»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

9.8.

Als wir nach drei herrlichen Tagen im Strohgäu nach Frankfurt zurückkamen, war dort die partielle Mondfinsternis wie angekündigt zu sehen und zwar dergestalt, dass der Mond in riesiger Vergrößerung und dazu in sattem Goldgelb knapp über den Dächern Sachsenhausens stand. Die partielle Verdunkelung, ein Streifen des Erdschattens, ließ sich am unteren Rand vielleicht erahnen; der lichte Teil überwältigte doch.

Auf der Untermainbrücke, die von dem Uferabschnitt, der Nizza genannt wird, zum Schaumainkai hinüberführt, hatten sich die Frankfurter zu Hunderten eingefunden, so wie auch am Ufer, das mittlerweile im Dunkeln lag. Ein mit bunten Glühbirnen beleuchtetes Riesenrad drehte sich, dahinter der Kaiserdom – selbst in der Dunkelheit war es für uns deutlich, dass der Bau aus Sandstein bestand. Wie das Kloster Hirsau im Schwarzwald. Durch die Tage im Schwäbischen waren wir für dieses dort überreich vorkommende Material sensibilisiert worden. Es hatte sich ein neuer Rezeptor herausgebildet, ein Sandsteinspürsinn. Und so, wie wir dort auf hier und da aus den Steilhängen herauswachsende Sandsteinadern gedeutet hatten, wie wir das Vorkommen des mal rosenfarbenen, mal gelblich gestromten Materials an den Fassaden der Häuser, in Form von Fensterstürzen und Simsen registriert hatten, fühlten wir uns auch im nächsten Kulturraum darauf geeicht, die Umwelt nach Sandsteinvorkommen abzusuchen. Vielleicht war dies aber auch eine Funktion des aufgefrischten Heimatbewusstseins.

Möglich auch, dass es der seelische Nachklang der herrlichen Tage war, bestimmt tat auch der gelbe Riesenmond sein gewisses Etwas dazu, jedenfalls erschien mir das Feuerwerk als das prächtigste, das ich jemals gesehen hatte. Auch von seiner Dramaturgie her, die, in drei Akte geteilt, ungestüm war und tatsächlich unvorhersehbar. Der letzte Akt wirkte sogar zufällig, wie ein Naturereignis, so als ob da ein Wiedergänger von Hrundi V. Bakshi sich versehentlich auf die falschen Knöpfe zur falschen Zeit gesetzt hätte, um sämtliche noch verbliebenen Ladungen in einem wilden Durcheinander zu zünden. Im Mittelteil aber entstanden auf dem schwarzen Untergrund goldene Strukturen, die ich vor mir nicht anders bezeichnen konnte als Blumen, die aufblühten. Es regnete und bogen sich Schwälle aus goldenen Sternen bis auf das tiefdunkle Wasser des Mains hinab.

Überwältigung. Applaus. Nur kurz war der Gedanke präsent, dass hier ein Lastwagenfahrender, der in die Applaudierenden auf der Brücke rasen wollte, Verheerendes anrichten könnte. Seltsam, dass man mittlerweile so denken kann. Als Kind hatte ich mich beim alljährlichen Feuerwerk auf dem Killesberg vor dem Krachen der Donnerschläge gefürchtet. Die gab es in Frankfurt heuer auch, aber der Donnerschreck wurde mittlerweile vom Massenschreck auf Platz zwei herabgestuft.

5.8.

Adieu, sagte die Blume. Und so bestieg ich am Abend einen ICE, der verblüffend leer sich zeigte. Beim Nachrechnen der veranschlagten Fahrtzeit erschien es mir kurios, womit denn die beinahe sechs Stunden totgeschlagen werden sollten – das reichte ja bei gewöhnlicher Geschwindigkeit bis weit hinter Frankfurt hinaus. Bloß fuhr dieser Intercity-Express halt tatsächlich nur bis Frankfurt, dorthin aber mit einer spürbar gedrosselten Geschwindigkeit, so als hätten wir Passagiere unser Transportvolumen für den noch jungen August bereits aufgebraucht.

