16.10.2019

Für mein Empfinden von der Zeit am Tag ist es schon ziemlich spät, zu spät für mich jedenfalls: Ich sitze in einem ICE nach Frankfurt am Main, draussen, hinter den Fenstern ist es Nacht. Die Abfahrtszeit habe ich mir nicht selbst ausgesucht, das Ticket stammt noch aus einer von mir sogenannten Phase in diesem Sommer, als ich noch nicht einmal mehr genug Geld zur Verfügung hatte, um mir sechs Eier zu kaufen, einen Liter Milch, geschweige denn eine Fahrkarte für die Deutsche Bahn.

Der Zug ist voll mit Passagieren und wie natürlich ist der Speisewagen seit Abfahrt am Berliner Hauptbahnhof ausser Betrieb. Ich habe in meinem Leben noch nie eine Platzkarte gelöst, mich immer auf einen Sitz im Speisewagen verlassen. Auch seitdem es, seit ein paar Jahren nun zunehmenderweise: dort keinen Service mehr gibt. Aus den sogenannten Bordbistros ist somit im Laufe der Zeit ein wie reguläres Abteil geworden, faktisch ist es eine rollende Ruine, in dem sich all diejenigen einfinden, die sich für den regulären Reservierungsvorgang bei der Deutschen Bahn zu spontan, also faul, oder zu blöd oder halt auch zu klug, alles gleich gut, befinden. 

Wenn man regelmässig mit der Bahn fährt, bedeutet es Coolness, sich nicht über die Mängel bei der Durchführung der Reise aufzuregen. Die Deutsche Bahn ist zwar privatisiert, gehört aber noch immer ganz dem Staat. Gesellschaftlich ist es in Deutschland sogar so geworden, dass man als Beschwerdeführer über die Zustände innerhalb der Fahrzeuge der Deutschen Bahn sich als extremer Alman outet — als Spiessbürger also, wie das einst hiess. Von daher nehme ich das Milieu dort im Gemischtwarenabteil mit Humor. Heute war eine Familie mit fünf Kindern zu Gast. Die waren eindeutig arm, sonst hätten sie ja nicht so viele Kinder, die lebten vom Kindergeld, der Mann schaute nach Arbeitslosigkeit aus, wahrscheinlich durften die sogar en famille umsonst bahnfahren, und wenn Ulf Poschardt mit an Bord gewesen wäre, dann hätte er sich wie in alten Vanity-Fair-Zeiten beflügelt gefühlt, eine Hymne auf die Deutsche Familie zu schreiben. Aber, und das ist wohl Teil des unsrigen, des deutschen Problems: Anders als die Königin von Norwegen reist Ulf Poschardt nicht mit der Eisenbahn. Die Minister im Bundestag auch nicht — vor Jahren sass ich neben Christian Wulff, dann später einmal noch neben Frau Professor Schwan —, oder auf jeden Fall nicht so, dass sie mit «den Leuten» dort in Kontakt kommen könnten. Meint: Mit den Deutschen an sich.

Wer war schon mal in Braunschweig? Wer schaut die neue Serie auf ZDF Neo, wo sich deutsche Frauen bei deutschen Männern zum Essen einladen lassen und die von der Machart her wie auch von ihrem Casting sämtliche von Vox et cetera unterbotenen Standards unterbieten will? «Morgen 16 Grad in Hildesheim. 7 Grad kälter als heute»

In der Warteschlange liess ich alle fünf Kinder aus dieser Familie vor — eins nach dem anderen. Sie erhielten dort gegen Vorlage ihres Gutscheins jeweils ein verkleinertes Modell eines ICE-Zuges, in dem sie sich schon befanden. Als ich dann nach den Kindern — eilig hatte ich es nicht, man fährt ja immerhin und ist damit beschäftigt — an der sogenannten Reihe war, konnte die Tresenchefin wie es mir schien: endlich ihren Damm brechen lassen. Barsch und sächselnd fuhr sie mich an. Ich habe die für sämtliche Beteiligte ungute Situation an Bord bei vielen Fahrten studieren können. Mir tun die Leute, die dort arbeiten natürlich leid, wenn sie, mangels Ware gleich selbst sinnlos geworden, durch das Bundesgebiet gefahren werden, aber ich finde trotzdem, dass sie sich das nicht anmerken lassen dürften. Sie aber rief mir entgegen «Wenn ich unhöflich werde, klingt das ganz anders».

