»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

13.9.2019

Nach dem Abendessen begleitete ich Friederike auf einem Spaziergang durch die Innenstadt (es war dunkel). Gespräch über die zweierlei Gesichter des Stadtlebens, das des Tages, das der Nacht; wie sie sich anscheinend gänzlich unterscheiden. Eine Schnittmenge gibt es selten bis kaum. Vor einer sanierungsbedürftigen Kirche nahe Basler Platz lagen auf teils selbstfabrizierten Matratzenlagern, teilweise aber waren die aufgebockt und wirkten dadurch wie Krankenhausbetten, Männer und Frauen, wie zu einem Schlafzug hintereinandergereiht vor dem Bauzaun entlang. Niemand sprach, die meisten lagen schon eingerollt unter Decken, das Gesicht natürlich abgewandt von der autofreien Seitenstrasse, auf der wir gingen. Ein Mann war in das stumme Geschehen auf seinem Bildschirmchen vertieft. Der Abglanz auf seinem Gesicht in der typischen Lichtfarbe: Wie millionenfach genau jetzt, zur nächtlichen Stunde, überall auf einer Hälfte der Welt. Quer durch sämtliche Schichten.

An der kleinen Kreuzung bogen wir rechts ab in eine Gasse, an deren Ende es dunkler wurde. Ich dachte an den Text von How Beautiful You Are, und dass wir beide gottlob anders waren. Am Strassenrand parkte ein Maybach mit Stuttgarter Nummernschild. Hinter dem stillgelegten Gleis und dem Rasenstreifen: Der Main. Auf dem Musikschiff war eine Art Schwarzlicht angeschaltet. Die Herrenhemden und die Blusen des Bedienpersonals trieben wie schwebend hinter den dunklen Fensterscheiben durch den Raum. Ein vorletzter Gast mit weit geöffnetem Hemdkragen (Typ Johann Holtrop) stand wie aufgepumpt vor einer Theke. Das Gelächter war fühlbar, von den schattigen Lippen abzulesen, mehr an seiner geschüttelten Haltung, wurde aber soundmässig von der Musik überdeckt. Es lief Street Life. 

Wir sassen auf einer Bank am Uferweg und eine Angestellte der Cateringfirma hatte den Wache haltenden Polizisten eine Reihe von Papiertüten gebracht mit Resten des Caterings. Das improvisierte Buffet auf der Sitzfläche der Nachbarsbank hatte weitere Kollegen angezogen, die leuchteten mit ihren Taschenlampen in die anscheinend unterschiedlich gepackten Tüten. Jeder fand etwas, nahm sich, schlenderte mit dem Sandwich und einem Fläschchen davon. Wir alle hier rasteten für Momente rings um eine schwimmende Oase.

Das Musikschiff, auf dem jetzt im oberen Stockwerk die Sitzkissen zusammengestapelt wurden, während unten die Lieder bloss noch für diesen einen, den einzigen und letzten Gast im Hemd gespielt wurden, war umkreist von beigedrehten Schnellbooten der Wasserpolizei, die wir erst entdeckt hatten, als wir uns auf den Heimweg machten. Eventuell hatte es, als die wichtigen Gäste noch an Bord gewesen waren, sogar einen Hubschrauber gegeben, der den Luftraum über dem Musikschiff zu sichern gehabt hatte. Der Maybach gehörte demnach zu dem hartnäckigen Gast.

Am nächsten Tag dann: Wolken. Jede einzelne schöner als jeder Zeppelin (sogar die grauen).

12.9.2019

Am frühen Abend auf der Europa-Allee stadtauswärts: Sie führt vom Skyline Plaza, wo derzeit ein Tunnel für den U-Bahn-Anschluss gegraben wird, am Messegelände entlang (wo derzeit die Internationale Automobil Ausstellung IAA stattfindet—letztmalig exklusiv in Frankfurt, wie gemunkelt wird). Die einzeln stehenden Gebäudeblöcke an der Allee verdecken zur rechten Hand die dahinterliegenden Messehallenbauten völlig, obwohl die ja nicht gerade zierlich sind. Dafür vergleichsweise charakterstark. Für die Bauformen, im Grunde ist es bloss eine einzige, der in den Vordergrund hochgezogenen Neubauten wie sie sich auch in Berlin überall breit gemacht haben und machen, gab es vor Jahrzehnten noch die akzeptable Rechtfertigung vom Wiederaufbau. Auch dazu lädt ein elfter September in jedem Jahr ein: Gedenken der Bombardierung Darmstadts. Mehr als zehntausend Menschen starben in einer knappen Stunde. Die Vermissten waren zu Asche verbrannt.

