1.2.

Im Inneren des Kapitel II und dort an einem Tisch neben dem Tresen fragte ich Anne, ob sie Lust hätte, zum Runterkommen ein bisschen was von dem Zeug meines Nachbarn zu ballern, aber Anne hat eine Nadelphobie und alleine wollte ich dann auch lieber nicht.

Also Chambord mit Coca-Cola.

Vor ein paar Jahren wollten wir mal ein Buch zusammen schreiben, das sollte heißen »Zum Beispiel Du und Ich« und darin wollten wir uns mit neuen Formen der Liebesbeziehung beschäftigen. Also nicht bloß Paare und Dreier, sondern auch solche ganz ohne Geschlechtsverkehr, oder Cluster aus vielen verschiedenen Individuen, es gibt das ja alles, und wir hatten auch schon ganz schön viele Interviews geführt, aber irgendwann kam dann die Arbeit ins Stocken, die Typoskripte liegen noch immer in einem Ordner mit geteilten Zugriffsrechten in einer Dropbox. In der Zeit meiner Abwesenheit hat sich dann Anne weiter diesen Forschungen gewidmet, allerdings vor allem an sich und somit auch am lebenden Objekt. Ein erstes Zwischenergebnis ihres Erkenntnisgewinns hat sie dann am 7. Dezember letzten Jahres auf Zeit Online veröffentlicht in Form eines Aufsatzes, in dem sie für eine Abschaffung der Monogamie plädiert. Mehr als 350 Kommentare bis dato.

Ich weiß ja nicht.

– Wieso, sagte Anne, wieso weißt du nicht – vor allem: was? Das mit deiner Muse ist doch auch nichts anderes – beziehungsweise ist das doch auf eine andere Weise auch nicht gerade leicht zu verstehen. Ich meine: Hast du die Muse denn überhaupt schon einmal zu Gesicht bekommen?

– Natürlich nicht.

– Das wäre aber doch wichtig, findest du nicht?

– Viel wichtiger ist mir, dass es nur eine für mich gibt. Eine Muse. Also meiner Erfahrung nach bringt eine Liebesbeziehung mit mehr als zwei Beteiligten vor allem sehr viel Organisationspanik mit sich. Ich kenne auch kein einziges Beispiel, wo es gelungen ist. Dabei ist mir theoretisch klar, dass Monogamie eine Perversion des Kapitalismus bedeutet: Menschen besitzen wollen. Aber ich bin eben ultrawertkonservativ und kenne meine Grenzen mittlerweile auch ziemlich präzise. Mit Liebe ist nicht zu spaßen, sonst kommt Mister Aua und verfolgt dich mit seiner Dachlatte noch im Traum. Was ich aber sehr wohl kenne, sind diese angeblich offenen Beziehungen insbesondere hier in Berlin, von deren Offenheit aber nur immer einer von beiden etwas weiß. Beziehungsweise erst dann davon erfährt, dass er in einer offenen Beziehung gelebt hat, wenn er es zufällig herausfindet. Dass er oder sie nämlich betrogen wurden. Gut, manchmal wussten das diese Personen auch schon etwas länger, sie haben es geahnt oder gewittert, aber entweder nicht wahrhaben wollen, gehofft, das ginge schon wieder vorbei, oder insgeheim sich bereits ebenfalls nach einer Affäre umgeschaut, bloß halt nichts Passendes gefunden.

– Muss aber nicht so sein. Es geht auch anders. Und dann ist es gut – für mich zumindest ist es das.

– In deinem Text schreibst du diese zwei Sätze »Nichts gegen die Ehe. Ein paar der Männer, für die ich die größte Liebe hege, sind verheiratet.« Der steht dann im Layout genau auf Höhe deines Portraitfotos, links daneben. Und prompt schreibt einer deiner männlichen Leser, dass er es als eine angenehme Überraschung empfindet, dass die Autorin dieser Zeilen so attraktiv ausschaut. Ziemlich schnöde.

