»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.12.2020

Einst, einmal vor langer, langer Zeit, damals, in den Wochen des weltweiten Lockdown… Ich kann es mir gar nicht oft genug erzählen, jeden Tag noch einmal, immer wieder — derart frissoniert mich die epische Dimension. Der schöne Raum des historisch einmaligen Weltereignisses. Was sich darin alles erzählen ließe…
Damals, ich glaube, es war im April, zogen in dem gegenüber gelegenen Haus, vis-á-vis unseres Fensters zur Straße, zwei ein, eine Frau und ein Mann. Aber somit ein Paar? Das ließ sich von uns aus betrachtet nicht eindeutig sagen, da sich das eventuelle Paar in dem von unserem Fenster einsehbaren Raum einen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. Dort saßen sie, wenn sie saßen, einander gegenüber an einem Tisch — ich nehme mal an, dass es sich dabei um eine Tischplatte handelte, die auf einem Gestell von Egon Eiermann auflag oder ruhte — und sie sitzen dort, wenn sie sich in dem von unserer Seite aus einsehbaren Teil ihrer Wohnung zeigen, noch immer. Aber heute früh — so fangen die besten Geschichten an — saßen sie dort einander an dem Tisch gegenüber und etwas war anders: Sie trugen jetzt beide Masken. Einwegmasken aus türkisfarbenem Material. Und hieraus resultierten freilich einige Fragen, bald wurden es so viele (Fragen), dass beinahe schon nichts mehr von der Gewissheit der vergangenen Monate seit dem weltweiten Lockdown und damit auch dem Einzug des vermeintlichen Paares Bestand haben kann. Eventuell habe ich sämtlich auf falschen Annahmen errichtet. Und nun wankt zwar nicht alles, aber es steht zumindest einiges davon zur Disposition (freilich nicht weltweit, sondern lediglich in meiner Welt).
Zudem fehlte diesem vom Fenster gerahmten Bild noch der Schriftzug des New Yorker. 

1.12.2020

Der erste Schnee. Sagt heimlich voilà! Nur eine dünne Schicht auf Dächern und dem Rasen: leuchtend in der Dunkelheit. Heute früh, als ich in die Küche kam. Aus dem Fenster schauend sah ich den Schnee, seine Kristalle, auf den Blüten der Geranien liegend. Was wäre aus dem Hochzeitskleid, was aus dem Papier geworden, wenn Schnee eine ganz andere Farbe hätte? Die Sonne geht auf, heute bleibt sie unsichtbar, es wird einfach gleichmäßig heller; eintönig auch. Der Schnee fängt an zu tropfen.
Wenn ich damit aufhöre, von mir selbst auszugehen, fällt mir zu anderen gar nichts mehr ein.

29.11.2020

Heute also endlich wieder Vince Guaraldi. Ohne A Charlie Brown Christmas könnte bei mir keine Adventsstimmung aufkommen. Verwehte Kinderstimmen, perlendes Klavier: auch der Erneuerer von Guaraldi, Chilly Gonzales hat dem nichts hinzuzufügen. Ich hätte übrigens nichts dagegen gehabt, unserem Repertoire mit A very chilly christmas noch etwas hinzuzufügen, aber an die Klasse von Vince Guaraldi kommt er mit seiner Weihnachtsplatte halt nicht heran. Möglicherweise ist Weihnachtsmusik nicht bloß die einträglichste, sondern halt auch die problematischste, weil wahrhaftige Form in der Popmusik. Selbst All I Want for Christmas Is You war ja ernst gemeint. Schön auf dem Album von Gonzales ist einzig das Stück mit Leslie Feist und Jarvis Cocker, das wiederum hat aber mit Weihnachten nichts zu tun. Perfekte Weihnachtsmusik, klassische muss halt beides in sich vereinen: Empfundenheit und Weihnachtlichkeit. Und im Rest des Jahres bleibt die Scheibe tabu.

28.11.2020

Auf Nachtigallenfüßchen nähert sich die alte Originalitätsmüdigkeit. Vom Jahresende her kommt sie auf mich zu. Wir kennen uns: die Gute! Lass‘ die Zeitung jetzt öfter mal liegen. Die neuesten Takes, mich geh’n sie nichts an. Wie es scheint. Ich will etwas anderes. Was, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich weil ich es schon hab‘.

Aber wer ist Patricia Lockwood? Sie schreibt ganz herrlich, wunderbar: A twenty‐three‐year‐old influencer sat next to her on the couch and spoke of the feeling of being a public body; his skin seemed to have no pores whatsoever. “Did you read . . . ?” they said to each other again and again. “Did you read?” They kept raising their hands excitedly to high‐five, for they had discovered something even better than being soul mates: that they were exactly, and happily, and hopelessly, the same amount of online.

Dienstags soll es hier regnen und schneien (gleichzeitig). Nicht einmal mein Barometer spricht mich noch an. Auf dem Weg heim zischte mir heute ein schwarzer Mann zu, ob ich Kokain brauchen könnte. Er hatte wohl welches zu verkaufen, aber ich fragte mich, wer wohl jetzt, in dieser Situation, ausgerechnet Kokain nehmen will? Gestern hat Friederike mir eine Seife mit Zirbenduft geschenkt und seitdem will ich mich andauernd damit einschäumen. Gerade nachts. Kaum aufgewacht, geht das von vorne los.

