»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

21.5.2019

In Zürich konnte ich meine Hosen vier bis fünf Tage lang tragen. Hier ist ein Paar spätestens nach zwei Tagen reif für die Waschmaschine.

20.5.2019

Heute früh stand ich auf aus meinem Bett und ging, ich fühlte mich tatsächlich so wie gesteuert, ans Fenster und schaute in den immer gleich grünen Baum. Das war um 4 Uhr, 56 Minuten. Mir war der Satz eingefallen (oder aufgegangen), mit dem ich den Text für das Buch über Emoji anfangen muss, damit das einen Sinn ergibt. Der hatte mit Arles zu tun, mit den weissen Pferden der Camargue, mit den Flamingos. Und vor allem natürlich mit Beda, denn ich befinde mich ja noch immer in seinem Denksystem. Vor über einem Jahr hat er mir zugeworfen «Du hast natürlich überhaupt keine guten Ideen. Aber: Wenn ich Dir sage, worüber Du nachdenken sollst, hast Du natürlich die allerbesten Ideen!»

On Beda

He’s not wearing a watch. That seems important to me, because Beda is Swiss. And he seems bigger to me in my memory than he actually is when I meet him again. In my memory Beda is about Kirchturmhoch. A friendly giant. We have known each other for more than twenty years, and I can’t remember any meeting where Beda didn’t have to laugh when I told him something to laugh about. And that is, above all his ability: Beda can be inspired. He craves it. I could imagine that there might be people who imagine something that leaves him cold. But he never tells me about them. But always the same about those he thinks are great; extraordinary!

I usually get his calls in the morning, around six. Then Beda joggs through the linden woods on Züriberg, greets the deer sideways and tells the world his feelings of embracing the world.

I can count myself lucky to belong to this circle of the rung.

As already often described, Beda works in his studio on an immense desk, the wooden top is custom made and about six meters long and very wide. This area is covered by a mountainous landscape of books and magazines. He does not use a computer. A tiny mobile (Nokia) is all he needs to call for input from the world outside his studio. Then he sits there, there is no door to this room, and yet you only go in when you are called by your last name and take notes by hand. For example, he keeps these legendary black folders in which he notes down ideas and tasks that he strokes out with a black paintbrush pen during completion or implementation in such a way that when an entire pad is completed, there are only black lines on the pages. As with Jenny Holzer. There’s a whole shelf of it in the adjacent storage room.

And therein lies, in order not to go into too much detail now: his principle. You can also try and write postcards to Beda. If he thinks they are perfect, he will find a place for them.

He lives in a way that has long been forgotten in this country. One could say: out of fashion. Beda lives like a prince. Once when we met for coffee early in the morning, he used his tiny telephone to steer his landlady through the weekly market. She then had to tell him by telephone what kind of vegetables he had on offer at which stand. And he then gave his placet based on her descriptions of tomato shapes. Thereupon we drove, he himself sat at the wheel, in his VW «Lupo» to the countryside to do our work.

Later in the evening the landlady had brought all the vegetables to a restaurant near the studio. They were prepared there. According to Beda’s specifications.

I could go into much more detail about the studio workflow now, but that would probably go too far; it would seem like a fantasy of a working world that no longer exists in this country—perhaps never existed before. It would be too much. And Beda himself would say: there’s not too much (in abundance)!

Sometimes I think of our age, how long we have known each other. I don’t know what I should do without him — though: I already know. But life wouldn’t be pretty anymore.

19.5.2019

Früh auf, von draussen her: wärmende Grüntöne. Die mit Laub bestückten Äste schwingen im Wind, sie locken mich: «Come hither, Darling»—Andere müssen sich eine 3-D-Brille aufziehen, um das genau so erleben zu dürfen. Scharfkantig die Wolken gegen das Blau: Ein weisses Pferd (bei Beda drüben, der jetzt schon in der Camargue, bei den Flamingos* weilt).

Der erste Schluck von der Milch hier: freilich ein Affront.

Im Park zuerst die Schwanen besucht: es waren vier von fünfen ausgeschlüpft. Und sassen dort puschelig auf dem Nest, auf dem sie jüngst noch in den Eierschalen gelegen. Das fünfte schlief noch, wahrscheinlich für immer und ewig in seinem Ei, das abseits lag; tatsächlich so gross und auch so geformt ist wie der Kieselstein aus der Bretagne auf meinem Fensterbrett. Erste Ausfahrten. Die Schnäbelchen glänzen noch schwarz und sind so glänzend und feinsinnig geformt wie Jodhpur Boots von Trickerˋs.