– Ist mir aber egal.

– Du schreibst, und nach allem, was ich von dir weiß, lebst du ja auch danach: Du hast nichts gegen die Ehe, aber die damit einhergehende Monogamie lehnst Du ab – die gehört aber nun einmal zur Ehe. Sonst braucht man doch gar nicht zu heiraten, wenn man sich nicht exklusiv einer anderen Person versprechen will. Und dann brauche ich doch bloß eine existenzielle Situation zu konstruieren und schon stürzt alles ein. Stell Dir einfach vor, du gehst zum Arzt und kriegst eine Horrordiagnose gestellt: noch zwei Wochen zu leben oder so. Oder ein Unfall, du wachst auf der Intensivstation auf und kannst dich nicht mehr bewegen. Du kannst noch nicht einmal mehr telefonieren, weil es nämlich auf der Intensivstation keine Telefone gibt. Dein mit jemandem anders verheirateter Partner wird es eventuell gar nicht erfahren, wie schlecht es um dich steht. Oder, im Falle des ersten Beispiels: Du rufst ihn an, um ihm die Nachricht deines baldigen Todes zu überbringen, aber er wird dir leider nicht beistehen können; eventuell, weil er mit seinem Ehepartner sich auf einer längst gebuchten Ferienreise befindet. Oder weil es aus anderen Sachzwängen heraus, vielleicht auch aus emotional gefärbten Gründen heraus, schlicht keine Ausrede gibt, die valide wäre. Was machst du dann? Wie fühlst du dich dann?

– Klar, das ist eine Angst, die ich habe. Aber das ist dann eben der Preis: dass ich alleine sterben muß. Ohne dass mein Geliebter mir die Hand halten wird.

– Das ist eine absolute Horrorvorstellung. Kennst du Bob Flanagan?

– Sagt mir nichts.

– Das war ein Künstler, ein Freund von Mike Kelley. Man nannte ihn den Supermasochisten. Das hatte wohl biografische Gründe. Er litt als Kind schon an Mukoviszidose. Da erstickt man am eigenen Schleim. Seine Eltern mussten ihn sich dann regelmäßig übers Knie legen und ihm so lange auf den Rücken hauen, bis der im Übermaß produzierte Schleim ihm nicht mehr die Bronchien blockierte. Es war wohl so, dass er aus dieser frühkindlichen Erfahrung heraus die elterlichen Schläge mit Zuneigung verwechseln musste, und da kam er sein Leben lang nicht mehr heraus. Jedenfalls hat er dann spät sein privates Glück noch finden können, nämlich in der Person von Sheree Rose, die eine Supersadistin war. Die konnte ihm dann geben, wonach es ihn immer verlangt hatte. Der Dokumentarfilm von Kirby Dick zeigt auch seinen Tod, da kommt er ins Krankenhaus und es ist den Ärzten leider nicht mehr möglich, die Schleimproduktion zu drosseln – er erstickt. Einmal kommt er noch zu Bewusstsein, er ringt um Atem und fragt seine Frau, die mit der Kamera vor seinem Bett steht: »Hey, was passiert mit mir?«, und sie sagt, während sie voll draufhält: »Du stirbst, mein Schatz.« Und so ist es dann auch. Es ist das letzte, was er hört: wie seine über alles geliebte Frau ihm mitteilt, dass er jetzt gerade stirbt. Das ist eine unerträgliche Szene. Wirklich unerträglich. Ich wünschte, ich hätte sie niemals mit ansehen müssen. Viel schlimmer noch als der Tod von Sonne in Victoria. Und das ist ja schon so schlimm, dass ich seitdem nicht mehr am Westin Grand Hotel in der Friedrichstraße vorbeigehen kann, ohne dass ich zu weinen anfange. Seitdem muss ich die absurdesten Umwege nehmen, bloß um nicht diesen grauenhaften Ort passieren zu müssen.