Auf der Mitte der Europa-Allee zeigt sich in den beiden Lücken, die Querstrassen lassen, das Verwaltungsgebäude der Deutschen Bahn vom Architekten Stephan Böhm, Sohn des Pritzker-Preisträgers Gottfried. Den oder die Architekten, womöglich handelt ein Kollektiv, der Gebäude entlang der Europa-Allee kennt man nicht. Im Kontrast zum brutalistischen Meisterwerk von Böhm, dessen betoniertes Exoskelett anmuten will, als könnte es pneumatisch in die Knie gehen, wirken die Neulinge gerade nicht brutal, sondern einfach blosslasch, oder herzlos; wie es mittlerweile heisst: uninspiriert. Wie aus schlechtem Gewissen heraus eingemeisselt in den Portikus vom Band heisst dann eins zum Beispiel «Haus Marie-Louise». Der Nachbar gar «Versailles». Die Grünanlagen auf dem breiten Mittelstreifen der Allee, unter denen dann bald die neue U-Bahn verkehren soll, wirken wie mit einer Unterfunktion des Stadtplanungsprogramms entworfen: Sie erinnern mich fatal an die Neupflanzungen auf einem Acker hinter Heimerdingen, wo halmhaftes Grün zu langgezogenen Bürsten gruppiert wächst—Heizmaterial, das jeder dort Biomasse nennen darf.

Nur wenige Leute liessen sich auf den von aquarienhaften Glasscheiben umgrenzten Balkons am Haus Versailles sehen. Ein Mann mit nacktem Oberkörper nahm von dort, von seinem Söller aus, eine Kommunikation mit einem vor dem Haus Versailles stehenden Boten wieder auf, die über die Gegensprechanlage nicht zustande gekommen war. Beide bedienten sich des Englischen als Handelssprache. Man einigte sich darauf, dass der Bote das Paket vor der Haustüre abstellen würde, von wo es der Wohnende dann abholen könnte. Eine Passantin, schwarz mit grauem Haar, rief in den Lautsprecher ihres Mobiltelefons: «Walnut! I like Walnut. And Mango on top.»

Dort, an jener Seitenstrasse zur Europa-Alle, in der sie um sich schallend verschwand, war ein Park neu angelegt worden. Dessen Zentrum, zwischen Tel-Aviv-Platz und einer einer Fussgängerbrücke gelegen, die von den auf ihren Rollern eigentümlich Thronenden befahren wird, markiert ein Spielplatz, hinter sehr hohen Gitterwänden, aber nach oben hin offen gehalten. Der Boden des Freizeitareals besteht aus jenem ansprechenden Gummigranulat, in diesem Fall wirkte es speziell einladend auf mich, da in einem freibadhaften Blau gefärbt. Sämtliche Spielgeräte, einige davon «mir neu», wirkten bombenfest im Grund unter dem heiter federnden Blau verankert. Der Farbton scheint auch dem Spektrum der Tauben zu schmeicheln, denn zwischen Kindern und Aufsichtspersonen aller couleur hockten und ruckelten und flatterten raschelnd vor allem noch sie umher. Kein Geheimnis, dass ich sie nicht leiden kann. Und so schaute ich unwillkürlich zum Himmel hinauf aus dem Gittergeviert. Doch anders als noch im Engadin oder in Heimerdingen rüttelte dort oben kein Falke. Es kreiste gutmütig brummend der Zeppelin.

11.9.2019

Vor 18 Jahren war ich nachmittags mit Martin zu Fuss unterwegs durch das Glockenbachviertel, eventuell dort am Ufer des Glockenbachs selbst entlang, wahrscheinlich nach einem Besuch des Schyrenbads, auf dessen Liegewiese wir sämtliche, in meiner Erinnerung lückenlos sonnigen Tage des Sommers im Jahr 2001 verbracht hatten. Mir fällt das heute angesichts des Datums ein, das geschichtsträchtig werden sollte, bekanntlich, aber speziell in unserem Fall, bedingt durch Zeitverschiebung, erst später an jenem Nachmittag, als wir unweit des von uns damals sehr geschätzten Lindwurmstüberls die, wie es hiess: Räumlichkeiten der Agentur Herburg Weiland betreten hatten, wo alle schon um einen Fernsehapparat (ein zu damaliger Zeit noch durchaus üblicher Anblick) herum sassen. Die Stimmung war—hier wieder Erinnerung—seltsam heiter, vermutlich von Angstlust geprägt, oder von Fassungslosigkeit. Dann, es lief das ZDF, bohrte sich das zweite Flugzeug in den unbeschädigten Turm. Live.

