»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

V

Die Gänse fliegen nach Sibirien zurück. In einer Pause der Verkehrsgeräusche, im dunklen Himmel über mir und, wie es schien, dort über den Wolken: Quaken und Kreischen. Ich nehme an, sie orientieren sich an den Geräuschen der Vorausfliegenden. Und die Vorausfliegenden achten auf die Geräusche der Schlusslichter – ob die zu leise werden und den Anschluß zu verpassen drohen. Ich erinnere mich an den Herbst: Auch hin nach dem Niederrhein flogen sie nachts. Und an die Zeit vor acht und sieben Jahren als ich in Prenzlauer Berg wohnte und nachts wach wurde vom Dröhnen der Transall-Maschinen. Die flogen, wie es mir schien, knapp über dem First nach Afghanistan.

So viele Geschichten, und trotzdem würde ich Berlin nie als Heimat bezeichnen. Meine Heimat ist das Strohgäu in Baden-Württemberg. Durch meine Heimat werde ich mit dem Dasein verknöpft.

Everything counts

Am Rande des Hansaviertels am Tiergarten steht eine bizarre Skulptur. Vor etwas über einem halben Jahr habe ich sie entdeckt, seitdem bin ich ihr mehrmals pro Woche begegnet, aber gewöhnen konnte ich mich an ihren Anblick so gut wie nicht. Manchmal, nicht immer, aber wenn ich in Gedanken bin und mich innerlich nicht kurz auf die Begegnung vorbereite, durchfährt es mich: »Oh, die Skulpur!«.

Es handelt sich um sogenannte Kunst im öffentlichen Raum. Da gibt es freilich kaum schön anzuschauende Beispiele. Jedenfalls was Kunstwerke aus dem 20. Jahrhundert betrifft. Mir fällt da aus Deutschland eigentlich nur ein Stabile von Alexander Calder vor der Buchhandlung Wittwer in Stuttgart ein, eine Bronze von Henri Moore in Bonn, die Feldkapelle von Peter Zumthor in Mechernich, wobei ich mir da schon gar nicht mehr sicher bin, ob das noch Kunst im öffentlichen Raum sein soll oder schon Architektur. Die beste Kunst im öffentlichen Raum stammt von Fischli & Weiss (aus dem Jahr 1987): ein irritierend maßstabsverkleinertes Bürogebäude mit drei Stockwerken, das weder schön noch hässlich ist, sondern einfach nur verkleinert. Man kann es irgendwo in der Stadt aufstellen, dort fällt es nicht groß auf, aber halt doch und als Passant denkt man über Häuser nach. Es heißt auch so: Haus.

Besagtes Standbild an der Altonaer Straße aber kann nichts als Kunst sein, denn wozu sonst könnten zwei zu einem mannshohen Stapel aufeinander aufgetürmte Würfel aus Beton gut sein, auf deren Oberkante sich eine sehr große, senkrecht und dabei scheinbar aus dem Nichts herabgefahrene Hand mit ihren Fingerspitzen sich an dem obenaufliegenden der beiden Würfel zu schaffen macht dergestalt, dass der sich vermeintlich, aber eben nur vermeintlich, es handelt sich um ein trompe l‘oeuil, im Griff der bronzenen Fingerspitzen (die gesamte Hand besteht aus Bronze) über Eck gedreht zu haben scheint? Und dazu kommt, mich stört es, befindet sich in der ärmellosen Manschette der Hand noch eingelassen eine rechtwinklige Anzeige einer Digitaluhr mit roten Ziffern, die nicht etwa die Fantasieuhrzeit im Staate Utopia anzeigt, nein, dort leuchtet stets die korrekte, deutsche, für den Betrachter an der Hansastraße zutreffende Stunde.

