12.2.

In einem melodramatischen Sonnenaufgang, der sich über drei Stunden hingezogen hat, erscheint lange nichts als eine beige Zone und darüber bleibt es dunstig. Dann fällt ein Strahl auf die Teekanne, die zu leuchten beginnt und ihre kleinen Punkte an die Decke wirft. Am Boden liegt eine alte Ausgabe der Zeitung mit dem halbseitigen Foto in Schwarz-weiß aus dem Plenarsaal in Bonn mit den kastig schwarzen Möbeln, die, wer weiß wohin, verschwunden sind (und ob sie irgendwo noch eingelagert sind). An ihrem ersten Arbeitstag, dem 29. März 1983, ist darauf die Abgeordnete der Grünen, Marieluise Beck, zu sehen. Sie trägt einen Pullover aus flauschiger Wolle über ihrer weißen Bluse und lacht aus vollem Hals. Vermutlich nicht über einen Witz aus ihrem Umfeld, sondern über eine komische Stelle in einem Vortrag, denn der unweit entfernt von ihr sitzende Bundeskanzler lacht ebenfalls. Die Finger ihrer linken Hand hält sie zusammengefaltet, zu keiner Faust, eher so, als hätte sie von diesen Fingerspitzen etwas fortgeschnipst. Nicht allein, weil es eine historische Aufnahme ist – und weil dieser Pullover, den sie trägt, der den Grauwerten der Abbildung nach eventuell gelb war, grün, orange oder rosa, seltsam zeitgenössisch wirkt; das betrifft auch ihren Haarschnitt –, wirkt dieser fröhliche Moment wie ein zum Laufen gebrachtes Filmbild, angeklickt von einem ersten Sonnenstrahl.

Auf der zugefrorenen Fläche am Ufer haben sich einige Kraniche versammelt, die dort in ihren weiß strahlenden Federkleidern wie aufgereiht sitzen. Enten verfolgen sich über das Eis und über dem Wasser dahinter, das im Sonnenschein schon wieder blau wirkt, so blau wie im letzten Jahr, startet ein Kormoran zu einem Erkundungsflug durch. Auf die ihm eigene, gewissermaßen ihm eingebaute, mühselige Weise. Er kann ja nicht anders, und trotzdem würde ich ihm beinahe gerne zurufen: Nichts dazugelernt! Es quietscht und es zwitschert. Anima Latina von Lucio Battisti untermalt das sehr schön.

John Baldessari fragt: »Warum haben die Höhlenmenschen keine Stillleben gemalt?« Auch die damaligen Landschaften stelle ich mir ziemlich spektakulär vor.

Als ich gestern von dem Cargo-Kult um das alte Flugzeug las, Eckart Lohse, einer meiner absoluten Lieblingsautoren hatte das beschrieben: Die ehemalige Lufthansa-Maschine mit dem ehemaligen Namen Landshut, die, nachdem sie durch viele Hände gegangen war, jetzt irgendwo in Südamerika steht und dort versteigert wird, soll möglicherweise, zumindest wird das anscheinend erwägt, vom Staat erworben, aufwendig, entweder ganz oder in Teilen filetiert, nach Hause transportiert und hier ausgestellt werden. In dem Text wird der Wunsch der GSG 9 erwähnt, das sechs Meter hohe Leitwerk wie ein Hirschgeweih als Trophäe auf einer Kaserne aufzubocken. Wie ein Dinosauriergerippe (im Naturkundemuseum in der Invalidenstraße steht eines auf verspiegeltem Podest). Oder wie ein Wirbelknochen eines Pottwals (in Peru, dort liegen die hier und da in der Landschaft herum, aber als Hinterlassenschaften). Interessant, wie in dem Text subtil nachgezeichnet wird, wie aus dem neutralen Ding Flugzeug, das wie gesagt jahrzehntelang weiter von diversen Fluggesellschaften als Verkehrsmaschine benutzt worden war, dann in der Politikerrede plötzlich etwas Weibliches gemacht wird, das schützenswert wirkt und des Erhalts mehr als würdig. Einfach durch den ursprünglichen Namen: die Landshut. Eine Sie. Selbst noch in ihren Fragmenten.