über die Klippen, an deren Rand das Haus erbaut worden war. Ob die Lichtung von Kiefern gesäumt war, ob dort Heidelbeeren wuchsen, daran konnte ich mich nicht nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern. Die Frage danach aber, die Suche nach Hinweisen auf diese Details in meiner Erinnerung, wie genau dieses letzte Bild beschaffen war oder eingerichtet, beschäftigt mich intensiver als die Frage nach der geteilten Perspektive. Dass ich, von anderen angesteckt oder transportiert, zu einem Schauplatz gebracht worden war, wo ich mich in Selbstvergessenheit flechtend anschauen konnte. Vom Traum bleibt ein unergründliches Glücksgefühl.

11.7.

Diese regnerischen Wochen sind wie eine neuartige Jahreszeit, mit einem angenehmen Klima, das die Innerlichkeit ermöglicht: ein grüner Winter. Ich sitze gern am offenen Fenster und schaue in den tropfenden oder dampfenden Garten. Ich friere nicht, trotzdem habe ich keine Lust, hinauszugehen, mich unter dem Himmel zu bewegen, wenn sich dort schon die Wolken ineinanderschieben. Ich sehe das aus einer Perspektive wie am Grund eines Sees liegend, es sind große Schiffe, die dort oben treiben.

Im Bett liegen, kühle Himbeerspeise löffeln und sich gegenseitig aus dem Buch mit den Straßenportraits von Hermann Lenz vorlesen: Stuttgart – Geheimnisse einer Stadt. Mit welcher Hingabe er da nur zum Beispiel die gar nicht wechselvolle Geschichte der Markthalle beschreibt (und das einzig spektakuläre Detail, nämlich dass den Marktleuten dort früher die Waren mit einer Spezialstraßenbahn auf Schienen bis in die Halle hinein angeliefert worden waren – letzte Spuren der dafür dorthinein verlegten Schienen findet der Kenner bis heute –, verschweigt). Nicht um Werbung zu betreiben, oder um, wie es leichtfertig hieße, »Denkmäler zu setzen«; die Denkmäler stehen ja bereits, sondern als Liebesdienst.

Da ist er mein Vorbild. Wenn ich, wie am Sonntag, am späten Vormittag aus dem Fenster schaue und auf dem Rasen hat sich eine Gruppe von elf Nebelkrähen niedergelassen, andere Vogelsorten gibt es nicht zu sehen weit und breit. Diese Großen gehen umher und beackern den Rasen. Es waren wenige Minuten, nach denen es aufgehört hatte zu regnen, anscheinend würde es bald wieder losgehen und in dieser trockenen Phase steckten die Regenwürmer ihre Hinter- oder Vorderteile, da sie keine Augen haben, war das nicht entscheidend, an die frische Luft. Die Schnecken, nackte, von denen es in diesem Juli enorm viele gibt, hatten sich aufgemacht, einen Fleck mit ihrer Erfahrung nach noch zarteren Halmen oder noch schattigerem Grün zu erreichen. Jetzt wurden sie allesamt abgeerntet und vertilgt von den Krähen, die mit ihren fingerlangen Schnäbeln die dafür ideal ausgebildeten Gartengeräte besitzen. Wasserscheu sind sie aber trotzdem. Sobald es anfängt zu regnen, verziehen sie sich in die Bäume und warten dort ab.

Es scheint, wenn ich mich an den letzten Sommer zurückerinnere und die entsprechenden Einträge nachlese, ein Juli für Krähen. Krächzen am Morgen, Krächzen zur Nacht. Kurz nach vier in der Früh flattern sie von den Schlafplätzen herunter, um sich zu laut zu streiten. Vielleicht ist es auch kein Streit, vielleicht ist es eine Art Triumphgeheul, ein Besatzergesang, denn der Garten gehört seit geraumer Zeit ihnen, weil kein Mensch dort sitzen will oder Federballspielen, so lange es andauernd regnet (oder auch bloß bewölkt und diesig ist). Am Samstagmittag hatten die Nachbarn schon alles für ein langwieriges Sommerfest vorbereitet. Es gab einen belastenden Soundcheck und ich befürchtete schon, der kostbare Abend und die Nacht könnte uns verhagelt werden durch solche Musik, wie sie bei dem Soundcheck vorgeführt worden war wie ein Folterinstrument. Dann aber, kaum standen die Stühle und waren behusst, fing in den Bäumen das schöne Rauschen an und ein schlanker Kahn mit bleigrauer Unterseite trieb seitwärts heran. Perlgraue Schleier wehten vor der Freilichtbühne im Wind. Aus dem notdürftig bereitgestellten Zelt auf der Terrasse war ein Grummeln zu hören. Grimmiges Gläserklirren. Ansonsten blieb es lauschig. Und wir schliefen sehr lang in der Vorfreude auf einen Tag, an dem man beim besten Willen nicht vor die Tür gehen können würde.

