»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

20.12.2019

Gestern abends «Marriage Story»: Der Film hat die schönste Farbgebung seit dem Eissturm. Auch lag da, in der Szene bei der Scheidungsanwältin, ein rosafarbendes Kissen mit langen Haaren auf dem hellen Sofa. Wie am anderen Ende eines Dosentelefons durch die Jahre: Ich erinnerte, wie Irene damals aus dem Kino direkt zu uns gekommen war, um vom Eissturm zu schwärmen. Von der Autoschlüsselparty-Szene war ihr dann vor allem dieses Kissen — im Eissturm ist es ein grünes; die «Haare» daran wirken auf mich eher wie Algen, aber so empfindet halt jeder doch wieder anders — im Gedächtnis hängengeblieben; ich habe ihre Stimme vage im Ohr, wie sie es sang: «Ein Kissen mit gaaanz langen Haaren!»

Vorhut der Kissenszene in Marriage Story ereignete sich neulich erst bei Zara Home, in der Realität. Da hatte ein Stapel von Kissen mit ganz langen Haaren im Regal gelegen. Denen war ich wie nachdenkend durch die von Irene sogenannten langen Haare gefurcht, bloss um festzustellen, was die Set Decorateure des Eissturm längst gewusst haben werden, als sie das Fundstück aus einer vergangenen Epoche in ihre Rekonstruktion einbauten:  Nicht flauschig. Flokatihaft. Ein Ausstattungsmerkmal, ein Wohntrend, aber damit leben?

Marriage Story kommt ganz ohne Rückblenden aus. Sie werden wörtlich wiedergegeben (erzählt).

18.12.2019

Das Wetter orchestriert meine Heilung. Gestern, auf dem Weg vom Krankenhaus in die Stadt, sogar mit blitzblauem Himmel, heute immerhin noch mit schöner Temperatur und beidesmal mit einem Tageslicht, das mich denken lässt: Der Winter ist zuende. Dieses Licht, im Verein mit den feuchten Baumstämmen und Zweigen, dem lauen Lüftchen und einem Strauchgeschehen in diesem einen Vorgarten, bei dem die Knospen schon für rosa Blüten platzen, ergibt das Bild des kampflos verendeten Winters. Kommt da noch was?

Die Heiterkeit, die ich ausstrahle, steckt natürlich an. So betrat ich nach Mittag zum ersten Mal den obskuren Laden für Scheren und Messer am oberen Ende der Münchener Strasse. Obskur deshalb, weil in dessen ausladenden Schaufenstern weder Messer noch Scheren zu schauen sind, sondern vor alledem Postkarten. Ich nahm mir eine auf schöne Weise verwitterte, auch vom Wetter gegerbte, aus einem der zahlreichen Drehständer im Eingangsbereich und betrat den hinter einem gelblichen Windfang gelegenen Geschäftsraum. Der war, wie ich vermutet hatte, sehr gross. Und, wie ich überraschenderweise fand, beinahe leer von Waren. Als ich an den ebenfalls gelblichen Wänden, an denen einst tausende von Messern und Scheren gehangen haben dürften, bis an die Rückwand geschritten war, kam mir aus einer darin eingelassenen Tür, die mir im Nachhinein wie eine Katzenklappe, aber für Menschen gemacht, vorkommen will, eine kleine Frau aus Japan entgegen. Sie hatte eine Kittelschürze an und sagte «Postcard». Der Geschäftsraum war demnach von versteckten Kameras überwacht. Ich ging mit ihr zu dem nahe des Windfang gelegenen Kassenhäuschens. Die Japanerin hatte Flusen im Haar, aber ich brachte es nicht fertig, sie ihr wegzuzupfen. Sie nahm die Karte aus meinen Händen entgegen, wie Japaner Karten entgegennehmen. Sie schaute auf das Motiv und sagte «Opernhaus». Dann öffnete sie die verglaste Tür des Kassenhäuschens und nahm die Karte mit hinein. Ich schaute ihr durch das Türfenster zu, wie sie im Inneren des Kartenhauses noch einmal auf das Abbild der Alten Oper schaute. Dann öffnete sich die Tür, und sie gab mir die Karte zurück. Ich wartete auf ihre Preisforderung. Als ich mein Portemonnaie zückte, hob sie wie beschwichtigend ihre Hand und sagte «Das ist nur so.» Sie verabschiedete sich. Ich verabschiedete mich dann auch von ihr, bedankte mich für die Karte und ging hinaus durch die Eingangstür.

