16.10.

Auch heute Morgen schaute ich, wie gestern Abend vor dem Zubettgehen, mit einem angenehmen Gefühl des Befremdens in den Spiegel. Mein Spiegelbild, ansonsten für mich kaum der Rede wert, gehört nun seit gestern in die Galerie der anderen Bilder hier an meinen Wänden; ich erkenne mich noch wieder, zögernd, aber immerhin. Älter sehe ich nicht aus, jünger auch nicht. Die Veränderung in meinem Gesicht lässt sich allenfalls mit dem Effekt plastischer Chirurgie beschreiben, deren Patienten ja hinterher auch nicht wirklich jünger aussehen, oder besser. Sondern halt anders.

Gerade weil es gestern frühmorgens schon derart so unerfreulich wie ausdauernd zu regnen angefangen hatte, fuhr ich nach dem dritten Kaffee zu meinem Friseur, denn bei extrem schlechtem Vormittagswetter lässt sich mit einem Samstagmittag nicht viel anderes veranstalten, als einen Schönheitstag einzulegen. Im Vorübergehen nahm ich auf der Hauptstraße sozusagen mit Wohlwollen zur Kenntnis, dass die Gedenktafel am David-Bowie-Haus mittlerweile ersetzt worden war und mehr noch: Sie war jetzt zusätzlich noch mit einem Rahmen aus gebürstetem Edelstahl bewehrt (ein Äquivalent für »ringsum« existiert in der deutschen Sprache nicht für einen eckigen Gegenstand), sodass es den Andenkenjägern dieses Mal deutlich schwerer fallen dürfte, das Porzellan zu zerschlagen, um es scherbenweise abzutransportieren. (Ich habe meine zwei i-Punkte für einen dem sentimentalen Wert extrem angemessenen Preis an Steve verkauft, den Burgerbrater im kleinen Café gegenüber, auf dessen einem Unterarm Elvis eintätowiert ist, auf dem anderen Bowie. Steve war sichtlich gerührt bei der Übergabe der minuskulen Scherbe. Ich hatte diese nämlich zum Zweck des Verkaufes in eine edle Schatulle aus schwarzem Polyvinylchlorid mit klarsichtigem, leicht gewölbtem Deckel gebettet, der auf den darunterliegenden Inhalt eine sachte, dafür entscheidende Vergrößerungswirkung hatte.) Es ist also nicht nur in diesem Zusammenhang unangemessen, wenn ausgerechnet Frankfurter Kreise Berlin als einen failed Stadtstaat ins Gerede zu bringen suchen. Sehr vieles funktioniert hier nämlich einwandfrei.

In meinem Salon herrschte der für einen Samstag übliche Stoßbetrieb, was in diesem Fall bedeutete, dass beide Stühle der Brüder bereits mit Kunden besetzt waren, die frisiert wurden. Auf den zu einer Bank an der Wand entlang bis zum Kühlschrank hin aufgereihten Stühlen saßen noch weitere Männer in die Lektüre ihrer Zeitschriften vertieft. Teegläser waren bereits verteilt worden. Ich hatte mich soeben meiner feuchten Jacke entledigt, da stand ein mir fremder Mann mit grauem Bart und rasierter Glatze vor mir und wies einladend, dabei einen Umhang wie das Handtuch eines Oberkellners im Cartoon über seinen die einladende Geste ausführenden Unterarm gehängt, auf den ominösen dritten Stuhl. Dieser hatte, so zumindest nahm ich es aus Erfahrung an, stets leerzubleiben. Jedenfalls hatte ich noch nie jemanden auf diesem zwar montierten, doch nie genutzten dritten Friseurstuhl sitzen gesehen. Und mir nichts weiters dabei gedacht. Wäre ich eine Frau und käme in das Behandlungszimmer meines Gynäkologen und der hätte dort, warum auch immer, einen zweiten Behandlungsstuhl aufgestellt, dann würde ich mir angesichts dieser Konstellation vermutlich weitreichende Gedanken gemacht haben wollen (selbst wenn dieser zweite Behandlungsstuhl dann für die Dauer meiner Behandlung leer bliebe; selbst dann vor allem, wenn mein Gynäkologe auf meine Frage, was das denn mit dem zweiten Stuhl solle, mit einer wegwerfenden oder beschwichtigenden Geste entgegnen würde; vor allem dann!). Bei einem stets unbesetzten dritten Stuhl in einem von zwei Friseuren betriebenen Salon kommen unbehagliche Gefühle dieser Art nicht auf. Auch hatte ich mir bis gestern noch keine Gedanken gemacht, was oder wer sich in dem durch einen Klimpervorhang abgeteilten Hinterzimmer des Salons befinden mochte. Das war nun klar, es war der Alte, der von dort aus auch mit einer Fernbedienung die Lautstärke des unablässig Hochzeitsmelodien abspielenden Fernsehapparates regulieren konnte, der an einem stählernen Teleskoparm hoch über Stuhl eins an die Salondecke montiert war. Augenblicklich waren dort die Melodien illustrierende Aufnahmen von Golfspielern am Golf zu sehen. Auf den Greens Saudi Arabiens, so schien es, wehte eine steife Brise: In einer fatal wirkenden Gefährdung der idealen Abschlagsbewegung, die ja eine Torsion des Oberkörpers bei gereckten Oberarmen erfordert, knatterten die Schleier der Spielenden im Wind.

