14.9.2019

Der Schwiegersohn der Mume telefoniert mit den Arbeitern auf der Baustelle daheim, in Bulgarien. Er tritt als Bauunternehmer auf, trägt seit neuestem bloss Schwarz, dazu eine Sonnenbrille (ebenso). 

Anlässlich der Überreichungszeremonie unseres Martiniza-Geschenkes an die Mume im vergangenen Jahr verriet diese uns in groben Zügen vom familiären Bauvorhaben eines Hauses voller Ferienwohnungen in der Nähe von Varna an der bulgarischen Goldküste, von woher ja wohl die ganze Familie der Mume inklusive des Schwiegersohnes stammt, beziehungsweise von woher sie einst vor vielen Jahren nach Frankfurt aufgebrochen waren, um hier das für die Bauarbeiten an ihrer Ferienwohnanlage benötigte Geld zu verdienen.

«Tamam», das Wort, die Lautfolge, die im Türkischen, im Arabischen und wahrscheinlich noch in weiteren Sprachen bedeutet «In Ordnung», «Okay», «Geritzt» und so weiter, sie kommt auch bei ihnen andauernd vor, mit Tamam rhythmisiert er den Rapport seiner Gesprächspartner in der Ferne, die er sich über Lautsprecher zuschalten lässt. Sein Büro ist der Balkon, die Telefonate beschallen den Hinterhof. 

Auf der anderen Seite des Hauses ist die Attraktion zwar stumm, dafür meinen Augen zum Schmaus. Zweierlei gibt es hier für mich zu sehen, beziehungsweise: im Auge zu behalten, weil sich das Geschehen in den Häusern gegenüber andauernd verändert. Nichts gegen die Baufortschrittstelefonate, da gibt es mit Sicherheit jede Menge Belauschmaterial, was sozusagen Gold wert sein wird, aber ich kann halt leider kein Bulgarisch. Dafür kann ich so gut wie alles fassen, was ich sehe. 

So leben in dem Haus gegenüber die Wanderarbeiter. In der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres hatte ich über sie geschrieben, passenderweise, weil dann die acht Fenster, die streng symmetrisch entlang der Mittelachse dieses Hauses in die Fassade eingelassen sind, schon am Nachmittage leuchten wie ein Adventskalender. Seitdem wurde die Befüllung der acht Kästchen, die ich von unserem Fenster aus einsehen kann, schon zweimal ausgewechselt. Jedes Mal reinsortig mit Männern. In den lichten Jahreszeiten spielt sich ihr Wohnen überwiegend auf den schmalen Balkons vor ihren Kästchen ab. Sie sitzen dort auf ausrangierten Chefsesseln, allein der Platz auf ihnen herumzurollen, noch sich auf dem Sessel im Kreis um sich selbst zu drehen, fehlt. Eher selten treffen sie sich zu zweit oder dritt auf dem Balkon eines Nachbarn. Monadenhaft zeigen sich die Arbeitsnomaden in ihre Mobiltelefone vertieft. Gestern aber sah ich dort einen, der reinigte und polierte ihn anschliessend sogar: seinen Arbeitshelm. Sein Balkonnachbar schaute ihm dabei zu, ihre Kommentare konnte ich nicht hören, wahrscheinlich hätte ich sie auch nicht verstehen können, aber scherzhaft, heiter auf die Natur des Helmes bezogen, wollten sie mir vorkommen.

Die zweite Attraktion befindet sich im, beziehungsweise vor dem Souterrain in dem Nachbarhaus des Wanderarbeiterheims. Dort hat vor kurzem ein Friseur aus Äthiopien sein Geschäft eröffnet. Die meisten Stunden des Tages verbringt er, ein karamellfarbiger Twen, auf einem eigens hierfür angeschafften Chefsessel. Darauf rollt er vor seiner bei diesen Temperaturen jederzeit offen stehenden Ladentür hin und her, dreht sich auch mal um sich selbst im Kreis.

Das alles fasziniert mich. Aus welchem Grund, weiss ich nicht. «Muss man seine Zeit», heisst es bei Brigitte Kronauer «wie pausenlos gesagt wird, tatsächlich verstehen und mit ihr auf einer Höhe sein, als Jugendlicher, Greis und in voller Blüte? man ist die Zeit doch selbst.»