8.7.

Gestern Abend traf ich mich mit Jan vor einem Supermarkt. Er hatte mir vor einiger Zeit schon einen Spaziergang versprochen als Geschenk, jetzt war die Gelegenheit. Damals war ich noch in Cagnes und es schien mir fast unglaublich, dass angeblich erst knapp zwei Wochen vergangen sein sollten, seitdem ich dort gewesen war. Damals schrieb er mir, er könnte mir eine Welt in Charlottenburg zeigen, in der alles anders ist.

Es war Starkregen angesagt worden. Am Himmel hing schon eine dunkelgraue Fläche und vor dem Imbissstübchen auf dem Parkplatz klappten die Betreiber ihren Sonnenschirm ein und umwickelten das Gestell zur Sicherheit mit Dönerfolie. Ein schmaler Weg führte hinter den Supermarkt auf eine Packstation zu und dann entlang des Bahndamms bis auf eine Anhöhe, von der aus wir die Fassaden der Häuser sehen konnten auf der einen Seite, auf der anderen die Haltestelle der S-Bahn und dazwischen, wie aufgespannt von Wohnen links und Fahren rechts, war alles grün und buschig – ein waldiges Tal. Eine Kleingartenkolonie. Aber was für eine. Wie vergessen. Mit krummen Wegen, die auch einmal vor ein Gebüsch führten, vor dem eine Bank stand und es also nicht weiter ging. Mit überwachsenen Schienen einer Kleinbahn, die immer wieder auch freigelegt waren. Mit Obstbäumen. Und nur in einem einizigen Garten waren überhaupt Menschen zu sehen. Sie saßen vor ihrem niedrigen Haus dort, vielleicht aßen sie etwas, das Gebüsch war verwildert. Es war sehr still. Bis auf die Vögel. Vom S-Bahn-Verkehr war hier nichts zu hören. Bald hatten wir einen Teil des Gartens erreicht, der grenzte an die Autobahn. Und dahinter ragte der absurd silberfarbene Block des Messehallengebäudes auf.

Das Vereinsheim, es lag auf einer weiteren Anhöhe, erreichten wir gerade noch rechtzeitig – auch hier nur drei Leute, zwei Hunde und die Wirtin, die im Inneren vor einem riesigen Bildschirm, der Angela Merkels Rede vor den G20 in Hamburg zeigte, Gläser sortierte. Kaum hatten wir unter der Markise Platz genommen, fing es zu regnen an. Man ist ja mittlerweile verwöhnt, was den Regen angeht. Starkregen war das jedenfalls nicht, denn durch den grauen Schleier waren noch immer die Fassaden der Stadt dort unten zu entziffern. Und ich fragte mich, weshalb ich von diesem Garten in all den Jahren nie erfahren hatte. Ich fuhr ja nun wirklich beinahe täglich mit der S-Bahn ganz nah dort vorbei.

Von unten her glich die Markise sozusagen zunhemend einem blau und weiß gestreiften Beutel der mit Hochdruck von Wasser gefüllt wurde. Es knarzte dort schon. Im Inneren drohte der laute Fernseher. Aber ansonsten? Es gibt ja kaum noch gemütlicheres, als bei Starkregen im Juli mit einem Freund unter einer Markise zu sitzen mit Ausblick über üppig grünendes Land mitten in der Stadt. In die man jederzeit zurück könnte. Und dies an einem Ort, für den das schöne Wort verwunschen erfunden wurde. Die Frau neben uns, vielleicht war sie einst Schauspielerin, erzählte uns von ihrem Gefühl, als sie zum ersten Mal die eiserne Pforte, die es damals wohl noch gab, aufgedrückt hatte, und dahinter die Gartenkolonie entdeckte: »Ich dachte, ich bin Alice im Wunderland«.