– Der war aber auch nicht allein. Beide waren sie nicht allein.

– Eben. Und da ist es schon unerträglich gewesen. Du aber, du stirbst dann allein.

– Wieso ist das denn zwangsläufig so? Es gibt doch auch noch Freunde. Du könntest doch beispielsweise kommen.

– Versprechen will ich dir das nicht. Das ist doch etwas, was nur der Liebespartner darf und soll. Letztes Frühjahr habe ich von Tristan Garcia La Meilleur Part des Hommes gelesen. Ein ziemlich harter Roman, der in den achtziger Jahren spielt, da stirbt der Protagonist am Ende auch allein in völliger Umnachtung an AIDS. Eine Bekannte besucht ihn zwar andauernd im Krankenhaus, aber kein anderer Mensch kümmert sich mehr um ihn. Seine Eltern haben sich von ihm abgewendet. Sie geht dann kurz mal aus dem Sterbezimmer, um sich einen Kaffee zu holen, und er fällt aus dem Bett und zerbricht, weil er bereits so abgemagert ist und sein Knochengerüst ist marode. Immerhin hat er ausschließlich für die Liebe gelebt. Für die Liebe zu sehr vielen Personen, aber das Virus rafft ihn dahin. Und weil es schambesetzt ist, an AIDS zu sterben, kümmert sich keiner mehr um ihn. Mit der Polyamorie ist es ähnlich, fürchte ich.

– Das ist totaler Quatsch. Und im übrigen entspricht das eben genau diesem ultrawertkonservativen Denken, das ich anprangere. Deshalb schreibe ich ja Liebe©: Es ist doch Quatsch, dass es da nur eine mögliche Form geben kann. Geben darf.

– Das nicht. Eventuell. Aber vermutlich handelt es sich um dasselbe Prinzip wie beim Vetrauen: eine notwendige Reduktion von Komplexizität. Worin besteht denn dein Lohn, wenn du dir ein verschärft komplexes System schaffst?

– Ich glaube mittlerweile, das war schon immer so in mir angelegt. So wie früher am Rande der Autobahnen, da standen diese gelben Gefäße und darauf dieser Slogan: »Ich bin zwei Öltanks« – dabei war ja nur einer zu sehen. Das fand ich als Kind schon mysteriös. Aber gleichzeitig auch faszinierend. Zwei Öltanks sein. Zwei Seelen haben, von denen eine auch mal kurz woanders sich aufhalten kann, bloß um dann wieder zu mir zurückzukehren wie eine Brieftaube. Vor allem weiß ich inzwischen aus Erfahrung, dass es gut für mich ist, wenn es da eine Sehnsucht gibt in mir, und diese Sehnsucht wird eben niemals gestillt werden. Ich sage absichtlich nicht »leider«. Denn eins weiß ich: Wenn ich es erst habe, dann mache ich es kaputt. So aber hält es mich am Leben. Es beflügelt mich – nenne es wie du willst.

– Also ist er deine Muse?

– Vielleicht etwas ähnliches. Manchmal denke ich zu viel nach, aber darüber nicht. Ich arbeite ja jetzt schon seit Monaten an dieser großen Karte im Stile Mark Lombardis. Ich habe auf einer Tapetenrolle angefangen, aber mittlerweile ist das System derart ausgeufert, dass ich von vorne anfangen werde. Ich zeichne es auf die Wand in meinem Schlafzimmer, die ist vermutlich von den Dimensionen her einigermaßen ausreichend. Es sind Hunderte von Namen, sie stehen alle miteinander in Verbindung. Wenn ich damit fertig bin, wird man davor stehend sehen können, dass jeder, wirklich jeder hier in Berlin schon mit allen anderen im Bett war. Von daher: Was soll das denn alles mit der Monogamie. In Wahrheit ist es doch lediglich eine Frage der Synchronizität.