18.2.2020

Unversehens — wie auch sonst? — war ich mitten in ein Abenteuer geraten. Dabei hatte ich doch bloß eine Kundenkarte für den Künstlerbedarfshandel beantragen wollen. Mir war nämlich aufgefallen, dass man in Frankfurt beim Zahlen nicht die Kreditkarte funkeln lässt wie anderswo, sondern eben diese Kundenkarte der Firma Boesner. Vermutlich weil ein Dasein als Künstler sich hier, in der Stadt des Geldes, im angenehmen Kontrast zum Bürgertum darstellen lässt.

Und es läuft noch immer wie bei Kafka — wobei die Nachtglocke mittlerweile «Google Maps» heisst. Derzufolge ich mit der S-Bahn wo ganz anders hinfahren sollte, als ich das in Erinnerung behalten hatte von meinem bislang ersten Besuch im Künstlerbedarf. Damals, vor zwei Jahren, als wir dort das Zubehör für unsere Linolschnittproduktion einkauften. Aber wo ich der Angabe auf meinem Bildschirmchen zufolge vom Zug abstieg, reichten dunstige Weideflächen und gulaschbraune Äcker ans Ende der Welt, am anderen Ufer der Gleise wiederum türmten sich schon wieder oder noch immer städtische Strukturen auf. Dadurch hatte ich neues Vertrauen in meine Navigation gefasst und ging den Weg in Richtung Dorf. Die Kehre rahmte eine Kolonie von Schrebergartenhäuschen ein, von denen einige zusammengedroschen waren, bei anderen fehlte mindestens das Dach. In Berlin hatte mir Jan einst im Sommer das verborgene Reich gezeigt, eine glücklich versteckte Kolonie mitten in der Stadt, die teilweise an Indien erinnern konnte. Hier, bei den Ruinen am Fuße von Frankfurter Berg dachte ich natürlich an ein Erdbebengebiet; aber an eines, das auch bloß so modellhaft und sozusagen knuffend sich ausgewirkt hatte im Verhältnis zu den dünnen Sperrholzwänden der von ihm erschütterten Bauten.

Dann die ersten Hochhäuser, wahrscheinlich noch aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und seitdem kein einziges Mal fassadensaniert: Und wie im Kontrast dazu die allerhochtrabendsten Straßennamen! Vor einer katholischen Kirche, nicht von Gottfried Böhm erdacht, ragte — meiner Ansicht nach: zweckfrei und auch sinnlos — ein etwa acht Meter langer Riegel aus Beton in den Himmel. Senkrecht. Warum? Das konnte ich nicht ergründen. Es war auch niemand dort, den ich hätte fragen können. In Stirnhöhe war auf dem Beton ein Straßenschild aus dem Fanshop der Lindenstraße befestigt, darauf in weiß auf blau: «Platz des Guten Hirten». Und an dem Nachbarhaus, das viele vergitterte Fenster mit grünen Fensterläden hatte, stand «ADAC Hier können Sie Mitglied werden» auf einem Schild. Dann die mehrere hundert Meter breite Kaserne der Bundespolizei. Und die klare Stimme eines Rotkehlchens, das, ich musste nicht lange suchen, im tiefen Schatten einer Eibe saß und vor sich hin zwitscherte, frühlingshaft gestimmt. Bald da ich stehen geblieben war, schaute es zu mir herab und wippte — ohne Furcht. Gerade so, als ob es mich sähe. Als ob es mich kennt.

Es war am Rande dieser mäßig befahrenen Ortsdurchfahrt, am Zaun der Bundespolizeikaserne, wo in der Eibe ein Rotkehlchen für mich sang, dass ich beschloss, bald einen Farn zu kaufen. Für mich der Inbegriff der Häuslichkeit, des sesshaft werdens und somit ein Projekt, dass ich seit gut und gerne fünfzehn Jahren aufgeschoben hatte; doch immer wieder habe ich daran gedacht, mitunter war ich auch mal kurz davor. Jetzt aber, nun, so war mir klar mit einem Mal, währenddessen ich dem Rotkehlchen lauschte, ist es soweit.

Das Rotkehlchen indes schaute von seinem Zweige aus mit seinem Rotkehlchenauge. Unentwegt, auf seine Art.