Nach dem Regen gingen wir heim auf gewundenen Wegen. Bald stieg nebliger Dampf auf zwischen den Hütten. Bäume und Boden schwitzten aus. Und immer wieder, da ist das Einmalige an dieser Anlage, im Hintergrund städtisches, oder auch mal geradezu ein Talblick und dort unten lag die Bahnstation. Mal war es Caracas, das wir dort sahen, mal war es wie dort, wo ich aufgewachsen war. Mittendrin auch eine Brücke aus verrostetem Eisen quer über ein vom Efeu erobertes Tal.

Und kaum steht man wieder auf der Straße, mit den Häusern im Rücken, und vor sich hat man nun eine nichtssagende Garagenwand, in der sich die kleine Pforte befindet, kann man es wirklich nicht glauben, dass auf derart wenig Land sich eine reichhaltige Welt verbirgt. Aber es war so: Hier drüben sieht man das Messegebäude, dort verläuft die Autobahn, das ist die Lautsprecherstimme vom Bahnsteig her.

7.7.

Joachim Meisner, der Kardinal, war angeblich im Sitzen gestorben, mit dem Gebetbuch in der Hand, also quasi lesend, behauptete Adson. In unserem Disput war es ursprünglich um das Aussterben meines Vornamens gegangen und um den von Joachim Lottmann, den wir beinahe zufällig vor dem Lokal in der Uferstraße getroffen hatten, in dem die von Anne und Holm Friebe veranstaltete Talkshow Nun – Die Kunst der Stunde anberaumt worden war – und das nicht zum ersten Mal. Also keine Premiere, aber wieder war es so voll, dass wir gezwungenermaßen durch weit geöffnete Fenster vor dem Gebäude stehend in den mit zahlendem Publikum gefüllten Raum hineinlauschten und ab und an auch schauten. Wobei, das fiel dem Novizen freilich nicht so stark auf, das Geschehen dort auf der niedrigen Bühne vergleichweise unspektakulär geworden war. Verglichen mit dem Premierenabend vor allem, als Holm selbst dort in einem schwarzen Morphsuit aufgetreten war.  Jetzt gab er, der bei den Zukunftsforschern Horx und Urch das Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, den Routinier. Joachim Lottmann gefiel das sehr gut. Vor allem wohl, weil das alles gut zu seinem allerneuesten Textvorhaben passte, einem Roman, der vom Stillstand unserer Tage erzählen würde. Der Titel stand schon fest: Die Welt von Gestern. Es gab da wohl tatsächlich auch eine leibhaftige Begegnung von ihm mit dem Sterbezimmer von Stefan Zweig und von dort aus, durch die weit geöffneten Fenster des Sterbezimmers von Stefan Zweig, würde sich die Erzählung dann entrollen bis in unsere Gegenwart und somit auch vor dieses weit geöffnete Fenster des Lokals mit dem Namen Dujardin.

Ich war mit meinen Gedanken wie immer weit weg. Nämlich eben dort: in Gedanken. Beispielsweise fragte ich mich, wie Lottmann sich das alles merken konnte, was an diesem Abend erzählt und auch bloß geredet wurde. Es würde sich ja einst in Der Welt von Gestern wiederfinden. Dabei machte er sich offenbar niemals Notizen. Ein Gedächtniskünstler? Oder, schauderhafte Vorstellung: fing er wie manisch an zu notieren, sobald er außer Sichtweite war – ein noch schlimmeres Heimlich wohl, als hinter vorgehaltener Hand; sitzend in seinem Wartburg bei ausgeschalteter Kabinenbeleuchtung. Und dann lange ausatmend bis er den Zündschlüssel umdrehte.

Für Adson, den Novizen, war es die erste Begegnung mit Joachim Lottmann gewesen. Als drin auf einer Leinwand ein bis dato unbekanntes Bild projeziert wurde vom auf seiner Mitte gespaltenen Hochbunker im Volkspark Friedrichshain, dessen Ruine heute von einem überwachsenen Schuttberg verborgen wird, machte er davon eine Aufnahme mit seinem Telefon. Ein aus Friesland stammender Künstler mit dem Vornamen Menno mischte sich ein und so entstand dann das Gespräch über Vornamen, weil es jetzt außer Gauck, Lottmann, Sauer und Bublath nur noch mich gab mit dem Namen vom Großvater Christi. Früher war ich weit und breit der einzige Joachim gewesen. Schon als Kind hatte ich mich deshalb wie ein Greis gefühlt.

