»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.8.

Wovon wir reden, wenn wir von Matratzen reden: Kaum hatte ich das iPad ausgewickelt, war es schon wieder defekt. Dieses Mal nicht wegen der Benutzeroberfläche – die neue Glasplatte teilte dem Prozessor meine Wünsche einwandfrei mit – jetzt streikte der sogenannte Home Button, der vor der Einlieferung in die Werkstatt als einziges Teil noch funktioniert hatte. Und der leider auch den Sensor für die Fingerabdruckerkennung enthält. Der Mechatroniker vermutete am Telefon, dass dies mit dem nicht von Apple autorisierten Klebstoff zusammenhängen könnte, der in ihrer Werkstatt für die Reparaturen verwendet wird. Für den Glasplattentausch eines normalgroßen iPads oder iPhones wird kein Klebstoff verwendet. Die Glasplatte des iPad Pro allerdings wird in das Metallgehäuse geklebt. Hierfür steht der von Apple autorisierte Klebstoff zur Verfügung, der allerdings extrem teuer ist. Schon wenige Tropfen schmälern den Gewinn der Werkstatt. Also probiert man es zunächst mit einem Alternativkleber, dessen Einsatz natürlich schlechtere Ergebnisse zur Folge haben kann. Der von Apple verwendete Klebstoff würde jetzt, da mein Gerät sich als defekt erweise, aber eingesetzt, sobald ich es zur Beseitigung des Mangels erneut einliefern würde.

Und immer so weiter, und immer so fort. Ich befinde mich heute im dritten Kreis des Reklamationsverfahrens. Wenn ich bloß von dem Gerät nicht derart abhängig wäre. Jan hat mir einmal erzählt, dass er sich während des legendären großen Stromausfalls in New York aufgehalten hatte. Noch am Tag war ihm endlich eine Lösung eingefallen für ein textliches Problem und er fing an zu schreiben wie beseelt. Als dann die Nacht hereingebrochen war, fiel der Strom aus (angeblich wurden daraufhin ja deutlich mehr Amerikaner gezeugt, erzählen sich die Amerikaner – ein Zusammenhang, der mir nicht einleuchten (sic) will), und er saß da vor seinem Laptop und bald darauf ging dem die Batterie aus. Die Gedanken waren aber noch da. Die Kerze brannte. Que faire! Wie Jan erzählte, hat es dann noch eine Weile gedauert, bis ihm einfiel, dass er ja auch mit der Hand schreiben könnte – mit einem Stift auf Papier.

Na ja, so ungefähr. Gestern gingen wir dann noch ins Literarische Colloquium, wo Ijoma Mangold aus seinem Buch vorlas. Man saß dort am Wasser unten, die Veranstaltung war ausverkauft. Florian Illies führte ein und es passierte ihm das, was ich von mir selbst kenne, wenn ich vor Publikum sprechen soll. Es ist ein fürchterliches Gefühl, die Kehle wird zugeschnürt, bis meine Stimme etwas froschhaft Gequetschtes bekommt. Dazu, innerlich und nur für mich fühlbar: Herzrasen und Sauerstoffmangel. Es ist schlimm, es fühlt sich tödlich an, man glaubt wirklich, wenn das so weitergeht, dass man dann erstickt und dabei schauen einem dann wahlweise 100 bis noch viel mehr Menschen zu. Als es dunkel geworden war, es brannte ein gelbliches Leselämpchen auf dem Podest, gab es reichlich Geschnatter unter den Enten auf dem Steg nebenan. Die um ihre Schlafplätze zankten. Aber derart laut und unverfroren! Und vor Schwanenwerder ließ sich einer im Dunkeln auf Wasserskiern ziehen. Der alte Exzentriker. Wer sich auch nicht um die Literatur schert: Stechmücken. Als ich ging, signierte Ijoma noch immer. Fleischwurst zum Frühstück.

30.8.