Neulich auf der Geburtstagsfeier von Claudius kam es zum unverhofften Wiedersehen mit Martin. So gut wie keinen hatte ich erwartet, er aber stand hinter einem Haufen blühender Hortensien verborgen und rief mich grüssend meinen Namen (meinen Namen als Gruss). Und ich seinen. Wir haben sehr viel mehr erlebt in dieser Münchner Zeit, die an dem Abend auf der Feier wieder aufleben sollte, aber jener Nachmittag im September ist zu dem Nagel geworden, an dem das Bild unserer gemeinsamen Zeit gehängt wurde. Von da an, nicht gerade 18 Jahre lang, aber lang, haben wir uns nur noch selten gesehen. In den letzten zehn überhaupt nicht mehr. Da wuchs wilder Bärlauch am Ufer des Glockenbachs und vor allem halt zwischen den Gräbern auf dem langgezogenen Friedhof hinter dem Spital. Am Imbissstand des Freibads gab es optimale Wurstwecken, mit kreisrunden, appetitlich rosafarbenden Lyonerscheiben belegt. Aber ich bin mir nicht mehr sicher: lag, oder lag da keine zum Fächer geschnittene Saure Gurke darauf?

9.9.2019

Abschied von den Eltern mit einem Waldspaziergang durch das kleine Stück des langgestreckten Waldes, der den westlichen Rand des Ortes als Bettwurst begrenzt. In dem Waldstückle habe ich schon als Kind gespielt. Es lag zwar nicht direkt hinter unserem Haus, aber von meinem Fenster aus ging der Blick über den weiten Rücken, den Buckel eines Feldes bis zu dem Waldrand hin, wo im Abendlicht die Stämme der Kiefern orangerot leuchteten (und die bleistiftgrünen Kronen bekamen einen Stich ins Violett). Über die Jahre wurde das Waldstück dann immer kleiner und der Weg hindurch immer rascher zu meistern. Das Unterholz barg schliesslich keine Gefahren mehr, weil ich nahe des Erwachsenseins angelangt war. Zumindest ausgewachsen. Und heute früh erwartete mich dort wieder eine Ahnung vom alten Zauber. Es hatte die Nacht über geregnet, die Luft war feucht und frisch, diverse Schnecken in signalorange und braun überquerten den Pfad. Die sogenannten Weinbergschnecken, hell und lang mit grossem Haus kamen mir früher von den Farben ihrer Haut her vor wie Bismarckheringe, als ob ich sie essen könnte (wie Matjes an der Schwanzspitze gefasst in den Mund; einfach so). Fiel mir heute erst wieder ein, das war in den Hintergrund geraten. Aber noch da.

Ein Bussard kreiste hoch über den Feldern. Und aus dem ehemaligen Nachbarhaus war ein heiterer Wortwechsel zu hören. In der hohen Hecke war eine Lücke geblieben, um die zwei jungen Frauen zu erspähen, die dort jetzt wohnen (weil die Nachbarin aus meiner Kindheit, der dieses Haus einst gehörte, natürlich vor Jahren gestorben ist). Auch ich wohne bekanntlich woanders. Trotzdem kam mir mein ehemaliges Fenster noch immer als ein besonderes vor. Es sagte mir was.

Bei der Einfahrt in den Frankfurter Bahnhof, während der Zug nach Luisa eine weite Spiralkurve um die Türme der Innenstadt fährt, wie um sie wie Ringfinger von allen Seiten her zu präsentieren à la Teleshop, tauchte ganz oben ein Zeppelin auf, erst winzig, dann fort, den ich schon wieder vergessen hatte, als er dann später brummend und nah über dem Balkon erschien wie der Bauch eines Fischs in den Wolken. Mit der Schnauze voran.

