14.2.

Gestern begegnete ich einem Mann wieder, den ich viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Damals nannte man ihn den Regenwurm. Er sah immer noch so aus. Wir begegneten uns zufällig, weil er mir von der aufwärts führenden Rolltreppe entgegengefahren wurde, während ich selbst gerade abwärts fuhr. Wie in dem Gedicht topographie c von Helmut Heissenbüttel, mit dem ich eine wichtige Erinnerung verbinde, weil ich beim Lesen dieses Gedichtes auf einer Fotokopie die Möglichkeiten der Poesie vermittelt bekam mit seinem »Schrei der Möwe, der noch immer meine Schwester ist«. Manche hatten geglaubt zu wissen, der Regenwurm sei Organist. Dabei war es unmöglich zu erraten, was er machte. In der Öffentlichkeit machte er so gut wie gar nichts außer Kaffee trinken und geradeaus schauen. Im ersten Sommer hatte er sich gelegentlich mit einer Nachbarin über das Übliche unterhalten. Da waren, so oft ich es überhaupt mitbekommen hatte, keinerlei Rückschlüsse möglich gewesen auf sein Leben. Auch gestern: dass er sich kein bißchen verändert hatte. Er trug die keilförmige Kappe, wie ich sie bei ihm in Erinnerung behalten hatte. Er erkannte mich nicht.

Und noch immer plane ich jeden Fußweg als viel zu kurz ein und muss mich dann sehr beeilen, um noch pünktlich sein zu können. Das passiert mir sogar bei Wegen, die ich gut kenne. Ich nehme an, das liegt daran, dass ich die wahren Distanzen nicht wahrhaben will. Oft ist ein vermeintlich kurzer Weg durch Berlin in Wahrheit derart weit, insbesonders bei diesen Temperaturen, dass ich mich selbst betrügen muss, um mich zu motivieren. So verdränge ich dann regelmäßig die Breite der Straßen. Es gibt sie nicht, wenn ich mir einen Fußweg bis zur nächsten Haltestelle vorstellen muss, und so kommt mir die ganze Strecke in so und so vielen Minuten machbar vor. Aber dann stehe ich gestern am Rand der vierspurigen Hardenbergstraße – es könnten auch sechs Spuren sein, acht, sie würde nicht noch viel breiter angelegt sein müssen – und dort erkannte ich in diesen breiten Straßen, von denen es in der Stadt sehr viele gibt, den Hauptfaktor des Berliner Stressproblems: Ich nenne es den Berliner Schnitt. Dieses Gesetz der Disproportion sieht es vor, eine Straße so unabsehbar lang wie nötig und dabei so unüberwindlich breit wie möglich zu planen. In der Mitte dieser unablässig von Verkehrsmitteln befahrenen Asphaltbahn gibt es eine unabsehbar lange Insel, sehr schmal, auf der eine Fußgängerampel aufgestellt wurde. Diese wird so geschaltet, dass sie immer rotes Licht zeigt. Die am ganz anderen, dem gegenüberliegenden und rettenden Ufer hingegen zeigt öfters mal Grün. Springt die mittlere, die die Hoffnung anfächelnde Ampel, die von den im Frieren wartenden Passanten als Leuchtturm empfundene, auf grünes Licht um, macht die am anderen Ufer eine Pause und zeigt rot an. Die Phasen, in denen der Straßenverkehr an den vom Warten schon ganz durchgefrorenen Passanten vorbeidröhnt, sind so lange wie nur möglich einzustellen. Idealerweise braucht ein Passant von durchschnittlicher Beweglichkeit um die vier Minuten, um eine Straße zu überqueren, die nach dem Gesetz des Berliner Schnitt gestaltet wurde. Unabhängig von diesem Gesetz gibt es noch eines, dass keinen Namen trägt. Es regelt die Häufigkeit, mit der solche unabsehbar langen, unüberwindlich breiten Straßen nacheinander vorkommen sollen im Stadtplan von Berlin. Demnach sehr häufig.