Beinahe eine Woche lang musste ich auf das iPad verzichten. So lange dauerte die Reparatur der Glasplatte, über die ich es bedienen kann. Das Unglück war passiert, als die das Gerät umgebende Tasche von einer überraschend betätigten Türklinke abgerutscht und zu Boden gefallen war. So etwas prägt sich ein. Der Stoß des Aufpralls hatte dann, so ließ es sich rekonstruieren, von einer der vier abgerundeten Ecken des Metallgehäuses aus den Glasdeckel tsunamihaft durchfahren, dergestalt, dass von dort aus nur noch Brösel in der einen Ecke über langliederige Splitter auslaufend die gesamte Oberfläche unterteilten. Glatt so, als ob man aus kurzer Distanz in die Eisdecke eines winterlichen Sees gefeuert hätte. Sah freilich wunderschön aus mit dem darunter leuchtenden Bild und dem in Schwarz abgehobenen Netz von Bruchkanten. Das Gerät war damit hin.

Und damit begann für mich ein veritabler Grind, wie er in der deutschen Literaturgeschichte zum letzten Mal von Rainald Goetz dokumentiert worden war, als er sich eine neue Matratze kaufen wollte. So ähnlich also, so langwierig auch, aber auch so anders. Oft musste ich an Spandau Ballet denken, und wie weise die auf ihrer zweiten Platte, die den Knaller True beinhaltet, ein auch sehr schönes Stück aufgenommen hatten, das nicht bloß Communication heißt, sondern auch noch davon handelt – sehr lange vor der Erfindung des Mobiltelefons (im Videoclip wird noch mit an den Restauranttisch servierten Festnetztelefonhörern an weißen Spiralkabeln kommuniziert); noch sehr viel länger vor jener Erfindung, die der Consigliere einst auf einer von Jans Geburtstagsfeiern mit kritischem Blick kritisiert hatte: »Wer denkt sich denn bitte so etwas aus — ein Telefon aus Glas

Nun hat eben diese Erfindung einen Geschäftszweig hervorgetrieben – langweilig wird Marktwirtschaft halt tatsächlich nie –, der sich ausschließlich mit der Reparatur zerbrochener Telefone beschäftigt. Beim Nafri an der Ecke kann man sein iPad Pro allerdings nicht einliefern. Die zwar komfortable, aber halt auch sehr große Glasscheibe wird dort nicht bevorratet. Mein aufhaltsamer Weg führte mich dann schließlich doch nach Kreuzberg, in einen sprichwörtlichen Hinterhof, in dem man früher wahrscheinlich auch schon einmal eine tatsächliche Glaserei (für Fenster und Artverwandtes) vermutet hätte. Im ersten Stock dort stand die Türe offen, weil gerade Limonadenkisten angeliefert wurden. Der Empfangstresen war aus Europaletten gezimmert, über dem Kunstledersofa hing ein großer Schwarzweißausdruck jenes Fotos, das die Pariser Kommune beim Rauchen mit nackten Frauen auf den von Oscar Niemeyer eigens für das Rauchen mit nackten Frauen in der Pariser Kommune entworfenen Sesseln zeigte. An der Tür dieses Etablissements – also an der wirklichen Tür, nicht an der auf dem Foto – hing ein Schild mit dem altvertrauten Logo aus vier bunten Würfelchen. Darunter stand Axel Springer Mediahouse. Vermutlich wurde dort also eine App zum Hundefuttervertrieb programmiert.

Im nächsten Stockwerk Architekten, die braucht man ja auch ständig, und darüber residierte die Werkstatt für gebrochene Telefone aus Glas. Die machen nichts anderes. Und gehören anscheinend auch zum Konzern Axel Springer, denn auf der Wartebank, einem ralphlaurenhaft abgeschabten Sprungkasten aus dem deutschen Turnunterricht, lagen wie absichtslos verstreut ausnahmslos Zeitschriften aus den konzerneigenen Verlagen: die Kunstzeitschrift Blau, die Musikzeitschriften Metal Hammer und Musikexpress, die Modezeitschrift MeStyle und die Bildzeitung Bild. Ansonsten, es ist ja glaube ich nicht so schwierig, Glasplatten auszutauschen, arbeiten dort interessanterweise lauter Männer, die aufgrund ihrer Meniskusprobleme nicht mehr als Radkuriere arbeiten können, aber noch immer so aussehen, auch von den Frisuren her, als könnten sie doch. Auch vom Umgangston her, von ihrem Lingo. Es hat sich also, Stichwort Marktwirtschaft und Spandau Ballet, seit den späten achtziger Jahren über der Klasse der Radkuriere eine vergleichbar freigeistig gesinnte Klasse von Entrepreneuren etablieren können, die sich natürlich noch immer am filmischen Vorbild des klempnernden Anarchen Harry Tuttle orientiert. Fahrradkuriere gibt es immer noch. Mein repariertes iPad wurde mir dann von einem solchen gebracht. Und unterhalb der Radkuriere sprießen die Radler mit dem Thermorucksack von Foodora und was es da an Essensbringdiensten noch so gibt.