Zeit kommt dann auch zur Rettung dies missratenen Dings. Zeit und Internet. Noch vor wenigen Jahren hätte ich einen extremen Aufwand betreiben müssen, um herauszufinden, was es mit diesem Kunstwerk auf sich hat. Erst hätte ich einen Greis finden müssen, der sich mit Kunst im öffentlichen Raum auskennt, dann einen, der Bescheid weiß über Videoclips aus den achtziger Jahren. Nun weiß all dies der Multigreis: Das Kunstwerk heißt also Hand mit Uhr und stammt aus den siebziger Jahren. Von einem Bildhauer, den man heute nicht mehr kennt. Anscheinend musste er seinen Wirkungskreis auf Westberlin beschränken, kannte dort wohl jemanden im Senat, denn auch der abgrundtief hässliche Brunnen am Breidscheidplatz geht auf sein Konto. Die Hand mit Uhr wurde in den achtziger und neunziger Jahren mit Graffiti besprüht, der Hand wurden die Nägel silbern lackiert, die eingebaute Uhr wurde beschädigt usf. In dem makellosen Zustand, in dem ich sie dann erst entdeckt habe, gibt es sie erst wieder seit wenigen Jahren. Die Skulptur wurde tatsächlich restauriert. Allerdings nicht originalgetreu, denn ursprünglich war der obere der beiden Würfel wohl auch noch mit roten Fliesen umkleidet.

Kunstgeschichtliche Bedeutung erlangt die Skulptur aus meiner Sicht einzig durch die vorletzte Einstellung in dem Videoclip zu Everything Counts. Da sieht man die Musiker von Depeche Mode die Hand mit Uhr umtanzen. Der Himmel über Berlin ist blau. Und in der nächsten Einstellung zeigt die Kamera das Strandbad am Wannsee. Ein Schwenk übers Wasser, am Ufer entlang, da sind viele Bäume. Hier wohne ich.

Das rote Waldvögelein

Kurios, wie ich, wann immer es problematisch zu werden droht, mich auf mein Alter beziehe. Ich bin auch nicht mehr zwanzig, dreißig, vierzig. Und wie ich, sobald es gut geht, vor allem mein Alter vergessen kann.

In der sagenhaft spannend erzählten Geschichte der Koalitionsverhandlungen, aus den letzten Stunden, ist mir ein Satz im Gedächtnis geblieben. Er hat sich eingebrannt. Geschildert wird eine Szene, in der Angela Merkel, nachts, im sechsten Stock der CDU-Zentrale auf den Gängen umhergeht in eine rote Wolldecke gehüllt.

Ich war noch nie dort, im Konrad-Adenauer-Haus. Ich stelle mir die Wände dort auf den Gängen vor mit einem Holz verschalt wie im ICE. Das Notlicht ist an und wirft einen matten, grünlichen Schein auf diese Wände. An dem einen oder anderen Türrahmen steht ein Mann im weißen Hemd und schaut auf das blau leuchtende Viereck seines Telefones. Am Ende des Ganges ist ein Fenster, in der dunklen Scheibe spiegelt die in eine rote Wolldecke gehüllte Gestalt ihr Gesicht.

Könnte ich malen, malte ich das.

Entre nous le déluge

Der Kleiber pfeilt heran und klammert sich im Mauerwerk fest, noch während ich die Futtersäule befülle. Woher er weiß, dass ich das mache? Ich stelle mir die kleinen Vögel als Kurzsichtige vor. Mir ähnlich, aber riechen wird er es nicht können wie ein Hund. In der Borte über dem Schnabel sind bloß zwei winzige Löcher. Noch nie einen witternden Vogel gesehen. Lauschend wohl eher, wenn sie den Kopf schräg legen vielleicht; wenn sie ruckartig herumfahren, zusammenfahren – verständigen tun sie sich, wie Menschen, über Geräusch.

Ob’s stumme Vögel gibt, als Behinderung, ohne Stimmbänder geboren oder halt taub? Jetzt weiß ich jedenfalls wie der Kleiber tönt, wenn er hungrig ist und ihm meine Intervention an seiner Nahrungsquelle zu lange dauert. Er lässt es aus dem nackten Geäst des Kirschenbaums ertönen, in dem er drängelnd umherhüpft, wie ein Mensch nach vier Bier ohne Klo. Es zwitscht, aber schnalzend. Klingt nach der Entsperrmelodie eines BMW. Da um diese Jahreszeit generell wenig gepiepst und gezwitschert wird, lockt sein Geräusch umgehend die Gimpelgang herbei, die stets zu dritt unterwegs ist. Zwei Hennen und ein Hahn, dessen rosenfarbenes Brustschild zu glühen scheint (von daher wirkt er auf mich stolz).

