19.7.2019

Der Slogan des Techniktagebuchs («Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren») fiel mir wie so häufig, so auch heute wieder ein, als ich beim Lesen alter Bücher von Wilhelm Genazino auf die Beschreibung eines damals neuartigen Automaten der Deutschen Bundesbahn stiess, den es wohl—ich selbst kann mich daran nicht mehr erinnern—vom Anfang der siebziger Jahre an in den Hauptbahnhöfen der BRD gegeben haben muss. Genazinos Erzählung trägt sich einst zu in Frankfurt am Main:

«Es fiel ihm ein grosser Automat auf, vor dem einige Männer standen. Abschaffel stellte sich dazu. Es war ein Computer, der vollautomatisch Fahrplanauskünfte gab. Der Automat hatte die Grösse eines Türrahmens und war rot angestrichen; vorn blinkten verschiedene Lämpchen auf einer Schautafel. Der Automat erregte die Bewunderung der Männer; sie sprachen über ihn, und was sie sagten, war voller Begeisterung. »Er arbeitet, er arbeitet«, sagte einer der Männer mit vergnügter Stimme. Die Bedienung des Automaten war einfach. Auf einer Tafel waren die Namen von grossen und mittleren Städten aufgeführt, und vor jedem Städtenamen war eine Nummer eingezeichnet. Das war die Kennummer des Zielbahnhofs, wie der Automat es nannte. Diese Kennummer musste auf einem Knopf eingetastet werden, und auf einer anderen Taste musste der gewünschte Abfahrtszeitraum eingedrückt werden. Dann summte und ruckelte es in dem Automaten eine Weile, und nach kurzer Zeit rutschte aus einer Öffnungslasche ein Papierbogen heraus, auf dem tatsächlich alle Zugverbindungen in dem gewünschten Zeitraum aufgedruckt waren. Ungläubig hielten die Männer die Papierbogen in der Hand und zeigten sie herum. Aus ihren Bemerkungen war zu sehen, dass viele eine Zugverbindung zu erfahren wünschten, die sie vorher schon an einem Auskunftsschalter erfragt hatten.»

Ulrich Greiner hat die Literatur Genazinos noch zu dessen Lebzeiten als «Lebensphilosophie für Bausparer» bezeichnet. Das verkündete er so in der Zeit kurz nach dem Büchnerpreis für Genazino, und ich fühlte mich von seinem Slogan natürlich direkt angesprochen. An die Beschreibung des Fahrauskunftsautomaten konnte ich mich heute trotzdem nicht mehr erinnern. Vermutlich, weil ich damals die frühen Bücher ruckhaft eingesaugt habe; und ausserdem gab es das Techniktagebuch damals noch nicht. Aber ein paar Jahre zuvor, es ist jetzt gute zwanzig Jahre her, da besuchte ich ein Seminar etwas ausserhalb von Rendsburg an der Eider, da war unter anderem auch Ulrich Greiner als Vortragsredner eingeladen. Er war mit Spannung erwartet worden, auch mit Ehrfurcht bei vielen, und so machte er es dementsprechend spannend und gab der ehrfürchtigen Erwartung unter seiner jungen Zuhörerschaft zunächst Raum. Dann hob er den Kopf, den ich als cäsarenhaft erinnere, um anzuheben mit «Meine Damen, meine Herren, ich muss Ihnen leider die Mitteilung machen: Sie kommen zu spät.»

Damit war freilich nicht der damalige Abend, die Veranstaltung selbst gemeint, sondern die Veranstaltung an sich, ein bisschen somit das Leben, in unserem Falle aber vor allem der sogenannte Literaturbetrieb. Greiner, damals noch Kritiker im Feuilleton der Zeit illustrierte uns den Niedergang am eigenen Beispiel dergestalt, dass er seit neuestem die eigenen Seiten produzieren müsste. Damals, vor gut zwanzig Jahren, fand ich: Das klingt doch gar nicht schlimm. Eher selbstbestimmt. Abenteuerlich. 

Ulrich Greiner fühlte sich durch solche Zumutungen offenbar herabgewürdigt. Gut möglich, dass keine sieben Jahre später bei ihm deswegen Genazino in Ungnade fallen musste, weil sich Greiner selbst mittlerweile nur noch als einer jener von Genazino häufig beschriebenen Büroangestellten betrachten konnte; ein Kritiker, der nicht mehr primär schreibt, sondern vor allem sehr viel tippt und klickt. In seiner Goldenen Zeit gab es dafür noch Sekretärinnen.