26.8.

Landpartie zur Rautenklause in der mythischen Uckermark, um Annes Geburtstag zu feiern. In den deprimierenden Straßendörfern wird ein ganz anderer Wahlkampf geführt. Hier sind es vor allem die Plakate von AfD und NPD, die der Linken Konkurrenz machen. Neulich hatte ich noch in der Zeitung gelesen, die NPD sei gar nicht zugelassen worden zur Wahl, möglicherweise aber doch in der Uckermark; oder die Plakate waren da halt schon an die Laternenpfähle gehängt und jetzt bleiben sie dort als Dekoration. Schön sind sie aber nicht. »Hol’ Dir dein Land zurück!« steht bei der AfD, »Maria statt Scharia« bei der NPD (die Kandidatin heißt so: Maria). In dieser grauen, unverputzten und verbastelten Umgebung wirkt die corporate identity der AfD mit ihrem Himmelblau und dem Logo eines signalroten Bumerangs, der bei genauerem Nachdenken eine Fusion ist aus den Logos des Pauschalreisenveranstalters TUI und des Privatsenders Kabel 1, natürlich bauerfängerisch genial. Das genommene Land, von dem die AfD fabuliert, ist abgeerntet, flach und öde. Hier wird das Stroh noch zu Vierkantballen gepresst – wie früher. Schmetterlinge gibt es auch noch und sämtliche Sorten von Stechmücken, sogar die gemeine Viehbremse – in der Stadt längst eine Rarität.

Auf dem Parkplatz des Supermarktes die üblichen Dramen. Bloß dass die Frauen sich hier die Haare färben und man fragt sich, was die beruflich machen. Hier gibt es ja beinahe nichts. Und was es gibt, macht um 18 Uhr zu. Der Sonnenuntergang über dem spiegelglatten See war freilich sehr schön.

Heute hat meine Mutter Geburtstag. Die Bedeutung des Geburtstages wandelt sich im Laufe des Lebens. Vom Höhepunkt des Kinderjahres zum Anlass, eine Party zu veranstalten zur Gelegenheit, mal wieder einige Freunde an einem Ort wiederzusehen zu einem Tag, an dem man sich freuen darf, noch am Leben zu sein. Allerdings auch angstvoll. Egal wie es laufen wird, die Jahre sind gezählt.

24.8.

Was der Schöneberger Wilhelm Furtwängler über die atonale Musik gesagt hatte, gilt andersherum für meine Liebe zur Kleingartenanlage: »An der Hand des Kleingärtners geht man wie durch eine unvorhersehbare Melodie. Am Wege ziehen die merkwürdigsten Klänge und Töne die Aufmerksamkeit auf sich. Selber aber weiß man nicht, woher man kommt und wohin man geht. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Macht elementaren Seins ergreift den Hörer.« Wir gingen dort gestern Abend durch eine Welt, die sich unter einer Autobahnbrücke entlang des begradigten Spreeufers bis über die Schleusenanlage hinaus und in den Schloßgarten Charlottenburg hinein erstreckt. Und zwar ziemlich lang und schmal, dabei, begünstigt durch den vielen Regen in diesem Sommer, so üppig verwachsen, dass von den Autos auf der Brücke hoch oben so gut wie nichts mehr zu hören war. Von der Melodie dieser Gärten deshalb umso mehr. Oder wie es in den Marmorklippen heißt: »Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die  Bilder lockender hervor. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach.«