8.9.2019

Fortschritte greifen nach Heimerdingen, eben noch der Ort, der für mich die längste Zeit eine Heimat bedeuten konnte, gerade weil sich dort nie etwas verändern sollte. Auf einem Spaziergang am oberen Ortsende entlang machte mich Friederike auf einen grossen Kasten aus silbrigem Metall aufmerksam, der ihr unter dem Vordach eines Bauernhofes aufgefallen war. Dieser Hof war mir vertraut, allerdings ohne den automaten, als den sich der mannshohe Kasten herausstellte: Hinter Glastüren mit Griff stehen darin Tomaten, Eier oder Salatkartoffeln, aber auch pfundweise Bohnen parat. Der Automat akzeptiert Münzen und Scheine. Wir kaufen ein Kilogramm Tomaten, das funktioniert anstandslos. Kartenzahlung ist aber nicht möglich. Interessanterweise empfinde ich das als beruhigend. Oder seltsamerweise? Anscheinend will ich nicht, dass sich in meinem Heimatdorf etwas verändert. Bei eben diesen Bauern, die jetzt den Automat aufgestellt haben, habe ich meine Kindheit hindurch Milch geholt mit einer Milchkanne. Die Bauern halten jetzt längst schon keine Milchkühe mehr, ich wohne nicht mehr in Heimerdingen, aber mit einer mir nur teilweise verständlichen Anspruchshaltung erwarte ich wohl, dass dort auch während meiner oft monatelangen Abwesenheit alles so bleiben möge, wie es mir gefällt. Stellt die nächste Generation Landwirte einen Apparat auf, weil sie vielleicht nicht unbedingt Lust haben, dass wegen einem Kilogramm Tomaten abends noch geklingelt wird, während sie vielleicht gerade selbst Tomatensalat essen oder Netflixen, zeige ich mich verstimmt. Meiner Erinnerung wohlgesinnte Einwohner, die ihre Hühner noch so halten wie es meinem Heimerdingenbild behagt, belohne ich mit Zuneigung (und füttere ihren Hühnern eine beim Automaten gekaufte Tomate durch den Zaun). Offenbar erwarte ich von den Einwohnern von Heimerdingen, dass sie ganzjährig und für immer und ewig dort weiterleben, wie es mir gefällt. In einem doch ziemlich grossen und umfassenden Museum meiner Erinnerungen. Und ja nicht zu viel abstauben; bloss keine Veränderung.

Unschön. Andererseits leide ich ja nicht an Nostalgie. «Das Verschwinden der Wirklichkeit ist nicht so ausschlaggebend, wohl aber der Verlust der Illusion, obgleich das Wort Verlust immer so nostalgisch klingt», sagt Jean Baudrillard. So in etwa geht es mir im Angesicht des Automaten auf dem Bauernhof meiner Kinderzeit. Anderntags stand ich im kleinen Laden der Fruchtsaftfabrik, in der ich in den Schulferien gearbeitet hatte, und war schon wieder enttäuscht, weil es dort jetzt glutenfreies Bier gibt.

Nicht einmal zeitgemäss ernähren sollen sich meine Erinnerungsbewohner. Wenn es nach mir ginge. Das aber auch nur, weil es nicht nach mir geht.

5.9.2019

Erntezeit in Württemberg. Mein Vater hat jetzt ein Smartphone. Aber er schaltet es nur wenig an, weil es für ihn, wie er sagt «eine Datenquelle» bleiben soll. Ausser Haus nimmt er vorwiegend sein altgedientes Klapp-Telefon mit, weil das ihm angenehm kompakt und praktisch erscheint. Das neue Smartphone hat den Status eines Geländewagens mit Vierradantrieb, den man früher für besondere Gelegenheiten in der Garage stehen hatte (und der Normalbenziner entspräche demnach dem Klapp-Handy). Dann kam die Fusion in Form der sogenannten SUV; aber mein Vater ist noch nicht so weit. Ich finde das gut!

Am Vormittag waren wir dann im Stückle. Obwohl die Ernte in diesen Jahr vergleichsweise bescheiden ausfällt, brachten wir dennoch zwei Kisten mit Äpfeln und Birnen zusammen. Vergleichsweise deshalb, weil der Laie doch angesichts des bombastischen Sommers die daraus hervorgehende Ernte sich gleichfalls vorstellen wird. Aber dem ist halt nicht so. Obstbäume brauchen noch einmal ganz andere Konditionen als die Pilzmyzele im Erdreich des Engadin. Gut, aber trotzdem kochten wir dann später noch fünf Gläser voll Birnenmus ein, das, wie meine Mutter es sich gewünscht hatte, so gut wie gar nicht mehr gezuckert war im Vergleich mit dem von mir überparfürmierten vom vergangenen Jahr.