5.7.

Der Mond stand neben dem Fernsehturm, so als sei er ein Trabant der silbernen Kugel. Kleine Wolken hatten sich darum geschart. Der übrige Himmel schien blau und leer. Es war kurz nach 18 Uhr.

Adson von Melk, Novize der Modewoche, hatte mich vom Hotel Adlon, das sein zwanzigstes Firmenjubiläum seit der Wiedereröffnung mit einer Modenschau von Anja Gockel, einer Pfälzerin, gefeiert hatte, bis hierher, auf die von frühabendlichen Sonnenstrahlen beschienenen Terrassenplätze vor dem mythischen St. Oberholz, begleitet. In wenigen Minuten würden wir zur Präsentation von Herbert Grönemeyers T-Shirt-Kollektion aufbrechen, und wie es sich für einen mythischen Ort gehört, tauchte gerade in dem Augenblick, als ich dem Novizen die essentiellen Informationen zur Person des Gründers Ansgar Oberholz sowie freilich auch zur Geschichte des Hauses – dass sich in den Räumen ursprünglich ein Burger King befunden hatte et cetera – in freier, launig gestalteter Rede diktierte, stand eben dieser, Ansgar Oberholz selbst, vor uns und hieß uns dort willkommen. Er trug einen schwarzen Fischerhut, an dessen Seite er ein A aus silbernen Lochnieten zeigte. Wir hatten uns, seitdem ich an den See hinaus gezogen war, nicht mehr gesehen. Er war im vergangenen Jahr erneut Vater geworden, sein Lokal hatte sich farbthematisch etwas verändert, aber noch immer saßen dort dicht an dicht die Surfer und Entrepreneure an ihren Laptops. Nebeneinander aufgereiht, aber wie träumend: ein jeder für sich.

Wir sprachen über die Seelenhaftigkeit von Twitter. Dass es unmöglich ist zu erklären, was man dort erlebt, obwohl einem, sobald man dort wieder eintaucht, klar ist, dass man etwas erlebt. Aber was, das entzieht sich der Vermittelbarkeit. Merkwürdigerweise. Ein Zwiegespräch, das uns bis zur Ankunft bei dem temporären Laden für die T-Shirts von Herbert Grönemeyer in Atem halten sollte. An dem kleinen Platz vor der Einmündung zur Weinmeisterstraße saßen die Essenden zu Hunderten auf kippeligen Plastikstühlen, die dafür aus Thailand importiert worden waren. Zusammen mit den originalgetreuen Plastiktischen aß man hier nicht nur wie auf einem Nachtmarkt in einem subtropischen Entwicklungsland, man saß auch so.

In der Mode, führte ich aus, und der Novize machte sich Notizen in einer App auf seinem Telefon, einem älteren Modell von Samsung, ist es nicht immer möglich, so andauernd etwas Neues zu präsentieren, wie es der sogenannte Kollektionsrhythmus zu den Modewochen vorgibt. In Paris beispielsweise, wo zur Stunde die Haute Couture gezeigt wurde, war es an diesem Tag wohl um den Farbton Grau gegangen (dies hatte uns eine bayerische Bloggerin berichtet, die selbst wiederum in einem Polohemd mit aufgestickten Logos der Supermarktkette Lidl gekleidet war; darauf hatten wir sie angesprochen. Und es stellte sich heraus, dass dieses Polohemd tatsächliche Berufskleidung für die Angestellten von Lidl war. Die Bloggerin verfolgte durch das zweckentfremdende Tragen von Berufskleidung ein journalistisches Projekt. Am nächsten Tag stünde Ikea an, am Tag darauf Foodora usf.) An der Bar von Herbert Grönemeyer gab es zwar keine grauen T-Shirts, aber dafür einen neuartigen Drink aus Gurkensaft und Gin, der mit einem Dillsträußchen verziert wurde. Und Christ Stricker trägt ihr Haar neuerdings mit Indigo gefärbt. Im schattigen Hinterhof relaxte Herbert Grönemeyer. Sein Händedruck war angenehm fest, dabei trocken und warm.

