14.7.

Auf dem aktuellen Selfie macht Tilman Rammstedt mit zwei kleinen Tomaten und einer angebissenen Gurkenscheibe rum. Ich verliere jetzt mal absichtlich die Lust, mich weiterhin mit diesen Lieferungen zu beschäftigen, und freue mich stattdessen auf das Buch. Gegen Bilder an sich habe ich nichts, und der unverhofft einsetzende Schneesturm am Nachmittag hört dann auch genauso schlagartig wieder auf; genau rechtzeitig, dass ich zu meiner Verabredung mit Alfons Klosterfelde in den Westen fahren kann.

Seit ich für die U- und Straßenbahnen Tickets löse, werde ich nicht mehr kontrolliert. Ich frage mich, woran das liegt. Beziehungsweise fällt es mir sehr schwer, dabei nicht an die Existenz höherer Wesen zu glauben. Höhere Wesen scheinen der BVG auch eine fragwürdige Kampagne befohlen zu haben: Im Kern geht es dabei um dies scheußliche Muster der Sitzbezüge in den U-, S- und Straßenbahnen, es sieht aus wie aus viel zu dunkelblauen und viel zu hellvioletten Bakterien bestehend, die sich pausenlos löffelnd aneinanderschmiegen. Dazu passend gibt es jetzt mit diesem Muster bedruckte Kaffeebecher, Bermudahosen und Hoodies online zu bestellen, oder live zu kaufen (mit Cash oder Karte) in den zumeist unterirdisch gelegenen Verkaufspavillons der BVG. Die höheren Wesen mit ihrem perversen Humor trichterten der BVG dazu den verkaufsfördernden Slogan »Geil, dein Outfit hat ja Flecken!« ein. Dazu kommt verschärfend noch ein neuartiges Logo, natürlich ein Herz, darin steht, auf BVG-gelbem Grund: »Wir lieben Dich«. Zum Redesign der Verpackungen und Tüten bei McDonald’s sage ich jetzt mal nichts.

In dem Gemischtwarenladen neben der Galerie kaufe ich meine Seife. Deshalb sehen Alfons und ich uns auch so oft. Und neulich, nach dem Seifenkauf, fiel dabei mein Blick auf die Bilder an der Wand, es waren Hunderte Schwarz-Weiß-Fotografien von Klaus vom Bruch in smartiefarbenen Rahmen – immer Gesichter und Menschen, immer Partystimmung –, und dazu war in den smartiefarbenen Rahmen zwischen Foto und Glasscheibe noch zusätzlich Konfetti aufgestreut. Da kam es angesichts dieser Bilder zu einer Epiphanie, ich vernahm die Stimme der Muse, die flüsterte »Must have«.

Und ich sagte: »Gerne – aber welches?«

– Must-have ist auch nur ein anderes Wort für Liebespartner, sagte die Muse.

Derweil hatte Alfons bereits eine Flasche Wein geöffnet und zwar nicht irgendeinen sogenannten Vernissagenwein, sondern einen weißen Spätburgunder des Winzers Stefan Joachim, auf dessen hübschen Etiketten JOACHIM steht und sonst nicht mehr viel. Bei einem Glas dieses Weines ließ ich die Motive auf mich wirken. Nach einer Stunde oder so war es mir gelungen, meinen Intellekt auf Stand-by zu schalten und aus dem reinen Gefühl heraus wusste ich dann sofort, welches Bild ich haben musste. Darauf war eine Frau abgebildet, die in ihren schönen Händen eine Spiegelreflexkamera hält, sie trägt ein Jackett, ihre Lippen sind schön, die Augen auch, und sie schaut aus dem Halbprofil mit einem Gesichtsausdruck gemischt aus Misstrauen und je ne sais quoi. Ich betrachtete dieses Bild noch sehr lange Zeit und es wurde nicht langweilig. Alfons beglückwünschte mich zu meiner Entscheidung. Abgebildet war wohl Candida Höfer, die Tochter jenes Werner Höfer, der in meiner Kindheit im Schwarz-Weiß-Fernsehen seinen Internationalen Frühschoppen abhielt an jedem Sonntag. Aber dieser Fun Fact war mir egal. Auch dass der Winzer Stefan Joachim ein Schüler des Künstlers Klaus vom Bruch war, dessen Portrait der Künstlerin Candida Höfer als junge Frau mit Kamera ich soeben erstanden hatte: n’importe quoi. Das mit dem Must-have war wichtig. Diese Analogie.

Schon einmal hatte ich ein Kunstwerk gekauft, ebenfalls eine Fotografie, leider weiß ich momentan nicht präzise zu sagen, wo ich sie aufbewahre. Darauf zu sehen sind jedenfalls Albert Oehlen und Rainald Goetz, sie sitzen auf einem Sofa und lesen in einem Folioband, den Rainald aufgeschlagen hält. Als Betrachter dieser Fotografie erfährt man freilich nicht, was in diesem Buch zu lesen steht, dafür denkt man viel über das enorme Format des Bandes nach, auch viel über den ziemlichen Umfang. Und über den Titel des Werkes: Das geheime Wissen der Frauen.

Ich sollte viel häufiger Kunstwerke kaufen. Es geht ganz einfach. Während die liebe Ulrike Heise das schöne Bild in Luftpolsterfolie verpackt, die es übrigens gratis dazu gibt und die mir das Wochenende versüßen wird mit meinem Lieblingsspiel, erzählt mir Alfons von seiner zutiefst verstörenden Lektüreerfahrung, nämlich einer Stelle in der Trilogie von Joachim Meyerhoff. Darin wird von einem Tierbordell in Indonesien berichtet, in dem Männer einen weiblichen Orang Utan vergewaltigen. Man weiß gar nicht, was man daran am Schlimmsten finden soll: dass die Männer den Menschenaffen zu diesem Zweck am ganzen Körper glatt rasieren, oder dass es dort auch ein Krankenhaus geben soll, in dem die Menschenaffen therapiert werden, weil sie von ihren Vergewaltigern mit Geschlechtskrankheiten infiziert wurden. Nach Indonesien will ich auf gar keinen Fall, schon gar nicht mehr, seit ich The Act of Killing gesehen habe. Die faschistischen Horden dort tragen Camouflage in orange und schwarz. Alfons sagt, er sei immer davon ausgegangen, dass es alles, was schrecklich ist, auch auf Youtube zu sehen gibt. Aber seit er an Weihnachten in diesem Buch gelesen habe, ahne er von einer Existenz höheren Schreckens. Also dass es noch viel mehr Schreckliches gibt, als Youtube zeigt. Dann reden wir noch übers binge eating und tauschen unsere Lieblingsrezepte aus.

Das bringt uns dann glücklicherweise wieder besser drauf.