16.2.2019

Von der Praxis her kommend, sann ich nach über eine Theorie, dass womöglich Schmutzpartikel, also beispielsweise Staub auf einer eher kleinen oder eng umgrenzten Wohnfläche aufdringlicher wirken im Sinne des sie beseitigen zu wollen, denn auf einer großen, in ihrer Leere schier unendlich weit ausgedehnten. Angeblich war es Mies van der Rohe, der zu einem Kollegen, der sich über ein Problem der Raumaufteilung den Kopf zerbrach, gesagt haben sollte »Mach das Ding doch einfach groß genug, dann gibt es keine Probleme.« Jedenfalls glaube ich, dass Professor Kollhoff mir das so erzählt hatte. Jedenfalls wäre diese Theorie vom großen Schmutz in kleinen Räumen, und vom winzigen in riesigen dann sicherlich auf Berlin anwendbar—im gesellschaftlichen Sinne dergestalt, dass sich hier viele halt deshalb so blöd aufführen, weil die Stadt so weitflächig ist. Und ihr krümelhaftes Wirken auf dem unendlich weiten Fußboden nur im allerengsten Umkreis unangenehm auffallen kann. 

So kam ich morgens beim Überqueren des Richard-Wagner-Platzes in eine Szene, da hatten zwei Sanitäter einen Stuhl zum Krankentransport über das Trottoir bis zu einer bestimmten Hausnummer zu rollen, weil sie von dort gerufen worden waren. Doch mischten sich Passanten ein, die aus dem Tchibo gelaufen kamen, denn auf der Bank unter dem Omnibushäuschen lag ein Mann unter einer Decke, der keine Lebenszeichen mehr von sich gab. Auf dem Asphalt unter ihm hatten sich über Nacht teils schon versickerte Pfützen seiner Körperflüssigkeiten gebildet. Die Passanten hofften nun, die Sanitäter könnten sich um den Bewußtlosen kümmern.

»Wir sind doch kein Pennertaxi!« rief der eine, der andere sagte gar nichts. Dann schoben sie ihren blauen Stuhl weiter zu ihrer Kundschaft. 

Das waren jetzt keine Sanitäter des Roten Kreuzes. Zwar waren sie hell gekleidet, aber auf dem wild in Rot lackierten Auto stand City Ambulance.de. Oder so ähnlich. Es handelte sich wohl um ein Start-Up in der Krankentransportsbranche. Vermutlich waren die schon irgendwie als Erstretter ausgebildet, aber der Mensch, den der eine von ihnen als Penner bezeichnet hatte, war für sie halt ein nichtrettungswürdiges Leben. Wahrscheinlich weil bei dem unklar war, wer die Fahrt dann zahlt.

Gut, ich mußte aber selbst auch weiter, obwohl ich vor dreißig Jahren auf dem Wege zur Erlangung meines Führerscheins bei Josef Apold einen viele Lehrstunden umfassenden Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatte. Apold, ein kleiner Mann mit Backenbart, der außer seiner ehrenamtlichen Tätigkeit fürs Rote Kreuz im Gemeindeleben von Heimerdingen als Koch in Erscheinung trat, hatte eine zu ihm völlig gegensätzlich geformte, sehr große und vor allem sehr dicke Ehefrau. Als die dann eines Nachts—Heimerdingen liegt ja sehr abgelegen—eine Art Herzinfarkt im Schlaf erlitt, konnte er es auf sich gestellt nicht fertig bringen, sie aus dem Bett herunter auf den Fußboden zu schieben, um ihr dort eine Herz-Rhythmus-Massage verpassen zu können. Weshalb sie ihm, noch vor dem Eintreffen des Notarztwagens aus dem fernen Leonberg unter seinen Händen starb. Das erzählte er uns in der betreffenden Stunde, als wir an einem männlichen Torso aus Kunststoff das Reanimieren erlernen sollten.

Traf mich dann mit Beda im Soho House zum Frühstück, was für mich, bis ich dann erst mal oben im siebten Stockwerk eintreffen konnte, mit einigem Ordeal verbunden war. Der Schweizer lachte bloß. Seitdem er, aus Paris und zuvor von Arles kommend, in Berlin gelandet war, kam er aus dem Lachen kaum noch heraus. Wir unterhielten uns gerade angeregt, da schob eine zierliche junge Dame ihren Kopf zwischen die unsrigen und plinkerte. Sie hatte die hellblaue Soho-Bluse an: »Excuse me!« Sie hätte da zufällig mitgehört, wir sprächen über Tel Aviv?

Das konnten wir nicht in Abrede stellen. Sie freute das. Denn immerhin stammte sie von dort her, aus Tel Aviv. Sie hörte nun gar nicht mehr auf zu reden, gab uns vielerlei Tips, die ich mir gar nicht merken konnte. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Ich bestellte mir ein BLT. Ein Brot mit Speck, Salat und Tomate. Sie war noch ganz euphorisch von ihrem Tel Aviv-Vortrag. Kam dann aber ein wenig später amtlicher gestimmt zurück an unseren Tisch und sagte, dass sie uns leider die Brote nicht mehr bringen dürfte, denn es sei ja jetzt 11 Uhr 32 und die Frühstückskarte war laut Aufdruck nur bis 11 Uhr 30 gültig. Tja. Aber in einer halben Stunde wäre 12 Uhr und dann gibt es Lunch.

Gut. So ist das. So muß es nicht sein, aber die Widersprüche gilt es auszuhalten. So groß ist Berlin. So vielfältig auch. Das 20. Jahrhundert ist jedenfalls definitiv vorbei, wenn Engländer es schaffen, Israelis dazu zu bringen, Deutsche und Schweizer so zu behandeln, wie man es sonst bloß den Schweizern und Deutschen nachgesagt hat. Und das ganze, wie ich nicht müde werde zu betonen: in den Hallen des ehemaligen Parteizentralengebäude der SED.

Ging dann den ganzen Weg nach Westen zu Fuß heim. Der Sonn‘ entgegen…