15.12.

Gestern, es war um die Mittagszeit, spazierte ich mit Adson, dem Novizen, und der dubious duchess entlang der elend langen Hauptstraße, die auf vier Spuren durch Moabit führt. Wir waren auf dem Weg in die Kantine und sprachen über dies und das: Pro und Contra der Ganzjahresfütterung, den fabelhaften Film I, Tonya, Eiskunstlauf an und für sich, die taiwanesische Bananenmilch in Dosen, die keine Milch enthält, dafür aber köstlon schmeckt, da, wir hatten bei grünem Licht bereits die Kreuzung überquert, nahm ich wie aus dem Augenwinkel wahr, dass direkt vor uns ein Greis dabei war, umzukippen. Noch stand er dort, am Rand des Bürgersteigs, auf eine einzelne, billig und schadhaft wirkende Krücke gestützt, deren mit einem grünen Gummipflock bewehrtes Ende er halb suchend und halb stochernd auf die nasse Fahrbahn aufzusetzen plante. All das nahm ich, und wie es sich hinterher im Gespräch herausstellte, nahmen wir alle drei, der Novize, unsere Kollegin und ich, innert eines Augenblickes wahr; inklusive der antizipierten Folgesekunde, die sich dann aber erst und schlagartig ereignete: von einem Stöhngeräusch begleitet, sackte der Mann in sich zusammen und fiel der Länge nach hin auf die Straße. Platt auf sein Gesicht, das auf einem eisernen Gullideckel aufschlug. Es gelang mir, ihn von hinten gepackt aufzurichten, er hing schlaff und unheimlich schwer in meinen Armen. Im Verkehrstau war wie zum Glück eine Ambulanz zu sehen, deren Blaulichter die regennassen Blechdächer der vor ihm stehenden Autos überragten. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt, er stöhnte und sagte sonst nichts. Der Novize versuchte, an seinem Telefon eine Verbindung zur Notrufzentrale aufzubauen. Unsere Kollegin winkte die Ambulanz heran mit dieser Geste, mit der man in Filmen ein gelbes Taxi in New York zu sich heranwinkt She hailed down an ambulance. Bis die Sanitäter die Trage aufgebaut hatten, war mir der Mann in meinen Armen so schwer geworden, dass ich fürchtete, ihn nicht mehr halten zu können. Als man ihn mir endlich abgenommen hatte, sah ich zum ersten Mal auf sein Gesicht, das ich bislang nur als Quelle des großen Blutströmens hatte wahrnehmen können. Die Nase war zur Hälfte eingerissen, der Knochensteg des Nasenrückens verlief krumm; man schaut da kurz hin und weiß: gebrochen. Die Sanitäter bemühten sich sehr, ihn auf eine Fahrt ins Krankenhaus einzustimmen. Der Greis versuchte sich mit allen Kräften zu wehren.

»Ich will nicht ins Krankenhaus.« Immer wieder musste ich an seinen einzigen Satz denken, den er wiederholte, während man ihn auf der Trage liegend und blutüberströmt in das Innere des Wagens schob. Eine Passantin stand ratlos herum mit seiner klapprigen Krücke in der Hand.

Wie blitzartig schnell das alles geht. Ich weiß es ja selbst nur zu gut. Wie man eben noch den Prometheus zitieren kann und dann wacht man auf, Stunden später. Aber es war kein Traum, das war das Leben. Und jetzt ist es noch immer das Leben, aber es ist ein anderes, es wird niemals wieder so sein wie zuvor.

Dazwischen ist blankes Nichts. Das Nichts ist groß und dehnt sich aus.