11.2.

Auf einem der Lieder, die du mir geschickt hattest, setzt die Tonspur zweimal aus. Wahrscheinlich hast du am Kabel rumgemacht oder E-Mails gecheckt, auf jeden Fall höre ich dies Stück andauernd, denn diese Aussetzer: die sind für mich du.

Der Sonnenaufgang verlief heute morgen exakt so, wie ich ihn vor vier Jahren bereits beschrieben hatte. Leider.

Auf dem Weg nach Nizza, ein Spaziergang entlang der Küste von nicht einmal eineinhalb Stunden, entdeckte ich, dabei steil abwärts voranschreitend, dass seit diesem Morgen La Péiade zu verkaufen stand. Derzeit sind hier viele Häuser zu haben, allein in meiner Straße sind es drei, und diese Straße ist nun wirklich nicht lang, aber La Péiade ist etwas Besonderes, denn es handelt sich um ein über das Niveau der abwärts führenden Montée de la Bourgade erhabenes Gehöft zweier im rechten Winkel ineinander stoßender Gebäuderiegel, die somit einen Innenhof umschließen – weit genug, um dort etwa Apfelwein zu keltern, oder einfach so bei chronisch gutem Wetter mit Freunden herumzusitzen. Der Hof wie auch die Fassaden sind zudem so ausgerichtet, dass über den größten Teil des Tages der Sonnenschein auf La Péiade fällt.

Ohne die auf dem Schild angegebene Nummer anzurufen, wusste ich, dass der Kauf des Anwesens nicht mehr kosten dürfte als ein paar Sack Zement.

Wenn hier, in der Gemeinde Cagnes-sur-Mer, Häuser versteigert werden oder Ladeneinheiten, findet das nach einem Ritual statt, bei dem der Auktionator eine Kerze anzündet und so lange diese herunterbrennt, darf geboten werden. Erlischt ihre Flamme dann endlich, wird im Namen des Letztbietenden der Zuschlag erteilt.

Verführerisch, das alles, zudem schien ja bereits wieder die Sonne, aber in unserem letzten Telefonat hatten wir gleichzeitig festgestellt, dass wir beinahe nichts so sehr fürchten, wie sesshaft zu werden. Und zwar nicht einmal der Möglichkeit einer festen Behausung wegen, nein, es ist unsere Furcht vor dem Verlust der allumfassenden Neugier und eines generell auf das Leben gerichteten Interesses, das uns anscheinend und somit verbindenderweise schreckt.

Auf einem Kongress zur Zukunft des Wohnens, der passenderweise in Wolfsburg abgehalten wurde, erklärte Peter Sloterdijk seinem Gesprächspartner Werner Sobek, dass Menschen seiner Ansicht nach ihre Wohnungen vor allem zu dem Zweck einrichteten, um die darin eingeräumten Möbelstücke zum Verschwinden zu bringen.

Darüber hinaus, und dazu wurde ein Entwurf Werner Sobeks projiziert, bei dem es sich um eine eiförmige Konstruktion aus semi-transparenten Kunststoffen handelte, gelagert über der emporjagenden Brandung auf einer argentinischen Klippe, darüber hinaus also ginge es ihm selbst, Sloterdijk, ja wohl ebenso wie ihm (Sobek) fürderhin um den zentral gewordenen Begriff des »Kosmischen Camping«.

Das ist so bei Peter Sloterdijk. Man kann dann oft selbst nach Jahren nicht viel mehr an eigener Meinung oder gar Erkenntnisgewinn hinzufügen, als: genau. Stimmt so. Finde ich auch.

Kosmisches Camping – ich meine: Allein, wie das klingt!

Wer wollte das nicht: kosmisch campen? Es sei denn er wüsste keinen dazu geeigneten Partner, denn alleine zu campen ist doch etwas öd‘ – vor allem bei dieser Aussicht!!!

Das rhetorische Genie Peter Sloterdijks, das ich sowohl verehre wie auch beneide, lässt sich ja nicht einfach mit dem Verweis auf den Begriff des Sternenzeltes entzaubern oder mit einem Hinweis auf obskure Gedichte von Hölderlin oder Novalis. Wer die Vorlesung von Peter Sloterdijk über Ödipus kennt, der wird wissen, dass er nicht nur an das glaubt, wovon er erzählt, sondern strikt danach handelt: Wohin auch immer er seinen Stab in den Erdboden rammt, ist der Grund Akademos geweiht; dann ist dort Akademie.

Auch in Wolfsburg. Selbst in Cagnes-sur-Mer würden dem Meister die Assoziationen alsbald nur so einfallen wie Stukas Over Disneyland.

Mittlerweile war ich unten am Meer angekommen. Der Himmel war blau, comme d’habitude, aber in einer Nachfolge der englischen Sturmfront herrschte nun der Tramontane, gefürchteter noch als der Mistral. Der TM gilt als streng und angeblich macht er durch einfaches Anhauchen unweigerlich krank – warum bloß?

Weil er aus Marseille kommt. Sagen die Leute. Das Gute an Stürmen ist, finde ich, dass dann jede Menge interessanten Zeugs an den Strand gespült wird. Außerdem gibt es ja Strickjacken.

Der beste Abschnitt der Strecke nach Nizza kommt auf Höhe der Monstranz eines Einkaufszentrums namens CAP 3000, das in seiner ausufernden Wahnwitzigkeit selbst noch die Wohnanlage Baie des Anges, gelegen kurz vor Antibes, in den sogenannten Schatten stellt. Morgens um kurz vor acht sind die Diskotheken verwaist und es sitzt niemand mehr dort oder parkt. Es gibt bloß noch Möwen. Und Sonne. Nicht einmal mehr Müll. Dazu höre ich Das Rote Album von Tocotronic, auf dem das zweite Stück mit diesen irren Sphärenchören anhebt (oder beginnt). Der Rosmarin blüht hier ja ebenfalls rot um diese Zeit. Aber wenn man schließlich hier wohnte – wie lange noch fiele uns dann noch auf?

Sollte, oder muss, das Leben denn allein aus diesem Grunde heraus nicht aus einer unablässigen und von daher auch stets ein bißchen schmerzhaften Kette von Abschieden bestehen?

Und, wenn ja: Was ist dann wichtig?

Ich weiß es, aber es ist echt schwierig. Nämlich: dass das kleinste Glied dieser Kette aus unzertrennlich verschmolzenen zwei Teilen besteht.

Und ich weiß halt, dass Chantal eine Affäre hat. Ich sehe sie jetzt häufig am Nachmittag vor dem historischen Mühlrad von 1482 an der Burgmauer sitzen. In der halben Stunde vor dem Aperitif. Sie telefoniert mit einer so ganz anderen Stimme als mit jener, mit der sie gleich mit ihrem Mann sprechen wird. Und sie raucht keine einzige Zigarette dabei, gleich aber wird sie acht bis zehn rauchen, und er wird ihr eine neue Schachtel holen aus der Boîte A Priser. Dann gehen sie heim.

Ich will gar nicht wissen, ob er weiß, dass ich weiß; oder ob er überhaupt etwas weiß. Aber ich würde uns das gerne ersparen. Also dir. Und mir. Wegen uns.