26.11.2020

Die Tannenschäume sind zurück. Natürlich «nur für kurze Zeit». Und wie Pilze hatte ich sie im Supermarkt entdeckt, indem ich dort absichtlich unabsichtlich nach ihnen Ausschau gehalten hatte: so waren sie aufgetaucht, in meinem Augenwinkel. Ein niedriger Stapel bloß, bescheiden. Vermutlich sogar ein Überbleibsel aus dem vergangenen Jahr. Sogenannte Ladenhüter (das haben sie mit den Pilzen gemein: das Behütete oder Hütende?)
Es sind die kleinen Dinge, angeblich, um die es in des Lebens Seele geht. Gestern zum Beispiel, wir waren gerade für zwei Stunden obdachlos geworden, hatten wir uns auf die Suche gemacht nach diesem sagenhaften Lieferanten, der uns neulich die frittierten Pizzen gebracht hatte. Von einer veritablen Pizzeria konnte nicht die Rede sein, allenfalls von einer Geisterküche. Aber unter der angegebenen Hausnummer war selbst davon nichts zu finden. Im Hinterhof dagegen fiel uns ein Wohnwagen auf, der mit der Nationalflagge Jamaikas geschmückt war. Und tatsächlich hatte dort eine jamaikanisch wirkende Frau Jerk Chicken mit Reis zubereitet. Das Geflügelgericht dort auch in ihrer Anwesenheit zu verzehren war freilich nicht gestattet, also nahmen wir ein paar Meter weiter auf einer Streusalzkiste Platz. Es war etwas kühl. Acht Grad fehlten ungefähr, aber dann kam die Sonne heraus. Und mit einem Mal war es hell.

24.11.2020

Beinahe fünf Stunden lang waren die Kunden von Vodafone gestern von der Außenwelt abgeschnitten. Auch ich gehörte zum Kreis der Betroffenen, allerdings bemerkte ich den Ausfall des Mobilfunknetzes erst spät, kurz vor dem Abendbrot. Niemand wollte  mich erreichen. Und mein Telefon benutze ich selbst überwiegend zum fotografieren und zahlen — Das fiel mir am Abend noch ein, als ich vor dem Einschlafen noch in einem Buch las und beim Umblättern auf der übernächsten Seite gelandet war. So energisch ich hin und her blätterte, die Seite mit der folgenden Zahl ließ sich nicht auffalten. Ich war an einer Stelle angelangt, wo ich unbedingt erfahren wollte, wie der Gedanke nun weitergehen würde; ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass ich es wissen müsste. Dass, wenn diese Seite — aus welchem Versehen des Buchbinders auch immer — nun fehlte, es mir ähnlich schlimm ergehen könnte, als wenn mir ein Wort auf der Zunge liegt (und dort kleben bleibt). Aber so war es nicht, endlich löste sich die verborgene Seite und mit ihr auch der gedankenauflösende Satz.

Die Zeit vergeht halb so langsam derzeit. Es ist aber nicht so, dass ich deswegen doppelt soviel davon hätte. Die paradoxe Zeit vergeht in mir. Ich merke es daran, dass ich jedes Mal erstaunt bin, dass ich etwas essen will — «schon wieder».

22.11.2020

Im großen Christstollentest der Sonntagszeitung gewinnt der aus dem Café Schafheutle in Heidelberg. Ein Café also, das ich bis heute bloß aus Büchern kannte. Hermann Lenz schreibt, dass er dort als Student der Kunstgeschichte Zeit verbracht hat. Im Buch selbst allerdings erfährt das sein Leser nicht direkt, sondern über den Umweg einer Schwester, die davon wiederum in einem unveröffentlichten Manuskript liest. Eventuell gab es dieses Manuskript sogar, dann war es wahrscheinlich das Manuskript zu jenem Buch, Andere Tage, in dem die Schwester Margret als in einem unveröffentlichten Manuskript ihres Bruders Eugen Rapp lesend beschrieben wird. Auch nicht unwahrscheinlich, dass die Figur der Schwester nicht vollständig fiktiv ist, der Blick in ihr lesendes Bewußtsein ist es allerdings. Das Café Schafheutle hingegen, das ich bis heute für einen Einfall des Autoren gehalten hatte — zumindest den Namen dieses Cafés —, gibt es also wirklich. Noch immer. Das Café hat eine Website, auf der auch besagter Christstollen abgebildet ist, der übrigens vom Patissieur des Hotel Adlon mit einer glatten Eins ausgezeichnet wurde. Ein Käpsele von einem Stollen. Davon steht auf im Webshop des Café Schafheutle natürlich nichts. Hinfahren lohnt sich für mich auch nicht, obwohl Heidelberg nah wäre. Eine Scheibe vom Stollen bestellen, im Café Schafheutle den Sonntag verträumen, das wäre jetzt ganz nach meinem Geschmack.

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