Es würde Regen geben, erklärte ich jetzt Adson von Melk, da am Himmel sich ein Vlies von Wolkenfasern gebildet hatte, für das ich, obwohl ich den Anblick dieses Phänomens liebe, noch immer keinen Fachbegriff wusste. Es sieht dann so aus, wie die Gewelltheit des Sandes in der Sahara kurz vor Sonnenuntergang. Bloß halt aus Wolken und in weiß, dann aprikosenfarben, dann hellgrau auf zunehmend dunkelblauem Grund. Sehr gern hätte ich ein Dictionary of Clouds, einen dicken Band aus Wolkenbildern, wie das Dictionary of Water von Roni Horn. Gibt es aber nicht.

3.7.

In der Moabiter Kirchstraße, sie mündet auf der einen Seite ans Holsteiner Ufer, auf der anderen Seite öffnet sie sich in einer gedachten Linie dem nicht nur sogenannten Sommergarten von St. Johannis, folgen nicht nur auf ein- und derselben Straßenseite, sondern auch noch in direkter Nachbarschaft drei Cafés aufeinander. Bei den vom Sommergarten aus betrachtet hinteren zweien sind die Stühle und Tische stets besetzt, obwohl die Plätze dort die meiste Zeit über im Schatten liegen. Das erste Café wiederum hat schon ab acht Uhr morgens vollen Sonnenschein, aber dort sitzt kaum je irgendjemand davor. Der Grund dafür ist einfach: Es ist der Kaffee, der hier unglaublich scheußlich schmeckt. Und zwar, ich habe es ausprobiert, über sämtliche Spezialitäten dieses auf Kaffeespezialitäten angeblich sogar spezialisierten Cafés. Woran es liegt, ist so schleierhaft, wie es dem Neuling in der Kirchstraße schleierhaft erscheinen wird, weshalb dort ausgerechnet alle im Schatten Kaffee trinken wollen. Bis er dann auf einem Sonnenstuhl Platz genommen haben wird, um einen Cortado, einen Cappuccino oder, den im Sonnenschein Sitzenden erscheint diese Spezialität ja besonders verlockend: den seltenen Affogato zu sich zu nehmen. Ein Vorhaben, das er zwar nicht direkt bereuen wird, aber je nach Geldbeutel halt schon, denn billig ist es dort ebenfalls nicht; obwohl man das zumindest annehmen wollen würde. Wobei: Der Begriff Spezialität an und für sich bedeutet vielleicht auch noch nicht von vorneherein, dass es sich bei einer Spezialität um etwas Angenehmes handeln muß. Eine Kaffeespezialität darf auch besonders scheußlich schmecken, dann ist das eben das Spezielle daran. Der Barrista dort, ein übrigens extrem freundlicher Mensch, was den Besuch dort noch unangenehmer macht, weil man sich nicht traut, ihm die Meinung zur miserablen Qualität seiner Kaffeespezialitäten ins freundlich lächelnde Gesicht zu offenbaren, verkauft sozusagen den Sonnenschein teuer.

Es ist eine auch ansonsten besondere Straße, an deren hinter der Brücke gelegenem Ende das historische Baumkuchencafé liegt, dann kommt ein kroatisches Grillrestaurant und hinter der S-Bahnstation die im Grünen gelegene Akademie der Künste. Früh am Morgen und in der Mittagszeit dann auch wieder wird die Straße zudem von besonders gekleideten Menschen frequentiert und, weil es jeden Morgen dieselben sind, die hier rauchen und stehen, bevölkert. Die T-Shirts, die sie tragen, sind gut geschnitten, dunkelblau und quer über die Rückenpartien steht in weißen Versalien das Wort Justiz. Ein buzz word zum einen, man will gleich Vetements-Witze machen, aber hier in der Kirchstraße handelt es sich bei den T-Shirts mit Potential um Berufskleidung. Denn in der zierlichen Kirchstraße ist, je nach Betrachtungswinkel, auch noch oder vor allem das große Strafgericht untergebracht. Obwohl es sich bei den auf der Straße cornernden Justiz-T-Shirt-Trägern vorrangig um Frauen handelt, spricht man sie freilich nie an. Es ist ja klar, weshalb sie diese T-Shirts tragen. Es steht ja groß hinten (und etwas dezenter auch auf der Vorderseite über der linken Brusthälfte) drauf. Dort, also unterhalb des dezenteren Justizlogos auf der Vorderseite des T-Shirts ist übrigens noch eine ebenfalls in Weiß, ebenfalls in dieser klaren, supremehaften oder vetementshaften Type in serifenloser Schrift eine fortlaufende Nummer aufgedruckt, die dem gesamten T-Shirt-Konzept den Flair einer limited edition verleiht. Heute, als ich hinschaute, war beispielsweise 100026 eine rauchen mit 100027. So etwas merke ich mir, seltsamerweise. Die Namen der beiden wohl kaum.

