10.8.

In der Redaktion wurde der Wasserspender gegen ein verbessertes Nachfolgermodell ausgetauscht. Es ist von seiner Form her noch glatter, im Grunde ist es ein Block aus glänzend schwarzem Material, in dessen einzige Ausbuchtung man ein Glas stellen kann. Der Wasserwunsch wird mit einem Fingerspitzendruck auf eines von drei blau leuchtenden Quadraten angemeldet. Je nachdem, welches man mit dem Finger antippt, fällt dann genau ein Glasschwer gekühltes, sprudelnd kaltes oder zimmerwarmes Wasser aus der Oberkante der Einbuchtung in das Glas. Das Glas gehört zum Lieferumfang des Spenders. Es scheint sich mit dem Gerät zu verständigen. Es wird immer gleich hoch befüllt. Das sprudelnde Wasser sprudelt stark. Schon nach einem Schluck habe ich hundert nadelspitzenfein eingetrocknete Wasserflecken über die Außenseiten meiner Brillengläser verteilt.

Mittags kaufte ich mir zwei Äpfel, aber es war nicht dasselbe. Bei unserem sonntäglichen Spaziergang über die Streuobstwiesen entlang der Ortsgrenze von Heimerdingen war mein verschüttet geglaubtes Apfelwissen aufgefrischt worden wie bei einer dieser Venusmuscheln, die heute noch verkauft werden, damit man sie zu Hause in ein Glas Wasser wirft. Nach ein paar Stunden haben sich dann unter Wasser die Schalen geöffnet und eine Blume aus grünem und rotem Pergamentpapier steht, unter jedem sich nahenden Schritt erzitternd, im Glas.

So ähnlich also. Es war aber auch ein perfekter Tag, perfekt für das zarte Erblühen und überhaupt, an dem wir zuvor mit dem Auto nach Bad Liebenzell gefahren waren, vorbei am Kloster Hirsau, wo am Vorabend Sting auf einer in die Sandsteinruine hineingebauten Freilichtbühne aufgetreten war. Man ließ uns trotz laufender Um- oder Abbauarbeiten auf das Gelände, als mein Vater auf uns, den weitgereisten Besuch verwies. Im hinteren Garten, der einmal als Friedhof für Mönche angelegt worden war, im 11. Jahrhundert, gingen wir von einer der erhaltenen Grabplatten (aus Sandstein) zur nächsten, um die Inschriften zu entziffern – so dies halt möglich war, denn bis zum 14. Jahrhundert benutzten die Steinmetze wohl eine Art lateinischen Code, der aus einer sinnlos erscheinenden Aneinanderreihung von Großbuchstaben bestand; dann aber, und das wurde uns in Hirsau explizit an der Gestaltung einer Sandsteinplatte aus dem 15. Jahrhundert vor Augen geführt, wird die graphische Gestaltung plötzlich wichtig, ja die Inschrift auf besagter Platte hatte ein geschnörkeltes A, das mich an die mittlere Phase Albumdesign von The Cure erinnerte. Seltsam, dass es in den nachfolgenden Jahrhunderten dann wieder vorbei war hinsichtlich einer Formensprache, die wir heute als zeitlos bezeichnen.

Dem Kloster gegenüber, vor dem steilen Hintergrund des schwarzgrünen Schwarzwaldes, der hier über die Hänge herunterzulaufen scheint wie Raclette: das Institut des Dr. Römer, aus dessen Privatklinik es verführerisch nach Suppe duftete. Dubios allenfalls aber der Insassen wegen, die vor dem großen Fachwerkhaus mit Schindeldach auf Bänken aus Sandstein saßen, die um eine Telefonzelle herumgruppiert worden waren. Einer hatte sich zur Hälfte ein Chanel-Kostüm umgeworfen und ein jeder seiner Fingernägel war in einem anderen Metallic-Ton lackiert. So rauchte der eine dicke Zigarre. Aber hektisch. Das war also eine Privatpsychiatrie. Dass man das auf dem Land aus wenigen Indizien herleiten kann.

Im Café an der Kurpromenade von Bad Liebenzell saßen wir bald vor vier Stücken Schwarzwäldertorte, die hier, von dem Heiratsschwindlercafé in Baden-Baden abgesehen, in ihrer spitzenmäßigsten Bestform hergestellt und serviert wird, obwohl das in Anbetracht eines Tortenstücks nach nichts Außergewöhnlichem klingt. Ist es aber. Und ich hatte Black Forrest Cake schon im Café Facebook von Addis Abeba probiert. Und Friederike in Kathmandu. So ganz leicht herzustellen oder nachzumachen ist diese angeblich zu Tode gebackene Torte nämlich auch wieder nicht. Wenn aber, dann. Oder um es mit den Worten eines Traumgreises aus dem Café Mozart* in Frankfurt zu sagen: »Torte schmeckt immer!« Aber die Schwarzwälder halt nirgendwo sonst so wie dort an diesem Sonntagmittag. Was vermutlich, wie bei psychedelischen Drogen, am glücklichen Zusammenspiel von set und setting gelegen haben wird.

Wie anders ruhig es in der Stadt war. Selbst die als Totenstille wahrgenommene Ruhe zwischen Mitternacht und der Stunde vor Sonnenaufgang bei mir draußen am schon nicht mehr innerstädtischen See hat noch immer ein städtisches Grundrauschen (und in jeder Nacht um zwei Uhr fährt ein beinahe minutenlanger Güterzug durch die dann schon längst geschlossene Station hindurch und weiter in Richtung Potsdam), in Heimerdingen gibt es nichts davon, nicht einmal mehr heimkehrende Autos von Heimerdingern waren zu hören, da Schulferien.

*Wo es seit neuestem in der Platte eines der Tische vor der Tür des schönen Cafés eine goldene Plakette gibt, auf der eingraviert steht, dass an diesem Tisch Bodo Kirchhoff seine mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnete Novelle Widerfahrnis verfasst hat. Verfasst haben wird. Empfangen vielleicht sogar auch. Also dass sie ihm dort widerfahren ist.