12.12.

Allmählich schraubt sich aus der Fahrbahn ein gelbes Hinweisschild in die Höhe. Die Landschaft hinter Erfurt ist weit und leer. Es ist dort nicht einmal ein einziges Fahrzeug unterwegs, dessen Lenker sich für die auf dem Schild gezeigten Wege interessieren können würde. Die wahre Welt, so scheint es mir, das Lebendige beginnt erst ab dem Horizont, wo Wolken sich in dunklen und in den beliebten hellen Farben stauen und stapeln.  

Es gibt nicht viel zu sehen auf dieser Fahrt aber doch so viel, dass ich es lange nicht fertig bringe, mit dem Schreiben anzufangen. In dem Film mit Peter Handke, den wir abend noch angeschaut haben, sieht man ihn beim Zuputzen eines enormen Steinpilzes und er erzählt, dass ihn diese, wie er es nennt, Beschäftigung mit einer kleinteiligen Welt immerdann besänftigt oder einholt und rettet, wenn er sich bei einem Flug im Flugzeug schon beinahe zu Tode gelangweilt hat. Kurz braust er auf und spricht von einer blöden, durchkalkulierten Welt. Wendet sich dann wieder seinem Pilz zu, und erfreut sich an dem Geräusch, wenn die Klinge seines Messers eine Scheibe aus dem halbierten Pilzfuß schneidet; von der Tonspur hört es sich ähnlich an wie das Zerteilen eines Apfels und dann doch noch einmal anders. Und wer weiß wie live?

Ich fahre ungern zurück nach Berlin. Die schönen Tage im Schwäbischen hätten von mir aus noch um einiges länger sich hinziehen dürfen. Zwar ist man dort wie auch in Berlin viel unterwegs, aber, und das macht für mich den Unterschied: unterwegs von einem Hort der Heimeligkeit zum anderen. Stuttgart, Maulbronn, Ludwigsburg und Esslingen. Als Fixpunkt dieser Sternfahrten natürlich stets Heimerdingen, mein Heimatort, der mystischerweise das Wörtchen Heim in seinem Namen führt (in der Ortsmitte vor dem Gasthof »Zum Ochsen« gibt ein Stein das Jahr der Ortsgründung im achten Jahrhundert an. Ich will es glauben). Auch das weiß ich von Handke, auch darüber spricht er in dem Film: dass es manchmal 50 Jahre lang dauern kann, bis ihm das Erlebte als bildsam erscheint und er es an einem anderen Ort als dort, wo es ihm widerfahren ist, in eine Erzählung einbringen kann. 

In 50 Jahren also, wenn ich schon bald hundert bin, aber auch schon heute ist mir bildsam geworden der Sonntag, als es auf der Fahrt ins Kloster Maulbronn zu schneien angefangen hatte. Die Flocken fielen mehr als dass sie schwebten; ein nasser Schnee, es war nicht kalt, und gegenüber des Klosters gibt es ein Café, auf dessen langem Schild über der Eingangstür steht der lange Name des Cafés, der lautet »Treffpunkt aller Kaffeefreunde«. Das ist dann einerseits schon durchkalkuliert, aber dann ist durch das viele Kalkül das Kundenfanggewebe fadenscheinig geworden und was hindurch scheint, regt meine Fantasie an, so dass ich dem Schilderausdenker wie dem Schilderbezahler dankbar bin dafür. Idealerweise sind sie ja ein und dieselbe Person. Wünsche ich mir jedenfalls im Sinne der Bildsamkeit.

Und genau gegenüber des Treffpunkts, die daran vorbeiführende Hauptstraße, die heute Stuttgarter Straße heißt, hat zu Zeiten der Klosterbewohnung maximal zwei aneinanderschrammenden Ochsenkarren den Platz dafür geboten, gingen wir durch das Tor aus über fünfhundert Jahre alten Balken in den Hof des Klosters hinein, es schneite noch immer und wenn es dort schneit, dann wirkt der Maulbrunner Zauber auf mich; wenn die Sonne scheint, wenn ein Flugzeug am Himmel erscheint, oder wenn ich Vogelgeräusche höre, zerstiebt die Illusion. Dann kann ich mir die Mönche dort nicht mehr vorstellen, wie sie mit Fußlappen und in ihren Kutten über den weiten Hof gehen. Dazu muß Schnee fallen, damit ich das vor mir sehen kann. Und hinter diesen Mauern war einst eine wilde und blöde, eine brutale und kaum noch berechenbare Welt.