Ein Eichhörnli mit weißem Latz war ganz nah und schaute auf mein Zwitschen hin in die Kamera. Am Ufer, bei dem hellen Stamm, wo die noch roten Blätter der Seerosen an die Wasseroberfläche stossen, machte es plumps, und ich sah von ihr nur noch den Panzer über schlammigem Grund: rundlich rostiges U-Boot der Wasserschildkröte, die ich beim Sonnen gestört.

Und so gern ich alles hasenförmige habe: Ich würde die elf Millionen, die ich nicht habe, sehr viel eher noch zahlen für solch einen gelungenen Morgen im Park kurz nach Sonnenaufgang. Hinter dem Lanzettenzaun wird es sofort wieder feindlich. Ein Bus fährt vorbei, auf dem steht «Sie haben einen sitzen. Wir 45», auf dem nächsten «Nach dem Verkehr müssen Sie leider gehen»: Es ist ja weder lustig, noch ist es informativ. 

Vor gut zwei Jahren, als ich noch bei Interview schaffte, und der Schulz-Zug auf guten Touren lief, schrieb ich an die SPD im Willy-Brandt-Haus mit der Bitte um ein Gespräch mit ihrem Kanzlerkandidaten. Fotografieren sollte Wolfgang Tillmans. Das wurde mir nach einigem Hin und her abschlägig beschieden. Erschienen ist ein Interview dann mit einem Foto von Martin Schulz in der Grünanlage vor dem Golden Shower Tower in der Sonntagszeitung Welt am Sonntag. Jetzt gibt es diese Großplakate mit Katarina Barley. Anscheinend hat man sich im Willy-Brandt-Haus die folgenden Gedanken gemacht «Tillmans will ja bloss diese abstrakten Schriftposter gestalten, die sie neulich in der NZZ auf einer Doppelseite abgedruckt haben. Das versteht hier mein Wähler aber, der in Spandau in seiner Laube sitzt und piept, nicht. Wir nehmen für die Katarina einfach diese Haare-Make-Up-Frau, die bei den Genossen von der Tagesschau die Judith Rakers flott macht. Und dann soll die Katarina noch diesen coolen Hoodie anziehen mit den gelben Europasternen drauf. Der muss aber möglichst unverwaschen rüberkommen, damit man gleich sieht, dass sie den ansonsten niemals trägt. Stylisten können wir uns damit sparen. Und der Fotograf soll halt im Hintergrund einen Streifen Sonnenlicht auf die Bürotapete bannen. Das würde der Wolfgang ähnlich sehen.»

Deutschland, die SPD, ideal vertont von Matthew Dear mit «Slow Dance»: Man will eindeutig Vorwärts, aber da ist noch was—wo war denn gleich noch das Klistier? 

Daheim dann wieder, ich nahm soeben meinen Apéro, gab es plötzlich ein Geflatter. Eine Nebelkrähe war im linken Baum gelandet und verscheuchte die dort Brütende aus ihrem Nest. Um sich daraufhin an den Eiern der nur halb so grossen Tauben mit ihren nur viertelgrossen Schnäbeln, gütlich zu tun. Tja. Es gibt die Kuckucksei-Taktik, aber es gibt keinen Vogel, der brütende Arten aus ihren Nestern vertreibt, um deren Nachwuchs auszubrüten (weil er meint, es besser zu können, weil es sein Fetisch ist, weil er sich füttern lassen will o.ä.)

Und ich dachte an den Roten Milan, den ich am Osterwochenende geschaut, als ich mit Friederike in den Aussichtsturm auf dem Adlisberg geklettert war. Der liess sich von einer Thermikspirale sachte auf unsere Höhe saugen, bis er uns zum Greifen nah gekommen war. Und der Turm mit seinem Boden unter unseren Füssen vibrierte bei jedem unserer Atemzüge. Der Turm ist aus Holz. Und ich hatte Vertigo.

In meinem Feldbuch steht es 28:25 für Berlin. Und der Luftdruck hier liegt bei 1000 Hektopascal. Tag Eins meiner Beach diet. Mein Kopf, er enthält die ganze Welt, passt, von hinten her genommen, schon in meine rechte Hand.

 *Wenn das eine Bein angehoben wird, verschiebt sich der Körperschwerpunkt über das andere Bein. Ein zusätzlicher «Arretiermechanismus» sorgt für die nötige Stabilität, sodass das Balancieren auf einem Bein selbst im Schlaf möglich ist. In der Theorie funktioniert dieser Mechanismus auch, wenn der Vogel tot ist.

Verspüre grosse Lust, auf der Welt zu sein.

