16.5.

Noch schöner als hier ist es zu dieser Zeit nur noch in Baden-Württemberg, vor allem genau dort, im lieblich geschwungenen Strohgäu, wo ich aufgewachsen bin. Es ist jetzt ja die Zeit der Apfelblüte. »Unsere Obstkultur ist seit vielen Jahren durch ihre Ausdehnung berühmt und unsere Obstwälder, welche die Städte und Ortschaften umgeben, unsere Obstalleen, welche die Landschaften durchziehen und sie so malerisch machen, werden von allen Fremden, besonders von den Besuchern aus dem Norden Deutschlands, mit Bewunderung und Freude betrachtet.«, heißt es in einer Festschrift aus dem Jahr 1871*. 

Diese Obstwälder und Alleen, vor allem aber die in mehr oder weniger gradlinigen Reihen die Hügel hinauf und hinunter wachsenden Blütenbäusche, gibt es dort zwar immer noch, aber sie bestimmen das Bild heute nicht mehr in dem Maße, wie damals, als ich dort noch durch die Gegend gefahren wurde und später auch selbst mal am Steuer saß. Das Schnellstraßensystem hat sich enorm entwickelt. Um jeden Ort, und selbst die kleinsten unter ihnen sind mittlerweile schon groß, führt man die Straße in einer Schleife herum, bevor man vor dem Ortsausgang, wo heute eine Ladenscheune von Netto zu stehen hat, in einem Kreisverkehr scheinbar beschleunigt wird, um auf einer landeinwärts führenden Schnellstraße voran sich schleudern zu lassen. Was dann links und rechts an einem vorbeifliegt, enthält diese blühenden Apfelbäume. Sie sind eingegangen als Sprenkel und Saum in die flurbereinigte industrialisierte Landwirtschaft. 

Im Traum, so komme ich überhaupt darauf, ging es noch einmal in einem Bus über Land, an dessen niedriger Decke die mit Apfelblüten beladenen Zweige an den Oberlichtern entlangstreiften, sodass ich von unten her die feinen gelblichen Striche auf den duftenden Blütenblättern erkennen konnte. Scharf wie gestochen. Das Gefühl im Traum war Herrlichkeit. Auch als wir, was es in Wirklichkeit ja gar nicht gibt, unter einem Baum hindurch fuhren wie durch die Puschel einer Waschanlage, bloß halt dass dieser Baum über und über mit den Dolden von Holunderblüten vollhing (und damit segnete er sämtliche Scheiben des Traumgefährts ringsum).

Eine blitzhafte Nachricht aus der Kindheit, darauf gepfropft ein Wunsch nach Herrlichkeit. Wie in dem Text zur Festschrift von 1871 berichtet wird, hatte der pomologische Verein damals eine Ausstellung mit den 3000 wichtigsten Apfelsorten organisiert. In der Ortschronik meines Heimatsortes Heimerdingen erzählt Otto Schwarz: »Einige gebräuchliche Apfelsorten waren: Rote und blaue Luiken, Fleiner, Postmichel, Bittenfelder, Pratzel- und Holzäpfel«. Ich selbst kann mich noch an das Ernten erinnern von Gewürzluiken, Blutstreiflingen, Schafsnasen und Jakob Fischer. Die Bäume blühen ja nicht bloß schön. Sie treiben aus den Blüten auch zentnerweise Früchte. Das Gemälde Mittagsgebet in der Ernte von Theodor Schütz wirkt vorzeitig, aber noch in den frühen Achtziger Jahren, bevor sich der Palisadenschnitt und die Plantage bei den schwäbischen Obstbauern durchgesetzt hatten, wurde dort so geerntet: Die krummen und hohen Bäume wurden mit langen Leitern umstellt. Die zentnerschwer in den Kronen hängenden Früchte wurden in Körbe gepflückt, die Körbe in Säcke gefüllt, die Säcke auf Anhänger entleert. Die Anhänger abends von Traktoren weggeschleppt. Und in jedem neuen Frühling fangen die Apfelbäume wie von sich aus wieder von vorne an mit dem Blühen.

*Zitiert nach: Eine Württemberger Apfelgeschichte von Bernd Neuner-Duttenhofer