Auf einer Lichtung kam uns ein Mädchen entgegen. Die kehrte, kaum dass sie uns erblickt hatte, um und rief ihren hinter einem Gebüsch wartenden Freunden zu: »Da kommen zwei!« Die hatten auf dem Süllrand des Flusses eine Reihe von Senfeimerchen aufgebaut, in denen sie Setzlinge vom Sonnenhut feilboten. Dazu, in einem ausgespülten Honigglas, ein paar Stengel eines Krautes, das uns der Junge als Schokoladenminze verkaufte. Jan kaufte davon drei, ich einen Sonnenhut. An der Pforte eines anderen Grundstücks läutete ich eine kleine Glocke, so wie das angeblich die Buddhisten tun, wenn sie vor die Tür treten, um der Natur ihr Eintreten anzukündigen. Es erschien hier ein freundlicher Mann, der mir ein Glas seines Honigs verkaufte, »Vor zwei Tagen erst abgefüllt«.

Das wurde uns von den Fachleuten, die vor der Tunnelklause tagten, bestätigt. Die Wirtin, die angeblich selbst Bienen hielt, neidete mir das schöne Glas, insbesondere den mit Blütenbildern bedruckten Deckel, den ihr Imkerkollege mir draufgeschraubt hatte. Man saß dort auf Monoblocstühlen und auf gepolsterten Fässern und wenn Frank Castorf dabei gewesen wäre, dann hätte er die Klause originalgetreu nachbauen lassen für seine Inszenierung der Marmorklippen, deren erste Szene vor der Tunnelklause stattfinden müsste, bevor dann die in Basler Fetzentracht verkleideten Maskenträger ihren Auftritt bekämen. Ein fröhlicher Greis, der Willy Millowitsch ähnlich sah, allerdings ohne die Brille, dafür mit doppelt soviel weißem Haar, hatte bereits eine Flasche Doppelkorn intus. Die leere Flasche stand neben ihm auf dem Tisch wie zum Beweis. Das wahre Asset der Tunnelklause aber war der namensgebende Tunnel, der uns dorthin geführt hatte. Er windet sich stollenhaft durch den Pfeiler der Autobahnbrücke hindurch. Betätigt man den im Kraut verborgenen Lichtschalter nicht, wird es nach wenigen Metern stockdunkel. Man ertastet sich den Weg zum Licht – und steht dann endlich doch auf dem Vorplatz der Klause, inmitten der Szenerie. So als ob die auf einen gewartet hätten.

Beim Bezahlen am gelb beleuchteten Tresen wurde mir von einem der dort Stehenden aus einer Schale, gefüllt mit rosafarbenem Schaumgummi, angeboten. Die waren wie hunderte kleiner Pilze geformt. Ich scherzte, ob ich dann nach dem Vertilgen des Pilzchens zu schrumpfen begänne, bis ich in den Kaninchenbau passte? Eine Schlaumeierei, die natürlich unbeantwortet blieb. Und es war, wie gesagt, andersherum.

»Freilich ist nicht zu leugnen, dass hiermit ein bestimmter Ton im Lebensgefühl des modernen Menschen angeschlagen ist.« So Jan, Furtwängler zitierend, und der wiederum, damals, zur atonalen Musik.

23.8.

In der Nähe der Redaktion war ein Friseursalon eröffnet worden, der mein Zutrauen geweckt hatte. Trotz seines Namens, der in Leuchtbuchstaben über dem Eingang befestigt war: One Million. Was sich ohnehin als Abkürzung heraustellte, denn quer über den großzügig bemessenen Blechsockel des Empfangstresens im schattigen Hinterzimmer stand er vollends ausgeschrieben als The House of One Million Hairstyles. Was in Anbetracht der ungefähr in Millionenstärke dort beschäftigten Friseure und deren Frisuren übertrieben wirkte, denn die Frisuren der Friseure dort im Reich der vielen Frisuren waren sämtlich identisch. So wie auch draußen, bei den übrigen Männern in dieser Altersgruppe: Sie zeigten die Frisur ihrer Ära, die Frisur Shahak Shapiras, bloß halt in dunkleren Farben.

Dementsprechend ratlos betastete der mir zugeteilte Friseur dann mein Haar, in dessen seidenzarte Struktur sich kein Scheitel einrasieren lässt. Auch war seit meinem letzten Friseurbesuch im Frühling einige Zeit vergangen. Ich sah also so aus wie Peter Handke, wenn er sich im Wald mal so richtig verspätet hatte.