18.5.2019

Nach vier Wochen Zürich ist Berlin wie Afrika. Und auch ich selbst machte wohl einen dubiosen Eindruck auf die Eingeborenen. So winkte man mich, nachdem ich 47 Minuten auf mein Gepäck gewartet hatte, bis es sich endlich aus der todmüd quietschenden Schleuse schälen sollte, in der Zollkabine aus dem Strom der Einreisenden heraus. Wahrheitsgemäss gab ich den Inhalt meiner Tasche an mit «ungewaschener Leibwäsche». Doch die darin eingebetteten fünf Kilogramm Cervelat wurden mir abgenommen, weil die Einfuhr von Wurst- und Fleischwaren aus einem nicht-EU-Land nicht erlaubt ist. Wusste ich nicht. Ist doch seltsam, wenn zugleich die Schweizer an den Wochenenden ihre Einkäufe in den grenznahen Supermärkten auf deutschem Territorium erledigen dürfen, und man ihnen dort auch gleich noch die Mehrwertsteuer erstattet. Denke mal, dass es am gestrigen Nachmittag auf einer Reinickendorfer Terrasse würzig mild nach scharf grillierten Wurstwaren aus der Metzgerei Keller am Züricher Manesseplatz geduftet haben wird (und die Dame des Hauses poliert ihre Ernst-Jünger-haft ausladende Sammlung von Nagelscheren aus aller Welt). 

Ich fand die Szene dennoch heiter, da ich ja unter meiner Jacke das T-Shirt trug von einem Schweizer Zollbeamten, das ich in Bulgarien in einem Second-Hand-Shop erstanden hatte. Und den dünnen Stapel Tausendfrankenscheine, umwickelt mit einigen Lindt-Aktien, hätte der Kollege bei seinem nachlässigen Herumkramen in meinem Tascheninhalt wohl nicht aufgestöbert.

Heiter gesinnt, lenkte ich den Dieselklepper heimwärts auf meine Ghostranch. Und fand dort mein Heim, zum allerbesten nur, verändert vor. In den vergangenen Wochen waren die Schwarzpappel zur rechten Seit’, die Winterlinde zur linken, voll ergrünt dergestalt, dass ich nun zum ersten Mal vor Augen hatte, was meine Vermieterin bei der Besichtigung im Januar mit der einmaligen Aussicht gemeint hatte: dass diese beiden Bäume ungewöhnlich nah am Hause wurzelten, war mir schon in deren kahlen Zeit aufgefallen. Jetzt aber greife ich bei geöffneten Fenstern direkt ins volle Grün hinein. Sagenhafte Perspektiven. Andere zahlen Eintrittsgeld für ein paar Stunden im Baumwipfelpark. Ich lebe so.

In dem ausgebauten Restnest, das vor ein paar Wochen noch den Lebensmittelpunkt des Mutisten dargestellt hatte, sass jetzt eine aufgeplusterte Taube. Offenbar brütet sie dort auf einem Ei. 

Ich nahm eine frische weisse Hose aus dem Schrank.

17.5.2019

Geschlafen wie ein Murmeltier, zeichenhafterweise. Wenn der letzte Strich gesetzt ist, wenn die Druck-PDF geschrieben werden, fällt die Spannungskurve, die einen tage- und wochenlang getragen hat. Eine mächtige Müdigkeit legt sich um einen herum und man begreift, was mit Morpheus‘ Umarmung gemeint ist. Mein Feldbuch zeigt insgesamt 25 Einträge von Vogelstimmen und Pflanzen, die ich während der vergangenen vier Wochen bestimmt und eingetragen habe. Ich habe einen bescheidenen Beitrag zur Kartografie der Flora und Fauna im Stadtgebiet Zürich erbracht. Weiter geht es mit dem Botanisieren jetzt in Berlin.

Der Flughafensender spielt Barry Manilow, «Mandy». Gleich kommt «Leaving on a Jetplane» von Singing Sweet.

16.5,2019

Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!
Zieh durch die weite Flut zurück,
Dahin, woher mich trug dein Kahn,
Kehr wieder nur zu unsrem Glück!
Drum sei getreu dein Dienst getan!
Leb wohl, leb wohl, mein lieber Schwan!

(Der Schwan wendet langsam den Nachen und schwimmt den Fluß zurück. Ich schaue ihm eine Weile wehmütig nach.)

15.5.2019

Ich denke hier andauernd ans Essen. Mit Friederike bin ich mir einig, dass die Schweiz das Mundungsland No 1 ist. Im Gegensatz zu mir war sie schon in Japan, aber betrachtet die Schweiz als minimal überlegen, weil die Japaner Schwachpunkte bei den Süssspeisen haben.

Ich bin gespannt darauf, wie ich mit meinen hier verfeinerten Geschmacksknospen die heimische Kost wahrnehmen werde. Und ich bin jetzt erst recht gespannt auf Israel.

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