Am anderen Ufer ist ein Saum von vielleicht fünf Metern Breite schon fest gefroren und weiß. War das letztes Jahr (ich glaube, ja), dass ich um diese Zeit auf dem Schlachtensee spazieren gehen konnte, bis mich eine Frau von der anderen Seite quer übers Eis hinweg anbrüllte: »Sind Sie wahnsinnig?« Nicht dass ich wüsste, zumindest brülle ich keine wildfremden Menschen an.

Der Abschnitt nach der kleinen Brücke, ein Kanal bis nach Teltow, auf dem man an wärmeren Morgen gut angeln kann, ist komplett zugefroren und beim Ruderclub spielen drei Hockey. Die Russen werfen das Brot, das sie selbst nicht mehr essen wollen, von der Brücke aus in den Wind. Vor ihnen steht eine Wolke aus Möwen, die danach schnappen, und wer nichts abbekommt, kreischt. Die Russen rufen Russisches. Unten, bei ihrem Zeltplatz, hängt eine Jeanshose steifgefroren im Wind.

Das Gute am Reichtum in Deutschland ist vielleicht auch, dass es für Tiere eigens Futter gibt in Läden, die darauf spezialisiert sind, Tierfutter zu verkaufen. In ärmeren Gesellschaften, die ich kennengelernt habe, ist das Tierfutter und das Essen der Armen dasselbe. Was bedeutet, dass die Tiere sehr viel Glück haben müssen, um etwas davon abzubekommen oder stibitzen zu können. Zum Beispiel Knochen, Fleischabschnitte, Schalen oder altes Essen, das weggeworfen wird, beziehungsweise weitergegeben. In Deutschland und ähnlich gestellten Gesellschaften können sehr arme Menschen noch immer zuerst Tierfutter essen, bevor es dann von dieser Stufe aus noch eins weiter nach unten geht. Auch fragte ich mich, denn der Kilopreis ist sehr günstig derzeit, ob man aus Blumenzwiebeln etwas zaubern könnte? Ich kenne das ja prinzipiell von meiner Stengelbeißlust her, die mich in der Vorweihnachtszeit beim Anblick der Amaryllis ergreift.

Von den Asiaten lernen heißt: Es ist alles essbar und schmeckt gleich, aber gleich gut, mit der Hilfe von Sojasauce, Fischsauce, Chilischoten und Reis.

Apfelbaum und Tanne

Bei -7 Grad malt der Morgen mit den schönsten Farben. Lichtblau oben, lichtblau unten auf dem Wasser bis an das taube Grün des Rasens. Magisch, wenn dann am großen Haus auf der gegenüber liegenden Seite sämtliche Fensterscheiben den Glanz der roten Sonne reflektieren. Im Spiegelbild zeigt der See allein die Fenster, es schaut aus, als ob es hinter ihnen brenne. Also unter Wasser eigentlich. Und am Ufer treiben, dünn wie Folien, die ersten Schollen.

Den Vögeln geht es gut. Heute steht im republikanischen Kalender der Tag zur Feier der Hippe. Ein in Vergessenheit geratenes Gerät. Um drei Uhr hatte mich Friederike angerufen, um mir von ihrem Albtraum zu erzählen, danach konnte ich lange micht mehr einschlafen. Nicht des Anrufes wegen, sondern weil mir gleich darauf bei meinem Einschlafen aufgefallen war, dass es bei meinem Traumgeschehen, so wie es sich anließ, nun ebenfalls auf einen Albtraum hinauslaufen würde. Weswegen ich beides abzubrechen beschloss: Träumen und Schlaf.

Im Wikipedia-Eintrag zur Hippe, mancherorts auch Häsle genannt, stieß ich auf die bemerkenswerte Anzahl von Stadtwappen, in denen dieses Werkzeug abgebildet ist. Also identitär. Urwüchsige Hippe, warum hat man dich bloß zur Seite gelegt? (Die Machete hat ja immerhin, durch aus die Machete noch wertschätzenden Kulturen nach Deutschland eingewanderten Frauen und Männer, eine gewisse Renaissance hierzulande erfahren dürfen dergestallt, dass sie in Waffenläden neben Paintball und Nerfgeschossen und Butterflymessern und Reizgasspraydosen, Tazern und Compoundbögen und Armbrüsten angeboten wird für Kunden ab 18 Jahren; man sieht die Machete folglich auch in Videoclips, zum Beispiel in 069 von Haftbefehl.) Und ich frage mich auch, ob das Fragezeichen unserer lateinischen Schrift nicht nach dem Vorbild der Hippe gestaltet wurde. Von seiner Geformtheit her.

