11.9.

Große Sorge um Puku. Wie es heißt: Über Nacht ist der Account des kleinen Hasen von Twitter verschwunden. Spurlos, so als hätte es ihn nie gegeben. Ich frage mich natürlich, ob es, wie in dem kurz zuvor veröffentlichten Brief an ihre Follower seine Besitzerin war, die, den Auseinandersetzungen mit dem Wuthasen leid geworden, sich zu dieser Maßnahme entschlossen haben musste, um Schlimmeres zu verhindern, oder ob, schließlich trägt sich die Geschichte in Japan zu, womöglich noch etwas drastischeres geschehen sein mag. Beispielsweise, dass der vom Wuthasen insinuierte Ehrverlust von ihr, durchaus auch auf Puku bezogen, als so schlimm empfunden worden war, dass sie beispielsweise Autoabgase in Pukus Käfig geleitet hat, um ihm und sich selbst das Leben zu nehmen. Oder oder oder.

Der zeitliche Zusammenhang wird Zufall sein. Dennoch werde ich von einem Schuldgefühl beschlichen. Im Archiv befindet sich ein Exemplar der Zeitschrift Meine Schuld aus dem Martin Kelter Verlag. Und tatsächlich gibt es in dieser dritten Ausgabe aus dem Jahr 2016 eine Geschichte mit dem Titel Internet Blog – Ich habe meine Kinder bloßgestellt. Aus der Ichperspektive erzählt Grit M. (43), eine alleinerziehende Mutter aus einer Zeit in ihrem Leben, in der sie ein Blog schrieb, um ihr Schicksal mit anderen Müttern teilen zu können: »Meistens kam schon nach kurzer Zeit, nachdem ich meinen Tagebucheintrag ins Internet gestellt hatte, eine Antwort. Die Abendstunden waren Schreib- und Lesezeit unter Müttern. Dann hatten wir endlich mal Zeit für uns. Nur allzu gern las ich die Kommentare.« Tja, aber leider bleibt es nicht bei den wohlmeinenden Kommentaren ihrer Internetfreundinnen. Schon bald kommt es zu einem ernsthaften Zerwürfnis mit ihrer pubertierenden Tochter Sina: Deren Schulkameradinnen haben das Blog entdeckt und mobben das Mädchen mit den darin veröffentlichten Details aus dem Familienleben. Gerade als es der bloggenden Mutter gelungen ist, das Verhältnis zu ihrer Tochter durch einen Shoppingexzess (»›Wo fangen wir an?‹, fragte ich betont fröhlich und knuffte sie in die Seite. ›In den Schuhgeschäften? Oder nehmen wir lieber erst die Hosen und T-Shirts aufs Korn?‹«) zu normalisieren, dreht sich das Geschütz des Cybermobbings und nimmt ihren kleinen Sohn Torben aufs Korn. Wie am sprichwörtlichen Boden zerstört, kehrt der aus dem Fußballtraining zurück. Auch dort kennen die Kameraden nun das Blog und zitieren nach Gusto: »›Mama, ich bin kein kleiner Racker!‹«.

Irgendwann droht Sina mit Selbstmord. Grit M. gelingt es aber dennoch, die Katastrophe abzuwenden. Leider auf Kosten ihrer schreibenden Existenz: »Ich habe nach dem Löschen meines Tagebuchs auch noch einigen anderen Müttern im Internet geraten, sorgsamer mit ihren persönlichen Erlebnissen umzugehen. Ich kann nur allen Müttern raten: Schreiben Sie lieber nichts über ihre Kinder im Internet! Egal, was Sie schreiben oder welche Fotos Sie dort posten: Sie werden es bestimmt irgendwann bereuen. Auch wenn Sie glauben, dass niemand Sie erkennen wird, weil Sie ja einen anderen Namen nennen: Das kann trotzdem in die Hose gehen.«

Zu Pukus Namen: Puku ist ein japanisches Zahlwort. In der japanischen Sprache werden alle Dinge a priori als plural behandelt. Handlungen und Ereignisse werden in dieser Hinsicht ebenfalls wie Dinge behandelt. Um eine zwingend erforderliche, präzisierende Stückzahl angeben zu können, muss zwischen dem Zahlenwert und dem Objekt ein Zahlwort geschaltet werden. Von diesen Zahlwörtern gibt es ziemlich viele, sie sind nach Sachgruppen geordnet. Beispielsweise bezeichnet ぽん (Pon) die Anzahl langer, dünner Dinge wie Eisenbahnlinien, Telefonverbindungen, Bleistifte, Krawatten und Filme. Puku ist das Zahlwort für angenehme Pausen. Mit ぷく (Puku) können die Züge aus einer Zigarette, die Löffelvoll des Matchapulvers, aber auch Nickerchen gezählt werden. Vermutlich wird so die Funktion eines Hasenaccounts in der japanischen Gesellschaft etwas verständlicher gemacht: Auf langen U-Bahnfahrten, beim Arbeiten bis zum 過労死 schaut man beim kleinen Hasen Puku vorbei, um sich an dessen schönem und herrlicherweise völlig stressfreiem Leben zu laben.

Schaute, wie es ja leider heißen muss.