Aus dem opulenten Soundsystem mit seinen allüberal in den Winkeln des Gründerzeitstucks verborgenen Lautsprechern tönte die Stimme von Haftbefehl, der seinen Text über die Parallelen vortrug. Mein Friseur war eher vom schweigsamen Typ, wie es mir lieb ist. Um ihm zu bedeuten, wie und vor allem wo er zu schneiden hatte, bediente ich mich einer Verständigungstechnik, die mir vom Feuergeben in diesen Kulturen vertraut gemacht worden war: Man reicht dem Habibi die Flamme des Feuerzeugs mitsamt einer die Flamme vor dem Wind bergenden, um die Flamme gekrümmten Fläche der freien Hand, er neigt sich mit seinem papierosy der Flamme zu und klopft dann mit den Fingerspitzen zweimal sacht auf die bergende Hand, wenn er sich an dem geborgten Feuer gütlich getan. Der ganze Vorgang hat wortlos vor sich zu gehen. Eine Geste der Brüderlichkeit, des reinen Gebens und Nehmens. Und so klopfte ich dann auch jeweils zweimal mit den Fingerspitzen auf seine Scherenhand, wenn er meinem Gefühl nach genug abgeschnitten hatte von einer Strähne. Nach einigen Malen, so rasch erreichten wir das Plateau wortloser Verständigung, schnitt er dann ganz in meinem Sinne und bedurfte keiner Korrekturen mehr. Die Haarschneidemaschine, an den übrigen Plätzen surrten die ohne Unterlass, blieb in ihrer Ladestation vor dem Spiegel. Es stehen dort jedem Friseur gleich zwei davon zur Verfügung – eine ist im Betrieb, die andere lädt schon nach – weil die Frisur unserer Ära eine Maschinenfrisur ist.

Danach gönnte ich mir in dem seltsamen chinesischen Restaurant namens Selig das Gericht mit dem Namen Böser Chinese, von dem einem die Kellner dort immer abraten wollen, indem sie ein Schweppes-Gesicht machen, weil es angeblich viel zu scharf ist, was aber nicht stimmt. Man sitzt dort in einem extrem langen, extrem schmalen Gang zur unendlich weit entfernten Küche mit dem Rücken zur Wand und schaut auf lauter gerahmte Bilder von Mao Tse-tung. Dokumentiert sind diverse Momente aus seinem Leben, nichts Großartiges: Mao beim Angeln, Mao beim Warten, Mao trinkt Tee. Der Böse Chinese besteht aus einer Schüssel, in der ein zerhackter Karpfen in einer siegellackfarbenen Brühe schwimmt. Man fischt die Stücke heraus, die Brühe lässt man stehen. Sie schmeckt extrem gut, enthält reichlich Sternanis, weswegen man vom sumpfigen Eigengeschmack des Karpfens nichts mehr mitbekommt. Durch den hohen Anteil diverser Pfeffersorten in der Brühe, fangen einem bald die Lippen an zu prickeln, als hätte man eine seltene Droge genommen. Scharf, aber nie zu scharf, sodass man immer nur weiter schlürfen will, um die hypnotische Wirkung des Gerichts weiter auskosten zu können. Im Prinzip ist es eine kulinarische Interpretation der Lieblingsfoltermethode von Maos letzter Ehefrau, des Lingchi, besser bekannt als der Death by a Thousand Cuts.

22.8.

Perfekte Fahrt durch ein von abendlichem Sonnenlicht gestreicheltes Hessen. Die Natur befindet sich jetzt im Zustand kurz nach dem Höhepunkt. Noch nicht müd’, aber schon maximal durchblutet; das Abschwellen und Einschrumpfen steht jetzt bevor.

