»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

BIG YELLOW TAXI

In der Frühe führte mein Weg mich am Innenministerium vorbei. Dort kniete, anders als sonst, ein Mann vor dem an der Außenfassade angebrachten Bundesadler. Der übliche Schriftzug indes fehlte. War abmontiert worden. Mit einer Bohrmaschine setzte der Arbeiter zusätzliche Löcher in den hellen Stein. Auf einem Stück Waschfilz lag unsortiert eine große Menge lateinischer Schriftzeichen aus Bronze. Sogar ein Komma war dabei, und als ich am Abend, inzwischen war die Außentemperatur um 10 Grad auf 34 angestiegen, war der Schriftzug befestigt: BUNDESMINISTERIUM DES INNERN, FÜR BAU UND HEIMAT. Dazu wurden freilich zwei Zeilen gebraucht, die dem Bundesadler aus der linken Schwinge streben wie Strahlen. Das Redesign ist im Inneren des Innenministeriums nicht machbar, da der über dem Portal des zweckhaft gehaltenen Gebäudes eingravierte Schriftzug auch über die Legislaturperiode hinaus ein als BUNDESMINISTERIUM DES INNERN vorsieht. Wobei: wer weiß, womöglich sehe ich dort in der nächsten Woche einen Steinmetz am Werk?

Bei den Temperaturen erschallt aus dem benachbarten Gefängnis, der Justizvollzugsanstalt von Moabit ein jammervolles Lied, es kommt aus den Kehlen der dort Eingesperrten, die hinter ihren Gittern zu ihren vor der hohen Mauer ausharrenden Angehörigen singen. Man kann es ihnen nicht verbieten.

Nach dem Innenministerium mit dem neuen Namen, in dessen aufwendig umzäunten Park seit neuestem ein Bienenhaus steht, kommt das Restaurant Paris Moskau, ein Relikt des alten Berlins, das in einem mittlerweile auch relikthaft wirkenden Fachwerkhäuschen residiert. Momentan aber Betriebsferien hat. Und dann kommt auch schon der Biergarten gegenüber des Kanzleramtes gelegen. Auch dort sind Betriebsferien angesetzt. Nicht aber im Biergarten, der vor allem bei Touristen aus den Vereinigten Staaten beliebt ist, die hier ihre Sitten zur Schau tragen. Eine Dame in Begleitung kam aber schlecht mit den Wespen zurecht. Sie schrie panisch und verlangte ihren »fucking pig’s knuckle« ungestört essen zu dürfen. Kein Problem für ihren Mann, ich denke mal sie waren aus Oregon, der seinen Vaporizer auspackte, den auf die höchste Stufe gestellt einsetzte dergestalt, dass er ihr ausladende Dampfwolken über die Haxe blies, um so die Insekten zu verleiden. Selbst in die Maßkrüge setzte er seinen vom Nikotin geschwängerten Dampf. Gar nicht auszudenken, zu was dieser Mann fähig wäre, wenn seine Frau sich, sagen wir mal: vor der Belaubung der Kastanien fürchten müßte. Andererseits kam so etwas Disko-Stimmung auf im Biergarten gegenüber des Kanzleramtes. Bei frühabendlichem Sonnenschein.

Dietmar Dath schrieb gestern in der Zeitung innerhalb einer Rezension eines Horrorfilmes, der nur verstreut in die Kinos kommen wird, er hätte dem Streifen »mehr Kinodunkel« gewünscht.

So in der Art.

DER LEIDENSCHAFTLICHE GÄRTNER

Es ist so heiß, dass die Reiher zu Fuß über den Steg in den Garten kommen, um sich flamingohaft in den Baumschatten zu stellen. Eine Waschmaschinenladung trocknet während einer Stunde an der Luft (nach Sonnenuntergang). Ich bin früh aufgestanden, um den Rasensprenger anzudrehen. Lino ist für zwei Wochen nach Portugal geflogen und ich darf all seine Ämter übernehmen. Der Bewässerungsvorgang dauert stundenlang, da kann ich meinen Hal-Ashby-Phantasien nachgehen. Ich finde es extrem befriedigend zu gießen. Mähen hingegen würde ich nur ungern wollen. Von daher ist ein auschließlich gießender Gärtner mein Traumjob. Vor allem auch weil man nebenher noch ausreichend Zeit zur Verfügung hat, um, beispielsweise, zu schreiben. Lino schreibt allerdings nicht, er schaut gerne Fußball. Wie der Gärtner bei Hal Ashby.