Auf der Lesung von Gerd Koenen, am Vorabend meiner Erkrankung, begrüsste der mich mit dem Ausruf, dass ich ja genau das machte, was er immerschon machen wollte! Ich fragte, was. Er: Na, kleine Alltagsbeobachtungen. Ich sagte, dass er das doch einfach machen sollte. Er aber hatte «dazu» natürlich «keine Zeit».

Abends dann mit Friederike noch stundenlang kreisförmig ausgestochene Plätzchen mit Schokolade überzogen und mit den kuriosen Äuglein aus Zucker besetzt, die ich aus Berlin mitgebracht. Vollendet mit lauter O-Mündchen aus rot eingefärbtem Zuckerguss. Als ich später ins Schlafzimmer kam, wo die Keksgesichter auf dem Fensterbrett trockneten, äugelten sie mich zu Dutzenden an.

 

16.12.2019

Mit der Stadt kam der Humor zurück — wie bei Heidegger die Klinke an die Tür. Im Penny hielt sich als Schlusslicht an der grossen Warteschlange ein im Übermass Beladener. Und dies auch noch im zweifachen Sinn: Beide Hände und die Unterarme voll mit Toastbroat, Bierflaschen und einem sogenannten Pasta Snack; zwischen den Fingerspitzen gefasst wedelte er mit einem Fünfeuroschein hin und her; anscheinend, aber eigentlich wedelte der gesamte Mannhin und her, bloss der Schein hielt noch Stand in seiner Schwebe gehalten — Wie dem auch sei, er streifte mich mit derjenigen seiner beiden Schlagseiten, aus der er das weiche Toastbrot zu mir herüberragen liess wie ein Fühler. Woraufhin ich meine Distanz vergrösserte. Aus seiner kapuzinerhaft anmutenden Kapuze richtete der Schwankende eine Frage an mich. Ich konnte ihn nicht verstehen, sagte «Wie bitte?» «Für eine Entschuldigung reicht es nicht?» Ich bat um Entschuldigung.

Mir kam er nach meinem an ihn gerichteten Wort gefestigt vor. Das alte Schwanken war kaum mehr wahrnehmbar. Auch teilte sich die Schlange zu diesem Zeitpunkt in eine zur linken Kasse und eine zur rechten. Wir stellten uns in getrennten Schlangen weiter wartend an.

15.12.2019

Inzwischen hatte man mich an den Niederrhein gebracht. Wie einen Brief. In der Nacht riss der Sturm von allen drei Seiten her am Haus, wo mir, zwischen den Dachschrägen, dort unter einem Fenster eine Ruhestätte bereitet ward. Beim milden Licht einer Lampe schmökerte ich noch in dem dicken Band «Lexikon des geheimen Wissens», das mir von früheren Besuchen in Allerheiligen vertraut war. Ein anderer Wälzer, mit Propagandafotos aus dem Zweiten Weltkrieg auf über 600 Seiten, der unter anderem die Kapitel «Frauen als Kriegsteilnehmer» und «Das Tier als Kriegskamerad» zu enthalten versprach (beide allerdings dünn), lag bereit. Snacken konnte ich so gut wie nichts; es wirkte doch das Antibiotikum. 

Später wurde ich vom derbe platternden Regen geweckt. Erst im Morgengrauen gab der Ruhe, woraufhin die Krähen übernahmen. Die meldeten krächzend die Positionen der Regenwurmnester im aufgeweichten Ackerboden. Ich konnte es sehen, wie sie sich mit ihren eloxierten Schnäbeln darüber hermachten. Musste wie Spaghettiessen für sie sein. 