Abends dann: Besuch des Weindorfes in Stuttgart. Ich finde es doch widerlich, dass sich dort mittlerweile das Tragen pseudobajuwarischer Trachten durchgesetzt hat. Besonders aufdringlich am Stand des sogenannten Stäffelesrutschers, wo Kellnerinnen als Xenia Seeberg verkleidet mit arrogantem Getue die ganze schöne Atmosphäre versauen wollen. Gut, dass wir gleich nebenan bei einem weniger auf identitärem Gehabe bedachten Betrieb Platz nehmen durften. Ass hervorragenden Gaisburger Marsch, F. mundete einen Gewürztraminer und auf der Gasse, wo einst Spielwaren Kurz sein Stammhaus hatte, und heute ist da bloss noch ein Flagship von Nespresso, trieb ein buntgestreifter Clown sein Unwesen, der sich mit uns durch Stösse in seine Trillerpfeife verständigte, und teils narrte er die Passanten mit einem grotesk grossen Kamm aus gelbem Plastic, teils wedelte er sich über die Wange mit einem regenbogenfarbigen Staubwisch, und bat dann die Passantinnen um einen einzigen Kuss (oder wie es in Schwaben heisst: Schmatz).

Mein Vater ass einen Sauerbraten aus Rinderherzen. Und später führte er uns noch Dias vor aus Kapadokien, wo die Menschen in Löchern im Kalkberg leben wie in einem Käs‘. Danach, auf vielfachen Wunsch, noch die von der Hochzeit meiner Eltern. Wie leer damals die Strassen waren. Ausser den Verkehrsschildern und ab und an Underberg war damals nichts.

4.9.2019

Wir waren, von Kühen und Fröschen abgesehen, nicht allein dort in der Gipfelnatur (die erwähnten Pferde zogen, noch bevor wir ihren Weideplatz erreicht hatten, als ungeführte Karawane fern durch unser Bild): hoch über uns stand bebend ein Falke. Und aus den Wachholderbüschen und dann auch wieder aus einer kahlen Senke flog ein mir unbekannter Vogel auf. Ich konnte ihn erst abends, zurück im Hotel bestimmen. Es handelte sich um einen Häher, der an dem charakteristisch hellen Bürzel zu erkennen ist, dessen Untergefieder er einem beim Davonfliegen zeigt wie ein bei Ampelgrün davonbrausender Sportwagen seine Rücklichter. Der, übrigens ziemlich grosse Häher lebt angeblich vor allem von den nusshaften Kernen, die er mit schweren Schlägen seines Schnabels aus den Arvenzapfen sprengt. Bis zu einhundert dieser hartschaligen Nüssle staut er in einem Unterzungenkropf, um sie dann, fliegenderweise an geheime Orte zu transportieren. Er lagert sie in Erdlöchern, die er mit seinem Schnabel «einzirkelt». Diese Verstecke können bis zu 15 Kilometer von seinem Lebensmittelpunkt im Wald entfernt gelegen sein. Wie er die Erdlöcher findet, nachdem eine in manchen Jahren meterhohe Schneeschicht darüber gebreitet wurde, das weiss kein Mensch.

Gestern dann bei allerschönstem Wetter unter wolkenlosem Himmel bis nach Sils Maria, wo auf einem Hausdach am Ortsrand ein vergoldetes Glockentürmle im Sonnenschein glänzte und blitzte. Gang durch den Wald über federnde Schichten bis zu einer höher gelegenen Bucht, wo ich der Verlockung des von weitem grün leuchtenden, von nahem jedoch glasklaren Wassers des Bergsees nicht widerstehen wollte. Es war freilich saukalt, aber halt auch unwiderbringlich schön. Das Licht an diesem Tag im Spätsommer liess jeden einzelnen Stein, jede Heidelbeere am Zweig und jeden Punkt auf dem Hut eines Fliegenpilzes (von denen es in diesem Jahr ungewöhnlich viele gibt, aber ebenso Steinpilze und Pfifferlinge), jede Nadel am Arvenzweig trennscharf hervortreten. Natur in High Definition.

Daheim, in der Stunde vor Sonnenuntergang lagen an den Hängen des Hausbergs die Schatten der Lärchen wie Querstreifen über dem Waldbodengrün. Zitternd schwebte der Schatten einer Schweizer Flagge auf der Baumreihe nahe beim Haus.

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