Wie Lino mir erzählte, arbeitet er seit seinem zwölften Lebensjahr. Ganz einfach aus dem Grund, weil er neun Geschwister hat und die weiterführende Schule in Portugal zu jener Zeit gebührenpflichtig war. Sein erste Tätigkeit war Autoreifen aufpumpen. Er hat eine abgewinkelte Zeigefingerspitze an der rechten Hand, weil ihm am ersten Arbeitstag ein Bedienungsfehler am pneumatischen Wagenheber passiert war und die Karosse anstatt wie befohlen in die Höhe gepumpt zu werden, auf seinen Zeigefinger abgesetzt ward. Da aufgrund einer Kette von Missverständnissen der Notarzt nicht eintraf, befreite sich der junge Lino selbst aus der Klemme, indem er seinen Finger herausriss. Auch Krankenhausaufenthalte waren gebührenpflichtig. Direkt erholsam war dagegen der mehrjährige Militärdienst, den Lino als Soldat auf der Schokoladeninsel São Tomé absolvieren konnte, weil Portugal damals noch Reste eines Kolonialreiches unterhielt. Einer seiner Brüder hingegen wurde nach Angola kommandiert und dort war es wohl fürchterlich. Auf der Schokoladeninsel wurde Lino mit der Verwaltung der Waffenkammer beschäftigt. Wo es einerseits ruhig zuging, aber gleichzeitig auch Ordnungliebe gefordert war und die ist auch heute noch (zwischendurch war er lange Zeit Koch, unter anderem für den Prinz von Norwegen, der seine Stockfischkroketten mit Genuss verspeiste) gefragt, denn ohne Ordnungliebe kann man nicht nur schlecht, sondern überhaupt gar nicht Gärtner sein. Oder wie Rudolf Borchardt über den im Greisenalter vom Kriegsherr zum Gärtner von Split gewandelten Kaiser Diokletian schreibt: »Draußen war nur wilde Welt.«

Donnerstag soll es ein Gewitter geben. Dann habe ich frei.

AKKUSTIK UND SCHWINGUNGEN

Frühmorgendliches Telefongespräch mit meinem Vater. Es geht ihm hörbar besser. Seltsam, dass man das in der Stimme wahrnehmen kann – wenn man sich kennt. Er berichtete mir von der Segnung durch seine Schmerzmittelpumpe, die er selbst bedienen darf. Und zitierte die Rolling Stones: Sister Morphine. Aufgenommen im Juli 1968, veröffentlicht im Februar des darauffolgenden Jahres. Zwei, bevor ich zur Welt kam. So lange sind die beiden schon verheiratet. Als meine Mutter meinen Vater zum ersten Mal sah, war sie fünfzehn.

Es fühlt sich wohl so an, dass »zehn Minuten nichts passiert, dann dreht sich alles«, acht Stunden später erwacht man aus erfrischendem Schlaf. Ohne Erinnerung an ein Traumgeschehen.

Vor dem kleinen Café gegenüber schaut ein Mann in kurzen Hosen in die Speisekarte und sagt: »Alter Schwede. Sind wir hier in München, oder was!«

Vom sogennanten Junggesellenabschied bleibt ein mit goldfarbenem Lametta besetzter Hut auf dem Tisch zurück. Und da muss ich freilich an Der große Gatsby denken.

ELEANOR RIGBY

Meine Mutter sagt, dass sie einen Apfel ernten konnte (Jakob Fischer), der ist 650 Gramm schwer.

Und mein Vater, sagt sie, hatte heute Morgen einen seiner berüchtigten Niesanfälle: 20 Nieser, und es tat ihm nicht weh.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«