Richter muss es freilich auch geben. Man erkennt sie an der weißen Krawatte zum weißen Hemd, so überqueren sie die Schnellstraße, um in die Kirchstraße einzutreten. Den Talar dabei oft lässig über die Schultern gehängt.

2.7.

Ich war schon auf einigen, wenn auch wenigen Trauerfesten eingeladen gewesen. Doch ich nehme an, dass deren Zahl nun doch mit der zunehmenden Anzahl meiner Geburtstage ebenfalls zunehmen wird – »die Einschläge« und so weiter usf.

So dachte ich denn gestern an die Feier zu Ehren von Marc Fischer in dieser Aussegnungshalle in Hamburg: Heiß war es gewesen. Und Gerüchte sirrten durch den Busch: Wer, wo, wann, wieviel von was genommen hatte. Und vor dem Sarg aus Eiche, ohne jegliche Decke, lag ein Blütengesteck in Form des Logos von GQ, gesandt von seiner letzten Redaktion, aus München. Als über die Lautsprecher ein Bossa-Nova-Lied abgespielt wurde, schluchzte links hinter mir Bernd Begemann laut. Und weil niemand es verhindern wollte, hielt Otmar Jenner dann eine Rede; eine von vielen. Deren Inhalt war dyadisch konzipiert, es ging um einen von ihm, Otmar Jenner, als möglich gedachtes Wiedersehen mit dem Toten (Marc Fischer), der in einem Sarg, bekränzt mit dem aus Blumen geformten Logo der Zeitschrift Gentleman’s Quarterly dort zu seinen sogenannten Füßen vor ihm stand oder lag.

Die Übertragung aus dem Dom zu Speyer hat mich gestern so erfasst: also innerlich, so als ob sich da eine Faust um meine Innereien geklammert hätte – die blauen Lichtfinger, die sich entlang der Kathedralbögen empor und so weiter, besonders aber die sogenannten Handlungen der Leute, der Masters of Celebration, jenen mit den roten Käppchen auf: Ich hatte so etwas noch nie gesehen, es nie bezeugt als Protestant, der ich ja nun bin, diese Power of Love by the Church of the Catholics: einmal vor dem Straßburger Münster zur Osterzeit, als sie dort allesamt Grün trugen. Aber bei Kohl waren es dann die Gesänge, die funkelnden Geräte dann. Ich muss unbedingt Jan fragen, der bei seiner Inszenierung der Arabella in Leipzig ja dieses Funkeln der Geräte mir erstmals vorgeführt hatte, ob er, als Katholik, seine Inszenierungsidee eventuell von dieser Aufführung des sogenannten Hochamtes von päpstlichen Gnaden her und so weiter und so fort.

Jedenfalls musste ich weinen. Die Tränen kamen bei mir einfach so. Und als die Kaiserglocke schlug und es, wie es heute ja in der Berichterstattung noch einmal betont worden war, »still blieb«, strömten sie noch minutenlang und nur noch weiterlängs nach.

Ich musste mich, als ich erwachte – nachdem ich wider Erwarten traumlos geschlafen hatte –, zurückziehen in die Obhut der Mutter Fourage. Wo die Hochbeete blühten, die Greise in hellblauen Hemden und kurzgeschnittenem Haar ihr Lachen inwärts lachten; wo sie es verschluckten. Lavendel blühte dort neben der persischstämmigen Rose. Umrahmt von rotfarbigem Sandstein. Weiter vorne stand Kirschlorbeer, Cotoneaster, dazwischen wohl auch Oleander. An den Tannen hingen frisch und grün die Zapfen. Um das Stadion herum, das war der Grund meines Herkommens: die herrlichsten, krummsten, wettergeformtesten Kiefern. Das Europa, von dem Helmut Kohl geträumt haben mag: In den deutschen Vorgärten gab es das schon.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«