17.7.

Die Sorten wilder Salate sind jetzt allesamt reif zur Ernte. Das stellte ich gestern nachmittag beim Betreten des Hochbeetes fest, von wo aus ich eigentlich bloß mit dem Fernrohr über die Hecke in den Nachbarsgarten hatte spähen wollen – dort fand am zweiten Veranstaltungstag des Festivals Empfindlichkeiten die Lesungen internationaler Dichter statt. Vorgestellt vom Redakteur für englischsprachige Texte des Monatsmagazins Siegessäule, traten dort alle zehn Minuten vornehmlich Männer an das Mikrofon, das an einem Stativ auf einem roten Teppich aufgebaut war, der ohne darunter gebaute Podeste über dem Rasen ausgebreitet lag. Das Publikum lagerte ringsum auf Decken, oder auch einfach bloß so. Angenehmes Set-up. Dichtkunst ging eher so.

Wie Barbara Sichtermann mir einst in Rendsburg erklärt hatte, geht es bei jeglicher Lektüre vor allem anderen darum, das literarische Produkt erst einmal anzunehmen. Was ich seitdem noch mehr beherzigt habe als zuvor, aber bei, durch Lautsprecher verstärkt, vorgetragener Literatur bleibt ja auch keine andere Wahl. Während ich zarte Innenblätter aus lichtgrünen Löwenzahnbüscheln schnitt, Möhrenkraut und Kerbel sammelte, sowie einige lanzettförmige Blätter die ich nicht kannte, Pl@ntNet auch nicht, aber sie schmeckten jedenfalls abartig gut, trug wenige Meter neben mir ein blonder Lockenkopf im weißen Hemd seine Zeilen auf Englisch vor, eine Sprache, die ihm erkennbar fremd geblieben war. Der Lautsprecher verstärkte seine Verlegenheit wie eine Lupe, sie erstickte alles, was er zuvor in den weiten Raum gesandt hatte. Ich sah nicht hin. Dann wiederholte er sein Gedicht auf Deutsch, das wohl seine Muttersprache war, und – es verhielt sich damit aber genau so:

»Ihr Selbstverständnis reicht
Von A bis Z
Von hinten
Angefangen fangen dort die Zweifel an«

Es gab trotzdem Applaus. Dann kamen zwei Russen, die den Teppich auf vitale Weise betraten, sodass ich mein Kräuterkörbchen doch inmitten des Sauerklees abstellte, um mir deren Auftritt genauer anzusehen. Die beiden entsprachen freilich schon auf krasse Weise den Erwartungen, die das Publikum noch immer und sei es nur insgeheim und sozusagen heimlich an die Erscheinung eines Dichters stellt. Dementsprechend saftig auch die Verse, die sie abwechselnd vortrugen, sodass sich aus den Sonetten bald das Epos einer endlosen Nacht zu fügen begann. Wobei ich, nachdem ich mir das zur Hälfte reingezogen hatte, sagen muss, dass ein klitzekleines, dennoch wesentliches Problem der konkreten schwulen Poesie darin zu bestehen scheint, dass die Gedanken des oder der lyrischen Ichs auschließlich um das Eine kreisen. In Ermangelung des Anderen. Das war bei Sappho irgendwie nicht so. Also lauschte ich auf dem Weg nach Hause noch eine ganze Weile der Ode an die einäugige Schlange. Bei der Zubereitung des Salates, bei seinem Verzehr dito.

Es war ja sehr warm und durch die geöffneten Fenster schallte die Lautsprecheranlage, die sehr potent war, wie mir schien. Das erinnerte mich auf amüsante Weise an jene Anekdote aus dem Axel Springer Verlag zu jener Zeit, als der Verleger Axel Cäsar Springer selbst noch am Leben gewesen war, und die Studenten während ihrer Unruhen in den Sechzigerjahren den Schabernack so weit getrieben hatten, dass Spezialeinheiten des SDS ihm, Axel Cäsar Springer, die hauseigene Druckerei in Brand gesteckt hatten. Diese Druckerei, so muss man wissen, ragte damals wie eine goldene Schublade, ähnlich der einer Registrierkasse aus dem Goldenen Hochhaus an der Kochstraße, die heute ja in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt ist. Denn nicht alles war Schabernack damals, das darf man halt auch nicht vergessen. Dies aber schon, denn es brannte also die Kassenschublade, im Goldenen Hochhaus versammelten sich Christian Kracht senior, Vater des Schriftstellers, sowie zu damaliger Zeit auch Generalbevollmächtigter des Verlegers selbst, im Kreise einiger Verantwortungsträger aus den Redaktionen. Der Generalbevollmächtige notierte in sein Tagebuch: »Wir trafen uns zu einer Lagebesprechung in meinem Büro. Licht brauchten wir keines zu machen, es brannte ja die Druckerei.«

Salat köstlich beyond words. Früh zu Bett.