Je nun. Da ich an anderer Stelle schon bösartigerweise geschrieben hatte, die Bahn zöge (sic) Ostdeutsche an, weil dort aus der Zone vertraute Zustände herrschten, so will ich mich heute korrigieren: Die Zustände bei der Bahn befördern (sic) bei den vornehmlich ostdeutschen Angestellten einen Rückfall in die aus der Diktatur vertraut gemachten Techniken zur Kompensation: Anschnauzen, Abmeiern, Wegwinken. Ein ICE sorgt somit, dafür braucht es kein Ticket, bei Bahnfestangestellten (sic) für eine stundenlange Zeitreise zurück in das verloren geglaubte System. Interessanterweise zeigte sich die Mutter der kinderreichen Familie unter solcher Aegide damit beschäftigt, ihren Nachwuchs zum Stillschweigen zu mahnen. Stumm spielten deswegen ihre Kleinen mit den Nachahmungen des ICE auf dem elipsenförmigen Tisch des Bordbistros. Arme Eltern wissen um ihren niedrigen Status in der Gesellschaft; auch um ihre ständige Bedürftigkeit und wollen nicht, dass der Nachwuchs den Gönnern wie Metastasen ihres Lebensstiles lästig fällt.

Doch neben mir sass, so nahm ich an: ein Intendant. Vielleicht war er auch Dramaturg. Er schrieb von Hand, aber was er schrieb, erschien mir nicht als selbst ausgedacht, sondern wie kommentierend. Allein durch mein Anschauen seines Schreibens und mein Nachdenken über die Bestimmung seiner Zeilen konnte ich zu meiner Ruhe zurück finden (während die Bordbistroregentin eine Kundin schuriegelte, die es gewagt hatte, einen grünen Schein hervorzubringen (oder wie es im Englischen heisst: zu produzieren). Der Mann neben mir zog davon unbe- und gerührt sein blaues Band aus Schleifen über die Seiten.

«Why do you write?» lautete die Frage an Nick Cave heute. Ich habe schon oft genug betont, wie gut, wie segensreich ich seine Antworten auf die an ihn gestellten Fragen finde. Aber. Diese hier betraf mich nun. Hätte sie doch, eigentlich und im Grunde, von mir selbst stammen können. Denn warum schreibe ich, wenn ich mir das Schreiben doch eigentlich und im Grunde nicht einmal mehr leisten kann?

Es wird jetzt 26 Jahre her sein, da kam Nick Cave im dunklen Anzug aber barfuss auf die Bühne der Grossen Freiheit in Hamburg. Für mich war das damals ein religionsstiftendes Ereignis. Und hier steht nun seine Antwort auf meine Frage, warum ich schreibe: 

«I feel my songs are conversations with the divine that might, in the end, be simply the babblings of a madman talking to himself. It is this thrilling uncertainty, this absurdity, from which all of my songs flow, and more than that, it is the way I live my life. So, for me, living in a state of enquiry, neutrality and uncertainty, beyond dogma and grand conviction, is good for the business of songwriting, and for my life in general.

Some of us, for example, are of the generation that believed that free speech was a clear-cut and uncontested virtue, yet within a generation this concept is seen by many as a dog-whistle to the Far Right, and is rapidly being consigned to the Left’s ever-expanding ideological junk pile. Antifa and the Far Right, for example, with their routine street fights, role-playing and dress-ups are participants in a weirdly erotic, violent and mutually self-sustaining marriage, propped up entirely by the blind, inflexible convictions of each other’s belief systems. It is good for nothing».

​Morgen 15 Grad in Einbeck. 8 Grad kälter als heute. Die Zugchefin macht eine Durchsage: «Mein Name ist Aphrodite Vrazioti». Und damit geht es los.