Ich war durch die Dokumentation noch ganz im Geiste Martin Margielas, und so fiel mir beim Auftreten der sogenannten Zugchefin, deren schrille Stimme, wie es mir schien, andauernd aus den unabschaltbaren Bordlautsprechern erscholl, die Verbesserungswürdigkeit ihrer Tracht auf. Ihre Waden, auf denen sie stelzte, dazu müsste sie Pumps angezogen bekommen, die wie aus Sauerkraut geflochten waren; oder aus wirklichem Sauerkraut gemacht. Dazu auf dem glasierten Schweinsköpfchen die traditionelle Ratsherrengarnitur aus einem keck aufgesetzten Tomatenviertel mit einem Petersiliensträußchen daran. Oder, aber das wäre dann eben Jean-Paul Gaultier, mit einer trillerpfeifenförmigen Kappe aus Silber (die Schnute als Schild). Ganz gut eigentlich, dass es Berufe gibt, in denen Menschen ihre sadistischen Neigungen zum Beruf machen können: Nach ungefähr zwei Stunden hatte unser Zug Stendal erreicht, um dort an einem verwaisten Bahnsteig für zwanzig Minuten zu verschnaufen. »Zu ihrer eigenen Sicherheit«, so die Stimme der Stelzenden aus dem System, »bleiben die Türen während unseres Aufenthaltes verschlossen.«

Ich las das Buch von Flake, dem Tastenficker von Rammstein, das im S.Fischer-Verlag erscheinen wird. In diesem Text beschreibt er auf dreihundert Seiten einen Auftritt seiner Band in Budapest, sehr detailliert. Seine Beschreibung geht von Song zu Song bis zur letzten Zugabe und es ist von daher vor allem eine extrem detaillierte Beschreibung lebensgefährlicher Experimente in Sachen Pyrotechnik, wie es sie meines Wissens nach noch nicht gegeben hat in der Literaturgeschichte. Von daher ein wichtiges Dokument.

Kurz vor Mitternacht kamen die Türme ins Bild. Und ein beinahe voller Mond leuchtete. Der Aufzug, das hat jetzt neun Monate gedauert, ist repariert und ich betrat so mit zum ersten Mal die Kabine, die bislang versperrt geblieben war mit einem Schild, auf dem die Hausverwaltung die Mieter in unmissverständlichem Ton dazu aufgerufen hatte, von telefonischen Nachfragen »abzusehen«. Die Wände des fahrenden Zimmers sind in einem vergilbendem Weiß lackiert. Dicht an dicht sind dort in die Lackschicht mit Schlüsselecken, Bowiemesserspitzen, teils auch Fingerspitzen, größtenteils unverständliche Botschaften eingraviert – very Margiela. Die einzig sichtbare Verbesserung, neben dem für Fahrstühle nicht unwesentlichen Fakt, dass der nun wieder auf und nieder fährt, ist ein in qualligem Blau leuchtendes Display. Auch diese Idee könnte freilich von Martin Margiela sein.

Am Ende der Dokumentation sagt Axel Keller, ehemals Verkaufsleiter bei MMM, den für mich wesentlichen Satz. Er glaubt auf gar keinen Fall, dass Martin Margiela, wie es heißt, ausgebrannt war. Er glaubt auf gar keinen Fall, dass er die Firma, die seinen Namen trägt, verlassen hat, weil ihm nichts mehr einfiel. Martin ließ seinen Namen zurück wie eine Hülle, für andere darin zu wohnen und damit zu arbeiten, weil »es ihm keine Freude mehr machte, unter den veränderten Arbeitsbedingungen nach dem Verkauf der Firma dort weiterhin kreativ zu sein«. Axel Keller erklärt den Move von Martin Margiela damit, dass sich ein Schöpfer seine Arbeit vor allem für sich selbst interessant und unterhaltend gestalten will. Das schließt eine Tätigkeit, die im Funktionieren, im Abliefernmüssen oder -können besteht freilich aus. Es muss ein Spiel bleiben. Das war auch so bei Helmut Lang. Und beide kann ich sie in ihrer finalen Entscheidung sehr gut verstehen.

4.8.