Der Alte, bei dem es sich unzweifelhaft um den sogenannten Meister handeln musste – das teilte sich mir aus den halblauten Kommentaren der Brüder mit, die mich ja beide als ihren Stammkunden kannten –, drückte mir die Knöchel seiner geballten Fäuste links und rechts in die Vertiefungen meines Schlüsselbeins und gab dazu einen katzenhaft schnurrenden Laut von sich, den er dann noch einmal in einer gedehnten Version wiederholte, als er mir mit beidseitig flach angelegten Handkanten die Blutzufuhr durch meine Halsschlagadern abklemmte. Breath Play im Friseursalon – why notzky, wie es hier in Schöneberg ganz richtig heißt. Da er mir mittlerweile die Brille abgenommen hatte, nahm ich den Rest seiner Behandlung durch einen mein Vertrauen fördernden Schleier wahr. Den Bart kürzte er freehand, ohne einen Kamm zuhilfe zu nehmen. Das allein wies ihn als einen alten Hasen der gestählten Sorte aus. Währenddessen, ich hielt die Augenlider fest geschlossen, aber mein Gesichtsgefühl sagte mir das ungefähr so genau, wie es tausend Blicke getan, verteilte er mit einer dritten (???) Hand bereits heißes Wachs auf meinen freirasierten Wangen und, das empfnd ich als alarmierend: über meiner Stirn. Mit harten Gegenständen – eventuell waren es Essstäbchen, möglicherweise auch Rouladennadeln oder Pfeile – drang er tief in meine Nasenlöcher, sowie beiderseits in meine Ohren ein. Dann, er war mit dem Rest seiner Tentakel gerade in meinem Nacken zugange, wo er, obwohl ich ihn ausschließlich um die Bartpflege gebeten hatte, mit relaishaft klickendem Schnippschnapp die Saumkante meines lang gewachsenen Haars begradigte, oder gar ausdünnte, gab er in gebrochenem Englisch, der einzigen Sprache, die ihm außer dem Arabischen zur Verfügung stand, ein Kommando zum Spiegelblick. Dazu reichte er mir meine liebe Brille. Und was ich sah, war ein Gesicht mit Brille und Bart, in dessen sämtliche Öffnungen der Alte Ohrenstäbchen gesteckt hatte wie in eine Voodoopuppe. Zögerlich öffnete ich meine Lippen. Mein gebrochenes Englisch ist nicht besonders gut, also zeigte ich ihm den international gültigen Code für thumbs up.

Während der von ihm allein in Vorfreude verbrachten Momente, in denen das solchermaßen in meine Ohren und Nasenlöcher praktizierte Heißwachs aushärten musste, neigte er sich mit seinem freundlich wirkenden Gesicht nah an meines und spähte in mein nun wieder von der schützenden Brille entkleidetes Auge. Er spähte dort hinein, als sei mein Auge ein Türspion, und fragte: »Where you come from?«. Ich sagte »Heimerdingen«. Er zwitschte durch die Zähne und lachte. Die Brüder nickten und es gab einen kurzen Trialog auf Arabisch. Währenddessen schnippte der Alte mit diversen Fingerspitzen gegen die in meinen Gesichtsöffnungen steckenden Ohrenstäbchen. Ich kannte diese Methode aus dem kambodschanischen Foltermuseum S21 in Phnom Penh, allerdings hatte man den Patienten dort und damals Stecknadeln unter die Fingernägel getrieben. Durch ein Schnippen gegen die dort festsitzenden Nadelköpfe wurden die Geständnisse erpresst.

Gut, also so weh tut es nicht. Aber es ist unangenehm. Vor allem, weil der Alte danach noch die gesamte nicht vom Bart bedeckte Fläche mit seinem Zwirbelfaden von etwaigen Feinsthaaren befreit. Mir war nun plötzlich klar, weshalb die Vollbärte in der arabischen Sphäre beinahe das gesamte Gesicht bedecken sollten. Als er mir meine Brille final überreichte, sah ich im Spiegel auf eine Tomate mit Zähnen. Das war mein Gesicht. Zum Abschied hämmerte mir der Meister, der mich von nun an als Stammkunden akzeptiert hatte, noch einen seiner goldenen Merksprüche ein: Bart alle sieben Tage – good. Nackenhaare alle 21 – good. Den nach wie vor gelangweilt vor sich hin strömende Regen empfand ich als angenehm kühlend auf meinem Gesicht.