18.12.2019

Das Wetter orchestriert meine Heilung. Gestern, auf dem Weg vom Krankenhaus in die Stadt, sogar mit blitzblauem Himmel, heute immerhin noch mit schöner Temperatur und beidesmal mit einem Tageslicht, das mich denken lässt: Der Winter ist zuende. Dieses Licht, im Verein mit den feuchten Baumstämmen und Zweigen, dem lauen Lüftchen und einem Strauchgeschehen in diesem einen Vorgarten, bei dem die Knospen schon für rosa Blüten platzen, ergibt das Bild des kampflos verendeten Winters. Kommt da noch was?

Die Heiterkeit, die ich ausstrahle, steckt natürlich an. So betrat ich nach Mittag zum ersten Mal den obskuren Laden für Scheren und Messer am oberen Ende der Münchener Strasse. Obskur deshalb, weil in dessen ausladenden Schaufenstern weder Messer noch Scheren zu schauen sind, sondern vor alledem Postkarten. Ich nahm mir eine auf schöne Weise verwitterte, auch vom Wetter gegerbte, aus einem der zahlreichen Drehständer im Eingangsbereich und betrat den hinter einem gelblichen Windfang gelegenen Geschäftsraum. Der war, wie ich vermutet hatte, sehr gross. Und, wie ich überraschenderweise fand, beinahe leer von Waren. Als ich an den ebenfalls gelblichen Wänden, an denen einst tausende von Messern und Scheren gehangen haben dürften, bis an die Rückwand geschritten war, kam mir aus einer darin eingelassenen Tür, die mir im Nachhinein wie eine Katzenklappe, aber für Menschen gemacht, vorkommen will, eine kleine Frau aus Japan entgegen. Sie hatte eine Kittelschürze an und sagte «Postcard». Der Geschäftsraum war demnach von versteckten Kameras überwacht. Ich ging mit ihr zu dem nahe des Windfang gelegenen Kassenhäuschens. Die Japanerin hatte Flusen im Haar, aber ich brachte es nicht fertig, sie ihr wegzuzupfen. Sie nahm die Karte aus meinen Händen entgegen, wie Japaner Karten entgegennehmen. Sie schaute auf das Motiv und sagte «Opernhaus». Dann öffnete sie die verglaste Tür des Kassenhäuschens und nahm die Karte mit hinein. Ich schaute ihr durch das Türfenster zu, wie sie im Inneren des Kartenhauses noch einmal auf das Abbild der Alten Oper schaute. Dann öffnete sich die Tür, und sie gab mir die Karte zurück. Ich wartete auf ihre Preisforderung. Als ich mein Portemonnaie zückte, hob sie wie beschwichtigend ihre Hand und sagte «Das ist nur so.» Sie verabschiedete sich. Ich verabschiedete mich dann auch von ihr, bedankte mich für die Karte und ging hinaus durch die Eingangstür.

Auf der Lesung von Gerd Koenen, am Vorabend meiner Erkrankung, begrüsste der mich mit dem Ausruf, dass ich ja genau das machte, was er immerschon machen wollte! Ich fragte, was. Er: Na, kleine Alltagsbeobachtungen. Ich sagte, dass er das doch einfach machen sollte. Er aber hatte «dazu» natürlich «keine Zeit».

Abends dann mit Friederike noch stundenlang kreisförmig ausgestochene Plätzchen mit Schokolade überzogen und mit den kuriosen Äuglein aus Zucker besetzt, die ich aus Berlin mitgebracht. Vollendet mit lauter O-Mündchen aus rot eingefärbtem Zuckerguss. Als ich später ins Schlafzimmer kam, wo die Keksgesichter auf dem Fensterbrett trockneten, äugelten sie mich zu Dutzenden an.