10.9.

Seitdem es immer früher dunkel wird, könnte ich gut auch immer früher schon ins Bett. Gerade wenn es, wie gestern, noch einen schönen Sonnenuntergang gab (ein himbeerfarbener Streifen mit einem großen, orangefarbenen Punkt in der Mitte, wie eine Infrarotaufnahme der japanischen Nationalflagge), habe ich eigentlich genug gesehen und meine Augendeckel zeigen sich bereit zum Schließen.

Nun musste ich gegen zehn noch einmal in die Innenstadt, um die Wiedereröffnung der Schinkel-Klause zu besuchen – ein Fest, dessen Ausmaße von Jan als »epochal« vermutet worden waren. Auf dem Bahnsteig wurde ich von zwei eleganten Herren aus Indien angesprochen. Derzeit finden andauernd unangekündigte Gleisänderungen statt, die Fahrgäste müssen reflexartig auf die plötzlich umschnappenden Anzeigetafeln reagieren können, um die irgendwo außer der Reihe ein- und rasch wieder ausfahrenden Züge nicht zu verpassen, oder, beinahe noch fataler: zu verwechseln. (Dann kann es passieren, dass man in Oranienburg landet; was ich einem Inder nicht unbedingt anraten kann. The World’s Most Dangerous Places aus dem Verlag Collins übrigens auch nicht. Dort rangiert Oranienburg auf Platz acht zwischen Kolumbien und Sierra Leone.)

Die Herren waren auf dem Weg zum Westkreuz, vermutlich wollten sie ins Artemis, ich bot Ihnen an, mich zu begleiten (also in meine Bahn, denn die hielte dort U-Punkt A-Punkt). Auf der Fahrt erzählte mir der eine von ihnen von seinen Geschäftsreisen und stellte dabei auch mir recht viele Fragen. Aufgrund meines mimetischen Defekts antworte ich Personen, die eine Sprache mit Akzent sprechen, unwillkürlich ebenfalls mit diesem Akzent, also unterhielt ich mich mit dem Mitreisenden mit einem auch auf diese Weise, als ob ich unter meiner Zunge eine Murmel gefangen hielte.

Woraufhin er mich freundlich anlächelte, um mir ein Kompliment zu machen. Er fragte mich zunächst, woher ich stamme. Ich wies aus dem Abteilfenster, vor dem, durch die Dunkelheit unsichtbar gemacht, der Grunewald, zumindest Teile davon, vorüberflog.

»You speak very good English. Very good pronouncation.«

»That’s our schooling system. And of course MTV.«

Er schüttelte den Kopf. Ich konnte mich gerade noch beherrschen. Das Westkreuz war erreicht. Ich wies die beiden darauf hin. Nun wurde mir erklärt, dass sie eigentlich nach Charlottenburg wollten. Auch das war möglich mit dieser Linie. Am Savignyplatz verabschiedeten wir uns.

Die Eröffnungsfeier fiel dagegen etwas ab, aber gut: Es handelte sich ja um verschiedene Dinge. Ich interessiere mich für Räume weniger als für Pflanzen oder Tiere. Das geht auch Katharina Koppenwallner so, erzählte sie mir jedenfalls gestern, als ich mich verabschiedete. Eine Art Höhepunkt bestand im Auftritt des Ehepaares Grässlin, mit deren Kommen ich nicht gerechnet hatte. Und gerade jetzt, wo ich mich, bedingt durch das Manuskript von Joachim Lottmann, doch etwas intensiver mit Martin Kippenberger beschäftigt hatte. Sehr schön, Herrn Grässlin vorgestellt zu werden. Er sprach auch mit interessantem Akzent, aber unser kleines Gespräch währte nicht lange genug, dass ich angesteckt wurde. Dazu war es schlicht auch zu laut. Und der arme Herr Grässlin trug Hörgerät (ich stelle mir, vermutlich irrigerweise, immer vor, dass ein Hörgerät wie ein Verstärker wirkt, und seinen Träger alles doppelt und dreifach so laut hören macht wie unter Folter – Hörgerät kommt für mich wirklich niemals in die Tüte!!!). Die Musik, die in dem achteckigen, bis auf eine Bar vollkommen leer geräumten Raum gespielt wurde, sollte von ein paar elastisch gekleideten Tänzern konkret in Bewegungen umgesetzt werden. Da hätte man vielleicht stundenlang zugucken können, aber dazu war es einfach auch zu stickig, weil die Fenster nicht geöffnet werden konnten. Selbst als sie geöffnet wurden, kam es zu weiteren Anfällen von Schwindel und Schwäche.

All das spielte sich innerhalb einer Stunde ab. Ich unterhielt mich ausführlich mit Alexander Schröder über maritime Themen und nahm seinen Rat, meine Haare mit Heilerde zu waschen (»weniger aggressiv«), gerne an. Dann fuhr ich wieder nach Hause. In der S-Bahn saß mir dieses Mal ein eigentlich nett aussehendes Paar in meinem Alter gegenüber. Leider erzählte der Mann ihr dann stationenlang die Handlung von Blade Runner nach, obwohl sie ihn gleich zu Anfang daran erinnert hatte, dass sie sich bekanntlich nicht für sogenannten Science-Fiction interessiert. Worauf er, wie kann man so sein!, andererseits hatte er Recht, sagte: »Komm, der spielt im Jahr 2019, das ist gar nicht mehr lange hin.«

Na gut. Ich war jedenfalls froh, als ich auf meinem Balkon angelangt war. Der Garten lag im Dunkeln, der See beeindruckte durch Stillhalten. Dann sprangen die Scheinwerfer an, und eine Füchsin oder ein Fuchs betrat tänzelnd die feuchte Wiese. Die veranstalten hier derzeit ihre allnächtlichen Paarungsspiele. Säugetiere tragen länger als Vögel. Die sind erst wieder im Frühjahr dran.