19.9.2019

Bald hinter Frankfurt begann es sich zuzuziehen, der Herbst rückt unaufhaltsam näher. