»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

16.3.2019

Ausfahrt nach Schwäbisch Hall, weil ich mir endlich einmal die Sammlung Würth anschauen wollte. Selbst bei der nieseligen Stimmung unter isabellenfarbener Wolkendecke stimmte mich die Geschwungenheit der Landschaft heiter. Und in der Ortschaft Aspach, am Fuße eines Bergs mit Burg, die derzeit zum Verkauf ausgeschrieben steht, war direkt am Straßenrand ein hoher Zaun aus blickdicht aneinandergefügten Brettern, die malerisch grob gehobelt belassen waren. Ein darauf befestigtes Schild machte Werbung für sdoerfle.info: eine gated community für Anspruchsvolle, wie ich recherchierenderweise herausfinden sollte, während mein Vater das Auto unbeirrbar durch das Hohenlohische steuerte. Kurios, so ein Dörfle im Dorf, dessen Häuser im sogenannten Chaletstil errichtet wurden, um den Pensionsgästen endlich wieder einen schwäbischen Lifestyle anbieten zu können, wie es ihn vielleicht ja schon einmal wirklich gegeben hatte.

In den Ausstellungsräumen der Sammlung Würth hatte es einen sehr schönen Tony Cragg aus Holz, der rot lasiert war, sodass die Maserung des Holzes durchscheinen konnte, sowie einen aus unbehandeltem Weidenholz, der meinen Eltern einhellig noch besser gefiel, wobei mein Vater vermutete, dass Cragg eine CAD-Fräsanlage einsetzt. Wolfgang Ullrich hat neulich gesagt, dass sich die Museumsgastronomie zur Schauseite der Museen entwickelt. In dem Sinn kehrten wir auch noch bei Würth ein und ich ließ mir Käsespätzle schmecken, die mit dem regionalen Romadur zubereitet waren, der seine sahnigen Qualitäten laufen ließ.

Heim ging es auf anderem Weg, durch eine von erkalteten Vulkanen strukturierte Landschaft, in der mein Vater einst auf seinem Rad, später auf dem Mofa von der NSU namens Quickly seine Erholungsfahrten vom patriarchalisch geprägten Familiengetriebe unternommen hatte. Und zwar vom fernen Heilbronn aus, in das wir dann bald einfuhren. Hier waren meine Mutter und mein Vater in der gleichen Straße, nur wenige Häuser voneinander entfernt, aufgewachsen. Die Häuser gibt es immer noch. Die beiden Schulen, längst nicht mehr nach Geschlechtern sortiert, auch. Das Haus meiner Urgroßmutter, in dem sie beinahe ihr ganzes Leben lang gewohnt hatte, wurde, wie wir leider feststellen mußten, mittlerweile abgerissen und durch ein leider auch weniger hochwertig wirkendes Häusle ersetzt. Das mit der Wohnung der Urgroßmutter war solide, aus Sandstein gefügt. Na ja.

Meiner Mutter fiel ein, wie sie mit der Urgroßmutter, also ihrer Großmutter einmal Ferien machen durfte im Hohenlohischen, wo sie ursprünglich her stammte. Da war sie also aufgeblüht und hatte den Pensionswirt, bei dem sie sich eingemietet hatten gefragt, ob sie seine Wiese mähen dürfte. Ließ sich eine Sense geben und mähte los. Dann erst war für sie der Erholungsaufenthalt auf dem Lande perfekt.

15.3.2019

Angesichts anhaltenden Regenwetters beschlossen wir einen Ausflug ins Stuttgarter Planetarium. Das steht ja derzeit in seiner charakteristischen Pyramidenform einsam und verlassen da auf weiter Flur. Beziehungsweise ragt seine schwarze Pyramide auf einzig heil auf aus dem schier unendlichen Loch der berüchtigten Baugrube von Stuttgart 21, die gleich neben dem alten Hauptbahnhof beginnt und beim Planetarium noch längst und lange nicht zuende ist.

Leider war der Programmplan auf der Website anscheinend mißverständlich, sodass wir in einer Kindervorstellung gelandet waren. Aber das machte nichts, überraschenderweise, denn kaum war das Licht im Saal verlöscht, fuhr aus dem Boden dort der wuchtige Kugelkopfprojektionsapparat von Zeiss empor wie früher und malte in das Schwarz der Kuppeldecke den Sternenhimmel strahlend hell. Einzelne Gestirne wurden zur näheren Betrachtung herangeholt und drehten sich dort oben um sich selbst. 

Erst als wir wieder draußen waren bemerkten meine Mutter und ich, dass uns schwindlig war. Das war ein Drehschwindel vom Betrachten der Sterne, der sich in uns als Nachwirkung erhalten hatte. Ansonsten regnete es immer noch. Der Luftdruck hält sich konstant auf 1015 Hektopascal.

14.3.2019

Schon auf der Anreise zeigte sich der Himmel über der Gegend von Nürnberg verändert: maßvoll in gleichmäßige Abstände zueinander gesetzt schwebten die Wolken zu blütenweissen Haufen geballt, wie um dazwischen ebenso große Stellen von Himmelsblau zum Vorschein zu bringen. Bei dieser prachtvollen Aussicht störte es mich nicht, stundenlang in einem angeblich neuartigen ICE ohne Strom, ohne Heizung und demzufolge auch ohne Verpflegung aus der nicht funktionierenden Bordküche durchs Land gefahren zu werden. 

An den Himmelszeichnungen konnte ich ablesen, dass wir die in der Landschaft unauffällige Grenze zum Schwäbischen passieren würden. Dort war das Weiß wie mit der Rückseite eines Löffels in sahnigen Streifen über den Zeltstoff geschmiert. Dabei meldete sich natürlich auch der Hunger, der mir solche Visionen eingab. Bei der Ankunft im Hauptbahnhof widerstand ich dennoch dem nun schon deutlich artikulierten Verlangen nach einer Butterbrezel und zögerte das noch hinaus, weil wir ja bald schon en famille nach Heimsheim fahren würden, um beim Nachtessen im Hirschen den Geburtstag meines Vaters zu feiern. Er geht jetzt ins 77. Jahr.

Dort war zwar vor kurzem die Wirtin verstorben, die ihre Stammgäste ungefragt mit einer Extraschüssel von ihrem Kartoffelsalat zu ehren pflegte, aber der Rostbraten war von unveränderter Qualität, also wie immer. Der Kartoffelsalat ebenso und vor allem auch ihre Sauce. Rezepte werden vererbt und tun über die nackte Anwesenheit ihrer Schöpfer gute Werke.

Wir erzählten die gelungene Integrationsgeschichte der Metzgerswitwe aus Heimerdingen, die nach dem schlagartigen Tod ihres Mannes (Vater ihrer acht Kinder), der damals für Aufsehen in der Gemeinde gesorgt hatte, die verwaiste Metzgerei am Ortseingang an eine indische Großfamilie verpachtet hatte, die darin den ersten Lieferservice in der Umgebung eröffnet hatte. Ist erst ein paar Jahre her. Die Inder firmieren unter dem Namen Pizza Blitz und liefern »Indische, Chinesische, Italienische und Mexikanische Spezialitäten« in sämtliche Dörfer nah und auch ziemlich fern. Das Unternehmen wurde wider Erwarten zu einem großen Erfolg. Vor allem auch nachdem die in einer Wohnung über dem Pizza Blitz lebende Wittwe ihren Pächtern erklärt hatte, dass sie zu jeder Bestellung auch einen kleinen Salat, ein Salätle halt, mitliefern müssten, weil sich das hier so gehört. Im vergangenen Jahr wurde sie, die Metzgerswitwe nun in die Heimat der Pächter eingeladen und reiste daraufhin mit ihrer Tochter aus Heimerdingen ins ländliche Indien, wo die Verwandschaft der Pizza Blitzer unter glühendster Sonne auf Matten in den Innenhöfen niedriger Lehmbauten schlafen. Aber für den Besuch hatte man eigens zwei Betten westlicher Bauweise beschafft. Durch den positiven Verlauf der südindisch-schäbischen Völkerfreundschaft ermutigt, hat die Belegschaft des Pizza Blitz jetzt das dem Heimerdinger Stammhaus gegenübergelegene Reihenhäusle gekauft. Sie haben sich niedergelassen und werden, ich gehe da von persönlichen Erfahrungswerten aus, in etwa dreißig Jahren vollends in der Dorfgesellschaft assimiliert sein. 

Der Luftdruck steht bei 1015 Hektopascal. Abgelesen allerdings an der analogen Wetterstation im Elternhaus. Die App hingegen behauptet ihn bei 950 Hektopascal. Somit erweisen sich auch sämtlich in Berlin festgehaltene Messwerte als Makulatur. Denn zum Vergleich gibt die App die Höhenlage mit 426 Metern über dem Meeresspiegel an. Heimerdingen liegt aber, das ist verbrieft, auf 400 Metern. 26 Meter höher befindet sich bekanntlicherweise die Spitze unseres Kirchturmes. Diese Anregung erhielt ich von meinem Vater, der damit die Meßtechnologie aufgrund von GPS-Daten entzauberte. Wie soll es dass Telephon auch anders fertig bringen? Digital ist nicht immer besser.

11.3.2019

Am Sonntag nachmittags langer Spaziergang. Ich war wandmüde, wie es der Vater von Herrman Lenz wohl zu nennen pflegte. Ging durch eine mir noch unbekannten Teil der Stadt, in dem es so gut wie nichts zu sehen gab, außer dem Rohbau eines mehrstockigen Mietshauses der von den ihn bewerbenden Plakaten umstellt war. Das städtische Unternehmen verkündet darauf in roter Schrift »Berlin baut.« Von der Architektur her stellt es nicht mehr dar als umwandeten Wohnraum mit einem Deckel obendrauf. Wenige, auch recht kleinvormatige Fensteröffnungen zur mehrspurigen Straße hin. Ein Haus zum Selbstausdrucken, um sich darin selbst einzulagern. Schaut wahrscheinlich noch grausamer aus, wenn es erst fertiggestellt ist.

Abends dann in der Schaubühne, großer Andrang, damit hatte ich nicht gerechnet. Heinz Bude stellte sein neues Buch vor. Mehr als hundert Leute im Publikum. Es geht um die Zukunft der Solidarität. Bude trägt seine Thesen frei vor. Im Anschluß noch ein Gespräch mit Thomas Ostermeier. Die Leute hören konzentriert zu, ab und an gibt es Zwischenrufe. Bude sagt: Zur Solidarität gehört der Kampf. Beim Hinausgehen fällt Schnee, draußen vor den Scheiben. Dachte zuerst an einen inszenierten Effekt. Wohl noch unter dem Eindruck des Nebelmaschinengewitters vom Freitag.

Zur späten Stunde dann noch eingekehrt in diesem neu entdeckten Thai-Stüble, in dem es richtig gut schmeckt. Die zerhacken dort einen Fisch in flockenzarte Partikel, die dann zu knusprigen Wolken frittiert werden. Eine Texturspeise. Große Köstlichkeit. Die Kellnerinnen sind eineiige Zwillingsschwestern. Sie schminken, frisieren und kleiden sich auf identische Weise.

Morgen breche ich ins Schwäbische auf.

10.3.2019

Wie ein Strauß will ich sein, der sich nie verändert, sogar in seinem Welken nur noch schöner wird.

Karl Lagerfeld hat, auf die Frage von Olivier Zahm hin, warum er als Fotograph niemals die Mißstände von Paris aufgenommen hat, zur Antwort gegeben »Auch heraus aus meiner Prüderie. Meinetwegen auch Rücksicht. Sie müssen sich ja vorstellen, wie das auf diese Leute wirkt: als ob sich eine Comicfigur schlagartig auf sie herabbewegt hätte.«

Und Andy Warhol hat über die idealen Wohnumstände festgehalten: »Alles was man braucht, ist ein Bett und ein Tablett. Es sieht ja auch alles besser aus, wenn man es im Bett macht. Sogar Kartoffeln schälen.«

Die »offene Zeit«, die Rainald Goetz einfordert, deren Mangel er ablehnt, vor allem im Angesicht finanzieller Einbußen: wie das stimmt, wie unmöglich es einem gemacht wird, noch irgendetwas zu denken, geschweige denn: schaffen zu können, wenn einem die Zeitmauer vor Augen geführt werden darf. Schöpfen: ja, gerne, beglückenderweise—aber nur aus einem Ozean. Es darf, soll : kein Limit geben (©️2unlimited.)

Es gibt kein schöneres Lied über die Zeit als das von den Chromatics. Schön auch, dass es so lang ist (Tick of the Clock.) Ansonsten leider misèrable Band.

9.3.2019

Gestern, pünktlich um 18 Uhr auf dem Vorplatz des Hauses der Berliner Festspiele: wie man mit einhundert Quadratmetern Folie und fünf Nebelmaschinen etwas Schönes macht. Zwar ging die Sonne da noch nicht unter, aber als die Nebelschwaden umhergeblasen wurden vom Abendwind, fiel es mir erst auf, worin die Veränderung am Gebäude bestand. Die Fensterflächen waren mit einer metallisch spiegelnden Folie beklebt, sodass ich mich zwar nicht unmittelbar an die Fassade des Palast der Republik erinnert fühlte, aber durch diese Idee dann schon. Ein Bühnentechniker stand am Rande des Bildes unter einem immergrünen Baum und hatte, vom Nebel beinahe verschluckt, etwas Japanisches für mich. Noch schöner war der Anblick des verkleideten Theaterhauses freilich später in der Nacht geworden, als sich das große Baumgerippe in der folierten Glasfront spiegelte und gleichzeitig, von Innen heraus die Lampen im Treppenhaus erschienen. Wie in der Doppelbelichtung meines Blicks schwebte dort eine rote Kapuze.

Interessant auch die verschiedenen Aufzeichnungsgeräte der Berichterstattenden, es war viel Fernsehen vor Ort: große Kameras mit aufgesteckten Monitoren aus der Ära Beta Digital, aber auch die Cine-Alta Venice MPC-3610, eine Black Magic, die vor fünf Jahren avantgarde war. Einer hielt einen mit Dioden besetzten Pistolengriff aus greigem Kunststoff, auf dem sein vergleichsweise großes iPhone in einer kardanischen Halterung eingespannt war. Keine einzige Drohne.

Trotzdem glaube ich nicht, dass einer dieser Filme vermitteln kann, wie zauberhaft das alles live war.

In der Zeit, als der Palast der Republik noch nicht abgerissen war, gab es einen Berichterstatter, der kam auf die Vernissagen mit einer Videokamera, die er mit Paketklebeband auf seinen Bauarbeiterhelm montiert hatte. Ich hielt den für irre.

8.3.2019

Der Mutist bleibt sich treu und sagt weiterhin nichts. Sitzt dort in den Tagstunden auf den Ästen unterhalb der Nestruine und äugelt. Immer wieder öffnet er seinen Schnabel und klappert damit (was aber lautlos bleibt, zumindest dringt davon kein Geräusch zu mir herüber.) Wobei von anderen Orten im Hof die Melodien anderer Amselhähne zu hören sind. Wie es ihm wohl damit geht, mit seiner Störung an der Syrinx (wie sich der sogenannte Stimmkopf am Bronchialsystem der Vögel nennt?) Er kann um die Hennen, die sich unverdrossen um ihn Scharen, nicht artgerecht werben. Er sitzt einfach bloß rum. Ob die Genossinnen seinen Durchbruch erwarten, sowie ich? Ob es bei denen das Geräuschemachen braucht, wie bei Menschen den Kuß, um das Räderwerk der Vereinigung in Gang setzen zu können? Falls dieses Nest dann doch noch gebaut werden sollte in diesem Jahr, freute das mich. Blackbird wäre ja auch noch besser, wenn Paul Mc Cartney nicht sänge.

Die Kunstform des Scratchings, einst groß, ist eigentlich schon verschwunden. Verweht worden durch ihre Reproduktion—ist das eine Reproduktion?—von virtuellen Plattentellern, auf denen sich eine Dummy-Scheibe dreht, die dann den Prozessor ansteuert, der wiederum den Dateien befiehlt, sich so, oder so herum zu bewegen. Via Traktor.

Fehlt da, wie Roland Barthes es mit seiner Körnung der Stimme angeregt hat, diese eigentümliche Kratzigkeit eines Saphirs auf dem Vinyl? Kaum vorstellbar, dass Meisterwerke auf diese manuelle Weise geschaffen wurden. Alleine, was DJ Premier mit Tönen von irgendwelchen Flohmarkts-Schallplatten komponiert hat: Come Clean für Jeru the Damaja. Hervorragenderweise. Erinnerte mich damals, bei Erscheinen, an die Tropfsteinhöhle mit der schröcklichen Krabbe auf meiner Platte von »Urmel aus dem Eis.« Man kann die Frage einfach eintippen bei Whosampled.com und dann die fragliche Aufnahme sofort bei Applemusic streamen. Wie viele Jahre ich zusammengenommen in Plattenläden verbracht habe… Mit Durchhören. Stapelweise. Ohne eine Ahnung, was sich wo finden läßt. Was ich aus dieser Zeit gelernt habe (immer positiv bleiben!): Man sieht es den interessanten Obskuritäten beinahe immer schon am Cover an.

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