14.10.

Beim Austausch der Löwenzahnblätter, bei denen die Schnecken übrigens weit weniger heftig zuschlagen, als es in den österreichischen Foren versprochen worden war (meine stehen besonders auf Karotten und Gurke, aber auch quer durch eine Scheibe Bottarga haben sie sich gefräst), fand ich das bis dahin männliche Tier von seinem Kalkzapfen befreit. Ob es den nun aufgegessen hatte, oder in seinen Leib zurückgezogen, ob er einfach abgefallen war und nun schwer auszumachen auf der ebenfalls weißen Kuchenplatte, die den Boden des Schleimariums abgibt, herumlag, ließ sich während der kurzen Zeit, da ich die Salatschüsselkuppel abgehoben hatte, nicht eruieren. Allzu lange kann ich das Mikrotop leider nicht unbedeckelt stehen lassen, denn die Schnecken bewegen sich, insbesondere unter einer schwallweisen Zufuhr von Frischluft: verblüffend schnell.

Nun, da die Zeit der Regeneration nach dem unterbrochenen Geschlechtsakt anscheinend vorüber war, sah ich sie tagsüber gemeinsam über die gläsernen Wände ihres Gehäuses ziehen wie Flugzeuge oder Wolken in der Kuppel eines frühgeschichtlichen Himmelmodells. Und ohne den aus der einen herausragenden Zapfen sehen sie einander ähnlich wie, nun ja: eine Schnecke der anderen. Hinsichtlich meiner Forschung wäre es extrem wichtig gewesen, das ehemalige Männchen zu markieren, um bei einem erneuten Paarungsversuch ablesen zu können, ob es denn bei diesen zwei Exemplaren immer wieder dasselbe Tier sein würde, das den gebenden Part übernimmt. Oder ob Schnecken tatsächlich genderfluid sind und somit mal die eine, nächstes Mal die andere nimmt, dann wieder gibt.

Dazu hätte ich einfach nur das fragliche Häuschen mit meinem Lackstift markieren müssen (etwa mit einem Punkt in Leuchtrosa), aber was das Anmalen von Schalentieren betrifft, wurde mir vor vielen Jahren eine schreckliche Geschichte erzählt, die ich seitdem nicht vergessen kann, und die mich insbesondere von dem Lackieren von Schildkrötenpanzern for fun auch weiterhin abhalten wird. Die Frau, die mir diese Geschichte erzählt hatte, ihr alkoholkranker Vater spielte darin die tragende Rolle des Schildkrötenlackierers, hatte ich in Hamburg kennengelernt. Sie enstammte einer Dynastie von Werbetextern und verwendete ein Gesichtspuder von Christian Dior, das sie aufgrund dessen Beschaffenheit den Kometenstaub nannte. Die, wenn auch extrem kurze, durch und durch merkwürdige Beziehung, die sich zwischen uns entwickelt hatte, scheiterte letzten Endes nach wenigen gemeinsam verbrachten Stunden daran, dass sie für meinen Geschmack zu sehr damit beschäftigt war, ein Doppelgängerleben zu führen. Und zwar als Doppelgängerin Holly Golightlys. Ich weiß nicht, woran das liegt, es ist mir in meinem Leben dann viel später noch einmal begegnet dieses Phänomen, allerdings war das dann in München, aber auch dort fragte ich mich, ob es die Holly Golightly aus dem Film ist, die Moon River singt, also ob es eigentlich Audrey Hepburn war, der solche Frauen ähnlich sehen und sein wollten, oder ob sie auch das Buch gelesen – die Holly Golightly bei Truman Capote hat ja so gar nichts lieblich neurotisches, sondern ist einfach nur abgefuckt. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, die in Hamburg hatte sich die Holly Golightly aus dem Film vorgenommen, die aus München las auch ansonsten viel und gern.

Schnecken sind kaum geräuschempfindlich. Nach dem Essen ziehen sie sich in ihre Häuser zurück und – tja, was eigentlich? – schlafen vermutlich. Was sonst. Es muss ja dann reichlich gemütlich, wenn nicht eng zugehen in dem kleinen Haus, wenn sich die Gesamtschnecke dorthin zurückzieht. Also in sich. Denn auch wenn man stets geneigt bleibt, das Haus aufgrund seiner Andersartigkeit, seiner Unschleimigkeit und seiner Beschaffenheit aus hartem Material, wohingegen der Schneckenkörper weich ist wie ein elastisches Cornichon, als etwas von der Schnecke Getrenntes zu betrachten, so darf es auch hinsichtlich Schnecken keine dualistische Sichtweise mehr geben. Das Haus gehört zur Schnecke, die Schnecke ist auch das Haus sozusagen, so wie die Milchkuh auch ihr Horn ist und umgekehrt. Wenn die Schnecken also in sich zurückgezogen liegen, spiele ich ihnen manchmal das einzige Lied vor, das ich besitze, in dem es um das Dasein als Schnecke geht – jedenfalls wird es darin periphär mitbeschrieben. Es befindet sich auf dem Roten Album von Tocotronic und heißt Prolog. Schallwellen treiben die Schnecken irgendwann aus den Gehäusen. Sie entrollen sich in dieser unaufhörlichen, eleganten Bewegung, sozusagen in einem Zug (also wie ein rückwärts abgespieltes auf Ex), und dann fahren sie jeweils nur eines ihrer beiden Stielaugen aus, um die Umgebung zu scannen. Ob sie Farben wahrnehmen können, was für sie überhaupt von Interesse ist: alles noch unbekannt.