1.12.

Bei Regen eingeschlafen, bei Regen wieder aufgewacht. Dabei hatte ich gestern früh noch gedacht, es könnte vielleicht Schnee daraus werden, weil da ein Geruch war in der Luft zwischen den Tropfen, der hatte so dieses Scharfe, eine metallische Note, die darauf hindeuten kann.

Im Sandbuch gelesen. Eigentlich hatte ich bloß nachschauen wollen, ob Borges den Duft der Schneeahnung erwähnt, aber schon sein Vorwort ist so herrlich formuliert. Das Buch ist 1975 erschienen, da ist er schon beinahe blind, kann lediglich zwischen Lichtern und Schatten unterscheiden und nimmt diesen Abglanz in Gelbtönen wahr (ein paar Jahre später ist es ein dunkles Orange, elf Jahre später ist er tot): »Ich wollte in diesen Blinden-Exerzitien dem Beispiels von Wells treu sein: die Verbindung eines ebenmäßig schlichten, zuweilen fast mündlichen Stils mit einem logisch unmöglichen Inhalt«.

Das Sandbuch enthält seine einzige Liebesgeschichte, Ulrika, und darin geht es ums Schneien. Der Erzähler, ein Greis wie in allen dieser dreizehn Erzählungen, die das Buch enthält, lernt am Rande eines Philologenkongresses eine Frau aus Norwegen kennen, eben diese Ulrika. Sie steht mit dem Rücken zu ihm, als erstes hört er sie sprechen, sie sagt: »Ich bin Feministin. Ich will die Männer nicht nachäffen. Ihr Tabak und ihr Alkohol sind mir zuwider«.

Sie ist, das wird er wenig später feststellen, »schlank und groß, mit feinen Zügen und grauen Augen. Sie lächelte schnell und das Lächeln schien sie zu entrücken«.

Am nächsten Morgen macht er beim Frühstück einen Scherz übers Spazierengehen allein zu zweit, den er von Schopenhauer hat. Den findet sie gut, sie gehen zu zweit. Von da an lässt Borges die Zeit rückwärts laufen, aber in zwei verschiedene Richtungen: Sie wird immer älter, er immer jünger. Da die gesamte Erzählung vier Seiten lang ist, geschieht das in wenigen Sätzen, wobei der gemeinsame Spaziergang schon eine Seite beanspruchen darf. Es kommt auch zu einem Kuss (auf Augenlider und Lippen), die große Liebe füreinander wird auch ausgesprochen, aber dann treibt Ulrika ihn schon zur Eile an, da sie den Gasthof noch erreichen müssen, bevor ihnen die Zeit endgültig zerronnen sein wird. Es ist, als ob sie sich, die zwei Figuren in einer Erzählung sind, tatsächlich auch als solche erkennen können und dabei trotzdem noch lebendig sind. Lesend erreicht man mit ihnen das Zimmer unter dem Dach des alten Gasthauses, es hat angefangen zu schneien, der Himmel löst sich auf in Flocken, wie der Talar eines Priesters, der in Fetzen davon geweht wird, aber dann erst erkennt man, dass es Krähen waren und dass dort niemals ein Priester war oder ist.

Alterslos strömte die Liebe im Dunkel, und zum ersten und letzten Mal besaß ich Ulrikas Bild.

Aufzuwachen, wenn es über Nacht geschneit hat, und man das schon von der Art her, wie man geschlafen hat, weiß oder ahnt. Wie es bei Borges steht: Ich fühlte, dass es stärker schneite. Und dann noch vor dem Aufklappen der Augendeckel – an der Geräuschkulisse. Dann am veränderten Licht, an der Lichtstimmung, der Lichtkulisse. Später dann auch an einem veränderten Appetit auf Skifahrergerichte (wenn man je einmal Skifahren gewesen war). Allgemein auf Schmalziges, auf Schokolade und Käse, harte Würste, auf Fettbatterien. Ich mag Schnee lieber anschauen als anfassen. Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn Schnee schmilzt.