Die Hippe ist derart ultra-urwüchsig, dass es noch nicht einmal bei Manufactum gibt. Hail the Hippe! Da der Morgen noch jung war, vor allem auch dunkel (ein dunkler Bursch!), surfte ich noch auf die Seite des letzten Herstellers von Hippen in Baden-Württemberg, der Werkzeugschmiede Adler in Waghäusel bei Phillipsburg – literarisches Terrain. Alles dort: Logo der seit dem Jahr 1919 fortbestehenden Schmiede von landwirtschaftlichem und Forstgerät, die Gestaltung der Website selbst, die T-Shirts der Schmiedearbeiter, aber halt vor allem die dort bei Adler geschmiedeten Hippen, Äxte und Beile selbst: einfach bloß mega!

War in letzter Zeit ein gewisser Trend zum urban Beil festzustellen, Taschenmesser von Opinel gehören ja längst zum sogenannten guten Ton, werde ich in diesem Sommer nie ohne mein Häsle anzutreffen sein.

Les aveux de la chair

Erfreulich wurde es dann am nächsten Tag, als ich an einem Abend in der vergangenen Woche, deren Tage lang und beschwerlich gewesen waren, beim Fernsehen auf einer Folge der Reihe Durch die Nacht mit… hängenblieb. In einem langen Oldtimer saßen Lars Eidinger und Oskar Roehler. Roehler, von Anfang an sichtlich genervt von seinem Kompagnon, verlor schon nach zehn Minuten zum ersten Mal die Contenance. Das war, für mich komplett nachvollziehbar, beim ersten Zwischenhalt der Tour, als sie, auf Eidingers Bitte hin, durch eine penibel rekonstruierte Seitenstraße des historischen Alexanderplatz spazieren sollten, die sich allerdings, man war dazu eigens von der Schaubühne bis beinahe nach Potsdam hinausgefahren, sich auf dem Studiogelände Babelsberg befand, wo Lars Eidinger in Tom Tykwers Fernsehserie Babylon Berlin in eben genau dieser Kulissenstraße in einigen für ihn unvergesslich gebliebenen Szenen mitgespielt hatte. Nach dem vorhersehbar hochnotpeinlich verlaufenen Atelierbesuch bei John Bock, der sich wie immer über alles freute, kippte die Stimmung und Lars Eidinger beleidigte unter anderem Oliver Masucci, weil der etwas besser Billard spielt als er, Lars Eidinger, selbst, bevor er sich dann in der historischen Stretchlimo zu Christoph Amend fahren lässt, mit dem er weiterkickern will.

Irgendwie gut also, aber halt auch sehr anstrengend, weil Lars Eidinger derart grotesk nervt durch seine dümmliche Spießigkeit. Man merkt ihm an, dass er sich die Gemeinheiten Roehlers nur deshalb gefallen lässt, weil der ihm die Hauptrolle in seinem nächsten Film versprochen hat, wo er dann Fassbinder spielen darf. Ich schrieb ihm, also Roehler, eine Nachricht. Er rief später noch an: Ja, also das sei nun wieder einer dieser Momente im Leben, da musste er zum Hörer greifen. Was ich denn morgen schon vorhätte – wir könnten uns im Soho House treffen, um über ein paar Filme zu sprechen. Das Ding sei, man filme uns dabei.