Insbesondere mal ein paar Tage in Fulda zu verbringen, wäre vielleicht schön (weil dort über dem Papierwerk die Silhouetten von größeren Vögeln aufgeflogen waren). In Kassel eher nicht. In Göttingen war ich schon, da würde sich nie wieder etwas verändern. Eine komische Strecke. Wenn auch nicht unschön. Um das Millenium herum, als ich für kurze Zeit in München lebte, hatte ich regelmäßig in Göttingen zu tun und Martin Fengel, der mir damals als Fotograf zur Seite stand, schickte mir an einem dieser Wochenenden eine SMS, in der stand »Blöde Strecke, dauernd Tunnel«. Und das war noch in der Zeit vor richtigem Internet und 4G. Aber es ist heute, da uns dies alles zur Verfügung steht, noch immer genau so. Eine Platte der Merricks hatten wir gerade jetzt am Sonntag nach dem Straßenfest wieder und wieder gehört. Friederike hatte die Scheibe im Netz bestellt, nachdem ich ihr vor ein paar Wochen von dem Knüllerhit »Einmal im Leben« erzählt hatte und dass ich die Merricks so gerne mal wieder hören würde generell. Und dann war dieses Lied auf der bestellten Platte noch nicht einmal drauf!!! Und an der Künstlerpersönlichkeit Martin Fengels, der bei den Merricks Klarinette spielte und, wie ich glaube, auch Susaphon, entzündete sich unsere Diskussion, ob es nun besser war, ganz viele Talente zu haben, oder doch lieber nur eins, auf das man sich dann zwangsläufig zu konzentrieren hätte.

Note: Ein Mann kommt rein und wie er erfährt, dass er in Hannover nicht umsteigen kann, bekreuzigt er sich.

Im weiteren Verlauf der Nacht wurde der Zug dann noch umgeleitet aufgrund »von Beeinträchtigungen durch Vandalismus«. Interessanterweise hielten wir dann länger noch in Magdeburg. Als ich daheim am See angelangt war, spürte ich die Feuchtigkeit in der Luft. Es roch nach Herbst.

21.8.

Was dem Berliner Stadtleben seit längerem nur noch in einer aus Nostalgie und Tourismuswerbung gemischter Absicht angedichtet wird, ist in Frankfurt noch von Leben erfüllt - wenn vielleicht auch, wie am vergangenen Wochenende, für ein letztes Mal: Da fand in unserer Wohnstraße das von den Anwohnern veranstaltete Straßenfest statt, das in diesem Jahr unter einem entschiedenen, wenn auch in der Ausführung erfreulich sanftmütig formulierten Motto stand. Nämlich einem Protest gegen die sogenannte Flächenintensivierung des Viertels. Im Zuge derer war der auch von uns ab und an besuchten Müllbar der preiswerte Mietvertrag nicht mehr verlängert worden. In den nach hinten hinaus endlos verwinkelten Räumen wird vermutlich bald schon ein von längst vergessen geglaubten Handwerken, ein von Affineuren, Kleinbrauereien, Rosspflugbauern, Regionalschlachtern und Sauerteigbäckern bestückter Feinkostladen eröffnen. Was, aber das hört man hier freilich nicht gern, auch die Lebensweise der Anwohner heben könnte, denn in der Müllbar, die auch nur an wenigen Abenden im Monat geöffnet hatte, gab es nur Erdnussflips und Bier.

Am Samstagabend wurde dann aber noch einmal gefeiert, wie ich es auch nur aus den Comics von Gerhard Seyfried kannte, wenn dort vom bunten Leben der Anarchisten in Kreuzberg erzählt wurde. Vor dem Eingang zu unserem Haus war eine Hüpfburg aufgebaut, deren Gebläse nervtötend schnaufte, während die Kinder in ihrer Gummizelle herumgewirbelt wurden wie Flummis und dementsprechend quietschten. Für die Erwachsenen, die sich teilweise die Gesichter bemalt hatten, um auf Stelzen umherzugehen, manche Männer dabei als Frauen verkleidet, gab es Stände mit Apfelweinausschank, Bier natürlich, gegrillten Würsten und sogar einen mobilen Dönergrill. Am Ende der Straße war eine Kurmuschel aufgestellt, in der eine Band aus wohl legendären Figuren der Hausbesetzerszene eine interessante Parallelversion der Red Hot Chili Peppers verkörperten. Und zwar traten die ohne einen Bassisten auf, was ja, wenn man sich den Sound der Red Hot Chili Peppers vergegenwärtigt, in etwa den Guns `n Roses ohne Gitarren gleichkäme. Aber gehen tat das. Irgendwie. Den Anhängern dieser Band, die sich teilweise mit einem Kopfputz aus Rettungsfolien und in Regenbogenfarben gebatikten T-Shirts vor der Kurmuschel eingefunden hatten, schien es zu gefallen. Wobei man sich ja leichterdings über die sogenannte alternative Kultur beziehungsweise Kultur von Alternativen lustig machen kann - wenn sie dann erst mal weg ist, beseitigt oder ausgebrannt, fehlt sie halt doch. Ich zumindest fühlte mich auf wärmende Weise an die achtziger Jahre erinnert; an das schöne Lokal namens Casino in Stuttgart, einem Treffpunkt der Bunten Hilfe und an die vielen schönen Begegnungen dort mit den aufgeschlossenen Rastamädchen aus der AntiFa Stuttgart, die mir dort habhaft gemacht worden waren.