Am Abend zeigte Friederikes Mutter uns ihre Lieblingssendung auf Youtube: Sie zeigt das Leben einer schönen Chinesin, die in einem der Welt abgewandten Tal in China lebt, umgeben von einer herrlich in blaugrün strahlenden Natur. Die Chinesin hat sehr lange, seidig glänzende blauschwarze Haare, die sie zu einem minimalistischen Zopf geflochten trägt. Ihre dunkelblauen Kleidungsstücke fügen sich in das angenehme Gesamtbild, sie scheint ein Teil der sie umgebenden Idylle. Friederikes Mutter sagt, dass sie an dieser Sendung vor allem schätzt, dass die Chinesin mit so wenig auskommt. Dass sie mit nur wenig Gerätschaften und halt sehr viel überliefertem Wissen aus den Gaben der Natur sämtliche Reichtümer zu schöpfen versteht.

Die Handlung dieser Sendungen besteht nämlich stets darin, dass die Chinesin aus ihrer ganz in Schiefertönen gehaltenen Hütte in die tropfnasse Welt aus Grüntönen aufbricht, um dort mithilfe einer bei Axel Vervoort in Belgien ersteigerten Asia-Antiquität eine in unseren Augen exotische Pflanze zu ernten, in einem ebenfalls dekorativen Flechtkorb nach Hause zu tragen, um diese Pflanze dann, nachdem sie sie an ihrem aus einem Bambusrohr bestehenden Wasserhahn von den Anhaftungen von Erde und Staub gereinigt hat, vom Strunk bis zur Blüte auf anmutigste Weise zu zerhacken. Lediglich unter Zuhilfenahme von offenem Feuer, einem handgeflochtenen Sieb und einem vermutlich ebenfalls on Vervoort gelieferten Extremwok von circa zweieinhalb Metern Durchmesser, der aber durch die intensive Nutzung während der vergangenen zwölf Dynastien mit einer ans Vantablack grenzenden Patina veredelt wurde, stellt die schöne Chinesin dann eine Mal ums Mal aufs Neue verblüffende Vielzahl von Gerichten her, die sie zum Abschluss jeder Folge gemeinsam mit ihrer vermutlich um die einhundert Jahre alten Mutter in einer Geisblattlaube bei Mondenschein mit Stäbchen mundet.

Das Ganze ist mit einer wunderbar entspannenden Musik untermalt. Dass ziellos asiatische Geklimper war jedenfalls genau das richtige für mich in meiner Rekonvaleszenz. Auch wird man durch das Betrachten der Essensvorbereitungen freilich selbst sehr hungrig gemacht. Und während in der Küche nebenan also ein Abendbrot Gestalt annehmen sollte, schaute ich noch in meine Lieblingssendung, den Weltspiegel. Dort wurde ebenfalls aus China berichtet. Angeblich wird dort nämlich die Armut jetzt offiziell abgeschafft. Gezeigt wurden Menschen, die man aus den weltabgewandten Tälern und Schründen des chinesischen Reiches heraus in komplett neue und eigens zu diesem Zwecke errichtete Städte aus Plattenbauten verfrachtete, wo sie ein neues, ein nicht länger hinterwäldlerisches und von daher auch armes, Leben zu leben hatten fortan. Nur einmal noch, die Kamera des Weltspiegel war dabei, durften sie zurück in ihr altes Dorf. Wobei: Die Hütten, in denen sie aufgewachsen waren, hatte der chinesische Staat inzwischen zerstören lassen. Sicherheitshalber. Da standen nun also die künftig offiziell nicht mehr armen Chinesen in einer an saftigen Grüntönen reichen Natur und schauten mit betretenen Gesichtern auf die Trümmer ihrer Herkunft. Später sah man sie dann wieder in der neuen Wohnung im Plattenbau. An der Wand hing ein ziemlich billig aussehendes Zertifikat in rot auf gelb. Der Sprecher erklärte, dort stünde, diese Familie sei von nun an offiziell nicht mehr arm.

Eine Politik also, die durchaus die Seinsfrage stellt.

14.12.2019

Ob eine neue Stadt nun wirklich gut für einen ist, oder eventuell doch nicht ganz so gut wie gedacht, lässt sich doch im Grunde bloss herausfinden, wenn es einem dort gesundheitlich nicht gut geht.