Mint Film Office hat die Dokumentation über Maison Martin Margiela tatsächlich fertiggestellt. Der Film ist so ganz anders geworden, als ich es erwartet hatte. Nämlich einfach hinreißend. Ergreifend. So kann also Wehmut verfilmt werden. Kyotoesk um den verschwundenen Meister angeordnet, erinnern sich die ehemaligen Mitarbeiter, darunter Lutz Hülle und Patrick Scallion an ihre Zeit im Laborkittel. Es gibt Filmaufnahmen von der von Bakterienstämmen aufgegessenen Kollektion, die im Garten des Museum Boijmans van Beuningen ausgestellt war, während die Schaulustigen sie vom leergeräumten Inneren her durch die Scheiben betrachten konnten. Jenny Meirens, die am 1. Juli starb, ist selbst nicht im Bild, man hört bloß noch ihre Stimme und dazu erscheinen die Untertitel in weißen Buchstaben auf weißem Grund. Auf der Tonspur liegt ein Knistern, so als ob der Film von einer Flohmarktschallplatte abgespielt würde. Und als ich dann später ins Freie kam, meinte ich es noch immer hören zu können. Das Knistern hatte sich über die Geräusche der Stadt gelegt. Bis ich begriffen hatte, dass es die ersten großen Tropfen des Regnens waren, deren Auftreffen auf den warmen Platten des Gehweges ich hörte. Über der Spree standen knallweiße und violette Wolken wie aneinander vorbeifahrend fotografiert. Auf der entgegengesetzten Seite war schon alles grau.

Ich dachte an den Abend mit Iskender und seiner Frau Anna Fasshauer, die sich einen Katalogtext von mir wünscht. Wir hatten über unsere Liebe zum Zeichnen gesprochen. Der am schwersten verkäuflichen Kunst. Sie wollte genau von mir wissen, warum ich Birken zeichne nach der Natur. Und ich erklärte ihr, weil ich ihr aufrichtiges Interesse spüren konnte, mein Hell-Dunkel-Modell.

2.8.

Abends blätterte ich im Vorabzug des Bildbands Xerophile, den der Californische Verlag Hat & Beard nun bald herausbringen würde. Es ist ein Prachtband für die Freunde von Kakteen geworden, wie es ihn bislang noch nicht gegeben hat. Jedenfalls ist mir nichts auch nur annähernd Vergleichbares bekannt. Da ich die Bilder auf dem iPad betrachtete und dabei zudem noch vor einem sagenhaft lohfarbenem Sonnenuntergang am offenstehenden Fenster saß, bekamen diese leuchtenden Bilder von den teils bärtigen, teils gurkenhaft über Geröllfeldern thronenden Gesellen einen zusätzlichen Reiz, sodass ich beinahe schon damit angefangen hätte, die Bilder eines nach dem anderen zu beschreiben, um diese Wirkung auf mich, zu dieser Stunde, festzuhalten.

Doch traf dann eine E-Mail ein von Iskender Yediler, was mich verblüffte, denn zum letzten Mal hatte ich von ihm vor etwa zwanzig Jahren gehört. Damals hatte ich noch eine E-Mail-Adresse bei Compuserve, die aus einer langen Folge von Zahlen bestand, also ungefähr wie eine IBAN mittlerweile. Dazwischen, also zwischen Compuserve und IBAN, hatten wir voneinander nichts mehr gehört. Vergessen hatte ich ihn aber nie. Was auch daran gelegen haben wird, dass wir uns in Bangkok kennengelernt hatten, und damals dort zur Regenzeit, weswegen spektakuläre und schwer zu vergessende Momentaufnahmen sich eingebrannt hatten in mein Gedächtnis (also beispielsweise wie mir durch eine wadentief mit Regenwasser gefüllte Seitengasse die Ratten entgegen geschwommen kamen mit senkrecht in die vom Monsun erfüllte Luft gestreckten Schwänzen, um damit wie mit einem Querruder zu navigieren). Gut, nun würden wir uns also wiedersehen, denn wie so viele andere lebt Yediler, der damals auch vor allem deshalb viel in Bangkok war, weil er ja aufblasbare Skulpturen macht, und die sich dort in Thailand unkomplizierter herstellen ließen als bei uns, jetzt auch in Berlin – regnen tut es hier schließlich auch, und deswegen entschloss ich mich, nach dem Beantworten seiner E-Mail auch dazu, den ungewöhnlich trocken gebliebenen Augustabend noch weiter auszukosten.

