11.8.

Beim abendlichen Betreten der S-Bahn vernahm ich schwäbische Laute. Da stand eine Gruppe von älteren Menschen am Fenster, sie schauten hinaus durch die Glasröhrenwand des Hauptbahnhofes hindurch auf das verzerrt dargestellte Kanzleramt und auf etwas, was für Kenner ganz klar die Schweizer Botschaft war, und unterhielten sich gut gelaunt über den »Mordsbahnhof«. Im Sinne von Mordshunger also, ein Riesenbahnhof, einer der alles verschlingen könnte und der selbst der allerriesengrößten Reiselust von allen als unerschüttelicher Nimmersatt entgegentritt.

Kann man so sehen. Aber in einem Hegelschen Sinne halt auch komplett anders, wie zum Beispiel jene Damen vom Fach, die uns auf unserer Fahrt hinunter nach Stuttgart im Bordbistro bedient hatten. Die hatten, weil es außer uns auf der kurzen Fahrt keine weiteren Gäste mehr gab und sie von daher den Feierabend zum Greifen nah vor sich wähnten, ein Ranking der schönsten Bahnhöfe im deutschen Streckennetz kundgetan: Platz eins war Leipzig, dann Dresden, dann ganz lange nichts. Auf dem letzten aber unumstößlich Berlin. Wir notierten uns derweil in Stichpunkten die Handlung für einen altbackenen Sexfilm mit dem Titel »Bordbistronutten – Sie gehen auf den Roten Strich«, und zwar gar nicht aus Bösartigkeit, sondern weil der frivole Ton, mit dem die Hostessen uns in ihre Kicherei mit einzubeziehen trachteten, uns tatsächlich nuttig vorkam. Seit kurzem verkauft die Bahn ja diese wiederverwendbaren Tassen, die mit naiven Malereien der Landschaften Ostwestfalens bedruckt sind. Die Hostessen hatten sich ihre Belegexemplare dieser von der Bahn sogenannten Mugs gesichert und süffelten daraus jetzt ihren Pseudo-Hugo, den sie aus der Holunderfassbrause und dem Rotkäppchensekt angerührt hatten.

Na ja. Wie gesagt: die Überfahrt währte nur kurz. Aber die Zerstörung des Stuttgarter Hauptbahnhofs: inzwischen sieht es dort aus, als hätten die Bomben des Zweiten Weltkrieges schon wieder eingeschlagen – erbaut wurde er ja während des Ersten. Nun also die Verheerung durch Stuttgart 21. In die Wände der längst nicht mehr provisorischen Bretterverschläge, durch die der Reisende, kommt er nach Stuttgart, auf seinem Weg in die Innenstadt, im Zweifel aber ins nächste Parkhaus, irrt, hat man Guckfenster aus Plexiglas eingebaut, damit man aus der Dunkelheit der Verschläge einen Ausblick hat auf die im gleißenden Sommerlicht sich ausbreitende Baustellenlandschaft ringsum. Wie es sich für eine man-made desert gehört, staubt es überall gewaltig. »Aber Hallo«, wie es in Berlin heißt. Willkommen in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Einst Großstadt zwischen Wald und Reben. Mittlerweile: Feinstaubalarm.

Dass man zu allem Überfluss den neuesten Verlautbarungen gemäß in die ehemalige Haupthalle von Bonatzens Bahnhofsgebäude einen Kubus aus Glas einzusenken gedenkt, in dem zukünftig – also in jener herannahenden Zukunft des Jahres 2021 – Hotelgäste beherbergt werden, erscheint als Skandal. Sowieso, aber das ist in Berlin ja an jeder Ecke so, fallen die auf der Bauvorhabensankündigungstafel gezeigten Planskizzen des zukünftigen Bahnhofs schon jetzt als total altbacken auf. Nicht einmal in Katar würde man diesen biomorphen Blödsinn noch haben wollen. In Katar hätten sie Stuttgart 21 längst wieder herausgerissen aus dem Wüstengrund. Weggeworfen, beziehungsweise weiterverschifft nach Taiwan, oder nach irgendwo in Afrika, wo Geschmack und architektonische Moden keinerlei Rolle spielen. Aber in 20 Jahren wird das kaum noch einen stören können, denn diejenigen, die sich heute noch an den Stuttgarter Hauptbahnhof erinneren könnten, wollten, sind dann vermutlich längst tot.

Bleiben wird aber, Mordsbahnhof hin oder her, in dieser Jahreszeit das gute Wetter über der Stadt. Geblieben sein wird die herrliche Luft und das Licht, um Stuttgart zwischen Wald und Reben auch in der Mordszukunft noch als Glanzstück herauszustellen.