19.5.2019

Früh auf, von draussen her: wärmende Grüntöne. Die mit Laub bestückten Äste schwingen im Wind, sie locken mich: «Come hither, Darling»—Andere müssen sich eine 3-D-Brille aufziehen, um das genau so erleben zu dürfen. Scharfkantig die Wolken gegen das Blau: Ein weisses Pferd (bei Beda drüben, der jetzt schon in der Camargue, bei den Flamingos* weilt).

Der erste Schluck von der Milch hier: freilich ein Affront.

Im Park zuerst die Schwanen besucht: es waren vier von fünfen ausgeschlüpft. Und sassen dort puschelig auf dem Nest, auf dem sie jüngst noch in den Eierschalen gelegen. Das fünfte schlief noch, wahrscheinlich für immer und ewig in seinem Ei, das abseits lag; tatsächlich so gross und auch so geformt ist wie der Kieselstein aus der Bretagne auf meinem Fensterbrett. Erste Ausfahrten. Die Schnäbelchen glänzen noch schwarz und sind so glänzend und feinsinnig geformt wie Jodhpur Boots von Trickerˋs.

Ein Eichhörnli mit weißem Latz war ganz nah und schaute auf mein Zwitschen hin in die Kamera. Am Ufer, bei dem hellen Stamm, wo die noch roten Blätter der Seerosen an die Wasseroberfläche stossen, machte es plumps, und ich sah von ihr nur noch den Panzer über schlammigem Grund: rundlich rostiges U-Boot der Wasserschildkröte, die ich beim Sonnen gestört.

Und so gern ich alles hasenförmige habe: Ich würde die elf Millionen, die ich nicht habe, sehr viel eher noch zahlen für solch einen gelungenen Morgen im Park kurz nach Sonnenaufgang. Hinter dem Lanzettenzaun wird es sofort wieder feindlich. Ein Bus fährt vorbei, auf dem steht «Sie haben einen sitzen. Wir 45», auf dem nächsten «Nach dem Verkehr müssen Sie leider gehen»: Es ist ja weder lustig, noch ist es informativ. 

Vor gut zwei Jahren, als ich noch bei Interview schaffte, und der Schulz-Zug auf guten Touren lief, schrieb ich an die SPD im Willy-Brandt-Haus mit der Bitte um ein Gespräch mit ihrem Kanzlerkandidaten. Fotografieren sollte Wolfgang Tillmans. Das wurde mir nach einigem Hin und her abschlägig beschieden. Erschienen ist ein Interview dann mit einem Foto von Martin Schulz in der Grünanlage vor dem Golden Shower Tower in der Sonntagszeitung Welt am Sonntag. Jetzt gibt es diese Großplakate mit Katarina Barley. Anscheinend hat man sich im Willy-Brandt-Haus die folgenden Gedanken gemacht «Tillmans will ja bloss diese abstrakten Schriftposter gestalten, die sie neulich in der NZZ auf einer Doppelseite abgedruckt haben. Das versteht hier mein Wähler aber, der in Spandau in seiner Laube sitzt und piept, nicht. Wir nehmen für die Katarina einfach diese Haare-Make-Up-Frau, die bei den Genossen von der Tagesschau die Judith Rakers flott macht. Und dann soll die Katarina noch diesen coolen Hoodie anziehen mit den gelben Europasternen drauf. Der muss aber möglichst unverwaschen rüberkommen, damit man gleich sieht, dass sie den ansonsten niemals trägt. Stylisten können wir uns damit sparen. Und der Fotograf soll halt im Hintergrund einen Streifen Sonnenlicht auf die Bürotapete bannen. Das würde der Wolfgang ähnlich sehen.»

Deutschland, die SPD, ideal vertont von Matthew Dear mit «Slow Dance»: Man will eindeutig Vorwärts, aber da ist noch was—wo war denn gleich noch das Klistier? 

Daheim dann wieder, ich nahm soeben meinen Apéro, gab es plötzlich ein Geflatter. Eine Nebelkrähe war im linken Baum gelandet und verscheuchte die dort Brütende aus ihrem Nest. Um sich daraufhin an den Eiern der nur halb so grossen Tauben mit ihren nur viertelgrossen Schnäbeln, gütlich zu tun. Tja. Es gibt die Kuckucksei-Taktik, aber es gibt keinen Vogel, der brütende Arten aus ihren Nestern vertreibt, um deren Nachwuchs auszubrüten (weil er meint, es besser zu können, weil es sein Fetisch ist, weil er sich füttern lassen will o.ä.)

Und ich dachte an den Roten Milan, den ich am Osterwochenende geschaut, als ich mit Friederike in den Aussichtsturm auf dem Adlisberg geklettert war. Der liess sich von einer Thermikspirale sachte auf unsere Höhe saugen, bis er uns zum Greifen nah gekommen war. Und der Turm mit seinem Boden unter unseren Füssen vibrierte bei jedem unserer Atemzüge. Der Turm ist aus Holz. Und ich hatte Vertigo.

In meinem Feldbuch steht es 28:25 für Berlin. Und der Luftdruck hier liegt bei 1000 Hektopascal. Tag Eins meiner Beach diet. Mein Kopf, er enthält die ganze Welt, passt, von hinten her genommen, schon in meine rechte Hand.

 *Wenn das eine Bein angehoben wird, verschiebt sich der Körperschwerpunkt über das andere Bein. Ein zusätzlicher «Arretiermechanismus» sorgt für die nötige Stabilität, sodass das Balancieren auf einem Bein selbst im Schlaf möglich ist. In der Theorie funktioniert dieser Mechanismus auch, wenn der Vogel tot ist.

Verspüre grosse Lust, auf der Welt zu sein.