Im Nachbarsgarten war, wie an so vielen anderen Abenden auch, ein geselliger Abend anberaumt. Dieses Mal allerdings ohne Discjockey, was ich sozusagen begrüßte (neulich, als es extrem regnete, feierte eine zusammengeballte Gemeinde dort in dem Notzelt unter anderem das Horrorstück Africa von Toto, das ja, im Gegensatz zu anderem Vintagepop wie Year Of The Cat, noch nie gut war, und es dementsprechend auch niemals werden wird), stattdessen lernte ich dort auf der lauschigen Terrasse ein reizendes Ehepaar aus Baden-Württemberg kennen, die sich für ihren Urlaub dort im Literarischen Colloquium eingemietet hatten. War mir gar nicht bekannt, dass man dort als Nichtstipendiat auch wohnen darf. Die Urlauberin sprach mit der mir vertrauten, weil für Schwaben charakteristischen Zurückhaltung, von ihrem Privileg: »Wir sind affin.« Womit eine gemeinsame, in ihrer Ehe kultivierte Hingabe an die Literatur gemeint war. Der weitere Abend verlief dementsprechend, als ich in der von einem veritablen Hofstaat umgebenen Gestalt, die dort hinter einem mächtigen Glas präsidierte, den legendären Jörg Sundermeier erkannte.

1.8.

Die französische Vogue hat eine ganze Ausgabe mit Tieren gestaltet. Alle Leserinnen, die ich bislang darauf ansprechen konnte, finden das doof. Mir hatte im Winter die Beilage vom Purple Institute schon so gut gefallen mit den Vogelbildern von Carsten Höller. Das Lebewesen als Objekt wie bei Pierre Huyghes und Anne Imhof. Zunehmend auch das Intersse für die unter dem Meeresspiegel verbleichenden Korallen. Gestern scrollte ich den Instagram von Olivier Zahm ein paar Jahre nach unten und fand so heraus, dass es wohl dieser Tastemaker war, der den Trend zum Kaktus ausgelöst hatte mit einem veritablen Kakteengrind, der bis heute nicht aufgehört hat, aber mittlerweile fällt das nicht mehr auf, weil jetzt überall Kakteen herumstehen und alle anderen auch Kakteen fotografieren und posten; im Zweifel aber nicht die aus dem Kakteenhaus, sondern halt eine von denen aus dem kuratierten Kakteendepartment im Conceptstore The Store

Von sich aus schön wie ein Kaktus, wie eine Koralle, wie eine Eule. Ein Hase, ein Fuchs, fotografiert auf den Modeseiten wie in einem Garten – und seltsamerweise wirken diese Tiere bekleidet, denn wir kennen sie, zumindest Artgenossen, nackt, von der Verzehrsituation her. 

In der S-Bahn, die tokiomäßig gestopft vorgefahren kam, saß eine Frau und umarmte einen Karton mit einer, laut Aufdruck, batteriebetriebenen Strauchschere der Marke Garden Feelings

Meine Garden Feelings sind das jedenfalls nicht, dort die Sträucher und das Gras mit einer vom 7,2-Volt-und-2,8-Ampère-Lithium-Ionen-Akku getriebenen Elektroschere zu attackieren. Im Garten will ich noch nicht einmal beobachten, ich schaue. Ich lasse das dort auf mich einwirken. Ich zeichne eine Birke nach der Natur. Samt orangefarbenem Abfallkorb am gelben Mast und dem Schild für die Bushaltestelle. 

Im Naturkundemuseum an der Invalidenstraße (!) hier in Berlin gibt es ein Diorama aus der DDR-Zeit, das Thema heißt »Tiere in der Stadt«, darin sieht man ausgestopfte Spatzen sich um den Inhalt eines Abfallkorbes streiten. Und eine struppige Ratte, Tauben natürlich, einen verirrten Fuchs. 

Was Tiere nicht können: wertschätzen 

Insbesondere Formen (Architektur), sprachliche Äußerungen; Sprache an sich
sich selbst
Komplimente, allgemein social fluid, Nettigkeiten: wie junggeblieben der andere ausschaut beispielsweise
Farben
Liebe
Geld

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