Wie sagt doch gleich die Amme zu Julia: Mache die glücklichen Tagen zu glücklichen Nächten? Jedenfalls begrüßte er mich dort am nächsten Tag in einem sehr gut geschnittenen postgelben Anzug aus Breitcord, der ihn  aussehen ließ wie einen sehr langen Kanarienvogel. Mir selbst hatte er ein ziemlich auffällig mit Perlenstickereien verziertes Jackett aus Camouflage zugedacht, das aus seiner Privatsammlung stammt, über die man sich ja so einiges erzählt. Hier, vor laufenden Kameras, wo ja vor allem viel gewartet wird, weil andauernd jemand anderes etwas austauscht oder anschließt; wo man alle zwei Stunden lüften muss, weil die Scheinwerfer unerträglich heizen und man Kostüme trägt, war Oskar Roehler in seinem Element. Ich denke, er kann mit der anderen Welt nicht allzu viel anfangen. Zwar hatte ich gehofft, mit ihm über The Florida Project sprechen zu können, weil der mich wie schon längst kein Film mehr berührt hatte (eigentlich wie seit Trocadéro bleu citron keiner mehr), aber das ging natürlich nicht, denn es war im Grunde Roehlers Show und deshalb musste eisenhart über Skandalfilme gesprochen werden. Ging sofort los mit seinem (und Michel Houellebecqs) Leib- und Magenstreifen Seul contre tous. 

Es war halb zehn Uhr morgens. Roehler bekam gute Laune und die steigerte sich noch.

Silly Rabbit

Noch vor ein paar Jahren hatte ich beinahe nie Erholung nötig; ich konnte wochenlang durcharbeiten, auch schon mal vierzehn Tage am Stück und hatte dann sogar den Eindruck, vielmehr: ich glaubte daran, dass es den Ergebnissen gut getan hatte. Dass eine Art extatisches Reservoir angezapft wurde auf diese Weise. Alles weitere steht in Business Punk.

Mittlerweile brauche ich nach jedem Kraftakt zwei ganze Tage, an denen ich nicht viel mehr machen kann als schlafen und essen und Filme einsaugen, die ich schon kenne. Fernsehen geht gerade noch, fördert aber direkt das Bedürfnis, einzuschlafen. Angeblich hat das mit den Alphawellen der Gehirnströme zu tun, die durch das Anschauen von Fernsehbildern geglättet werden. Lesen geht überhaupt nicht, davon wird mir schwindlig. Schon ein Beipackzettel ist zu viel. Ich habe die letzten vierzehn Tage zu viel gelesen. Um 120 Heftseiten netto Text druckfertig zu machen, müssen diese 120 Seiten ich weiß nicht wie oft, aber vier Mal mindestens gelesen werden – in jeweils minimal unterschiedlichen Bearbeitungsstufen. Also jedes Mal anders und dennoch auch gleich. Und nicht immer besser. Was sie aber sein sollten. Wenn es nach mir ginge. Und es geht nach mir. So lange ich das will.

Vermutlich von daher auch rührend meine unsägliche Erschöpfung: Ich bin ja nicht der Winter, der in jedem Jahr aufs Neue den Frühling unter Schmerzen gebiert.

Gestern stand ich früh am Morgen bis zur Mitte meiner Oberschenkel im eiskalten Wasser des Sees. Ich hatte meine neuen Extremgummistiefel an und spürte nichts von der Kälte. Kleine Eisstücke trieben im Wasser, das ganz klar war, im Sommer ist das Wasser des Sees schleimig und trüb. Ein ganzer Ast der Weide steckt im Schlamm fest. Abgerissen in der Nacht, als der Sturm Friederike durchs Land gezogen war, mordend und brandschatzend und Äste abreißend wie im finsteren Mittelalter. Die Blässhühner und die Schwäne und Enten haben um ihre Bein- und Flossenmuskulatur herum eine Haut, die vergleichbar thermische Eigenschaften haben muss wie das Material meiner hüfthohen Extremgummistiefel, denn meine Muskulatur und die der Wasservögel um mich herum im eisgekühlten Wannseewasser ist aus demselben Protein in vergleichbarer Zusammensetzung. Und über uns allen war der Himmel klar und wolkenlos und so besonders schön wie immer, wenn es ganz besonders kalt ist.

Am Nachmittag fing es zu schneien an mit winzig kleinen, harten Flocken. Als ich die Balkontür öffnete, war allüberall ein Knistern zu hören wie das Knistern in einer Schüssel Smacks, kurz nachdem man die Milch eingefüllt hat. Mein Bruder hat immer behauptet, die Smacks würden flüstern und er könne sie verstehen.

So könntest du dir den Rest deines Lebens gut vorstellen, dachte ich, in einem Sub-Channel, während Irreversible lief. So dürften sie kommen, deine alten Tage.

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