14.10.

Auf dem alljährlichen Empfang der Redaktion der Zeitschrift Titanic, der in dem direkt an das Ufer des Mains gebauten Vereinsheim eines Ruderklubs stattfand, kam es im weiteren Verlauf des Abends zu einer überraschenden Begegnung mit zwei Männern, die mir seit Jahresbeginn auf seltsame Weise vertraut geworden waren, dies aber nur anscheinend, denn, wie es heißt, in persona waren wir uns bis dahin noch nie begegnet, auch war es mir bis gestern hin und wieder fraglich erschienen, ob es sich bei diesen mir durch ihre Texte vertraut gemachten Autoren überhaupt um Personen handelte, oder vielleicht auch nur um zwei Pseudonyme ein und derselben schreibenden Person.

Das Heim des Ruderklubs war als Gebäude selbst wie ein Schiff gestaltet, mit einem langen Fensterband, durch das die hinter dem schwarzen Wasser aufragenden Türme schön zu betrachten waren. Das gute Wetter des Samstags ließ sich schon mit warmen Nachtwinden ankündigen, als ich auf die als Achterdeck konstruierte Terrasse trat. Dort sprach mich ein Mann mit meinem Namen an. Und stellte sich mir vor mit »Ich bin Dax Werner.« Ein anderer behauptete »Und ich bin Startup Claus.« Ich zögerte, schließlich befanden wir uns auf der Feier eines Satiremagazins. Schon am Buffet war ich ja auf einen Scherz hereingefallen, denn was ich für eine Kaltschale aus geachtelten Erdbeeren hielt, hatte sich in meinem Mund als löffelweise Knoblauchzehen entlarvt, die in einen rosenfarbigen Sud eingelegt worden waren.

Auch die angeblichen Twitterstars Startup Claus und Dax Werner sahen komplett anders aus, als ich sie mir manchmal vorgestellt hatte. Ihre Accounts und ihre Texte hatte ich im Februar zufällig entdeckt, im weiteren Verlauf des Jahres hatte sich aus dem einst obskuren Phänomen dann rasch ein die deutschsprachige Szene des sogenannten Kurznachrichtendienstes dominierende Kultur entwickelt, das sogenannte Gründertwitter. Der Avatar von Dax Werner zeigte von Anfang an das rötlich gegerbte Gesicht eines Mannes von jenem Schlage, wie man sie in Berlin noch rudelweise im Bistro Floh oder vor der Fischerhütte am Schlachtensee in bunten Hosen antreffen kann. Altgediente Unternehmer im ewigen Vorruhestand, die einer durch Michael Cretu bekannt gemachten Vorliebe für extravagante Brillengestelle fröhnen. Startup Claus hingegen zeigte seinen Postings zugeordnet stets das Bild eines schon leicht magenkranken Vertrieblers, der, wo Dax Werner ein keckes Hütchen mit dem Markenzeichen von Gatorade trägt, sein Haupt mit einem Indianerschmuck umkränzt.

So etwas prägt sich, ob man nun will oder nicht, ein. Phänomene der Neuroplastizität hatten dafür gesorgt, dass ich aus diesen Gesichtsbildern und den angeblich dazugehörigen Äußerungen dieser künstlichen Persönlichkeiten eben dies konstruiert hatte: Identität. Wie sich jetzt gestern herausgestellt hat, gibt es immerhin zwei Personen, die sich eindeutig zu jeweils einem dieser Namen zuordnen lassen. Aber natürlich sehen sie nicht nur nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, sie denken auch ganz andere Gedanken, sprechen mit anderen Stimmen als gedacht. Arno Schmidt hat ja, auf sich bezogen, davon abgeraten, den Autor kennenlernen zu wollen. Er bezeichnete sich im Vergleich zu seinem Werk als »den defekten Rest«. Bei Werner und Claus verhält es sich erfreulicherweise genau umgekehrt.