Kurz vor Sonnenuntergang entdeckte ich inmitten des Kuddelmuddels einen mit strahlendem Laken bedeckten Tisch, an dem, ich traute zunächst meinen Augen nicht, die Mume präsidierte. Sie erkannte mich gleich und machte mit ihrem vom Henna karottenhaft gefärbten Zeigefinger die international verstandene Geste come hither. Vor ihr auf dem Tisch, der Besitzerstolz war ihr anzusehen, ragte eine frabrikneue Rolle mit Küchenkrepp auf. Im Ständer. Daneben lagen auf mehreren Tellern die mit Spinatcreme gefüllten, mit goldgelben Knusperkrusten verzierten Börekschnecken aufgeschichtet, die sie offenbar selbst gebacken hatte. Zum Zwecke des Verkaufs. Kaum war ich vor ihren Tisch getreten - sie hatte sich für den Abend ein mir bislang unbekanntes Gewand samt Sonderkopftuch übergestreift - trat auch schon ihr ansonsten nichtsnutziger Enkel heran, um mich mit wenigen Worten zum Kauferlebnis zu überreden. Ich schlug klaglos zu. Wurde dann, der in einem Stück Küchenkrepp verpackte Börek war mir da bereits überreicht, von der Mume selbst mit einem bulgarischen Wechselgeldtrick der unbekanntesten Sorte herzhaft übers Ohr gehauen, wie es heißt. Der Börek allerdings schmeckte sehr gut. Beinahe unbezahlbar, von daher glich es sich fast wieder aus.

Wenige Augenblicke später eröffnete eine aus Rumänien stammende Anwohnerin, die kurz zuvor noch die Preispolitik der Mume offen und laut, dabei eine überwiegend mit Goldkronen besetzte Reihe von Vorderzähnen vorzeigend, angezweifelt hatte, auf der gegenüberliegenden Seite der Feierstraße einen Stand mit original rumänischen Grilltellern, die ebenfalls zügigen Absatz fanden. Das Fest schäumte da bereits einem ersten Höhepunkt entgegen. Die bislang vor allem durch ihren Wäscheaufhänge-Grind bekannte Enkelin der Mume schleppte Blech um Blech mit Börekschnecken aus der hinter der Hüpfburg gelegenen Küche der mumischen Wohnung. Die Mume selbst hatte derweil ein Zweitbusiness eröffnet und offerierte in klassischer Pose auf einem über dem Trottoir ausgebreiteten Laken diverse neongelbe und mit Strasseruptionen besetzte High Heels der bulgarischen High-Heel-Manufaktur Muse, sowie einen Stapel jener an den Seiten mit Druckknopfleisten konstruierten Trainingshosen, die im Milieu unter einem unapettitlichen Spitznamen bekannt sind.

So ging es dahin. Einige Spinatschnecken später, unter anderem wurde auch ein rumänischer Grillteller erstanden, an dem insbesondere die hausgemachten Hackwalzen hervorzuheben waren, fing es zu tröpfeln an. Synchron zum Umschwung im Konsumverhalten des Publikums stimmte die Kurmuschel nun die aus Jamaika importierten Reggaeklänge an. Seit uralten Zeiten ist das nun der Sound der Bewegung. Und wird es wohl immer bleiben, solange es die Bewegung noch gibt. Angenehm dumpf, dabei auf beruhigende Weise vorhersehbar und überraschungsfrei wiegte uns ein Frankfurter Peter Tosh mit seinem hessisch gefärbten »Legalize it, don’t criticize it/It’s good for asthma« in den Schlaf.

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