In etwa in dem Masse unvorbereitet, wie andere wiederum sich vorbereiten lassen auf zum Beispiel eine drohende Infektion mit Grippeviren, indem sie sich mit toten Viren von bis zu vier verschiedenen Stämmen impfen lassen, wurde ich von wundersamen Händen tief in ein Etui hinein geschoben, in dem ich bis heute Nachmittag verbleiben sollte; fiebernd, dämmernd, vor allem still. Auf dem Plateau jenseits der Gesundung und noch vor dem grossen Schmerz drückt sich die Krankheit unwütend und untosend, dabei durchaus belastend aber alles in allem von unsäglicher Mittelmässigkeit geschrieben aus. Ich konnte das nicht lesen, was sie mir damit sagen wollte. Also blieb ich still.

Begonnen hatte das, ganz plötzlich, aber auch bezeichnenderweise während unseres Besuches am Colloquium von Professor Allert. Lorenz Jäger war zu Gast und unterrichtete die Studenten von den Fortschritten an seiner nun schon allmählich mit Ungeduld erwarteten Biographie Martin Heideggers, die 2020 im Herbst erscheinen wird. Es ging, das kündigte Jäger durch sein unnachahmliches Lächeln hindurch an, dabei auch um «Gadamer, wie der die Heidegger’sche Provinzen urbanisiert hat». Professor Allert, sonst nicht um eine Pointe verlegen, begnügte sich im Angesicht dieser Steilvorlage mit einem Griff in die Haribo-Tüte der ihm zugewandt plazierten Studentin. 

Jäger biss von einem Spekulatius ab.

Genau dort, also in diesem Augenblick, durchfuhr es mich wie von dessen Wimpernschlag getroffen. Auf dem Heimweg, der uns natürlich entlang des herrlichen Hauptgebäudes der Universität führte, das, wie jedermann in Deutschland weiss, einst als Firmenzentrale für die IG Farben errichtet ward, ging es mir zunehmend schlechter. Daheim angelangt, brachte ich es gerade noch fertig, unter die bestickte Decke zu sinken. Die nächsten Tage vergingen wie im Tran (Robert Smith hat das unnachahmlich gut beschrieben auf dem Konzeptalbum zum Thema Fieber The Head On The Door): Lesen ging kaum, allenfalls vertrautes; an das Schreiben war nicht zu denken.

Heute früh nun aber, nach dem Besuch in einer dubiosen Zahnarztpraxis, wurde ich in kompetente Hände am Universitätsklinikum überstellt. Schon nach wenigen Stunden verliess ich diesen herrlichen Ort als ein gänzlich wiederhergestellter Mann. Im Vollbesitz meiner Sprache. Pastos in Öl geschmotzte Wolken trieben in rascher Folge über den Main.

Jäger übrigens, das fiel mir auf dem Heimweg ein, hatte den Studenten zum Abschied mit auf ihren Heimweg gegeben, dass Heidegger fest in seinem Gefühl stand, dass ihm von den Nationalsozialisten keine Gefahr drohen konnte — er sah sich durch das Sein beschützt.

11.12.2019

12 Uhr 48: Es schneit.

10.12.2019

Ein greiser Schwan entsinnt sich seiner Pracht …

Allzu bald waren die Tage vergangen. Im Elternhaus träume ich so ganz anders geartete Träume. Ich denke, dass es mit meinen Handgriffen an,  und an dem Anblick der vertrauten Gegenstände dort liegen wird: Ich kenne die meisten nun so lange und damit auch gut, wie sonst nichts. Jedes Aufschliessen des alten Türschlosses dort mit dem alten Schlüssel setzt wohl bei mir einen tiefer eingelagerten Mechanismus in Gang. Das Muster dieser Bewegung, geprägt durch die jeweils charakteristischen Widerstände der Materialien von diesem Schlüssel, diesem Schloss, diesem Türblatt, dieser Schwelle bei meinem Öffnen dieser Tür ruft dieses Bewegungsmuster wach, das mir das Heimkommen versichert. Durch seine Bewegung selbst hat es die Funktion von Stiften in einem Schlosszylinder; es schliesst mir die innere Welt heimischer Gefühle auf. Und von daher dann diese Träume.

Für die Behaglichkeit To Go kauften wir uns auf dem Klösterlichen Weihnachtsmarkt in Maulbronn zwei Schafsfelle. Friederike eines mit dichtem, kurz geschorenem Haar, das schaumig federt, ich eines von einer Schnucke, es sieht wie die Perücke von Toni Erdmann aus. Wärmend polstern tun beide. Sie werden uns überleben.

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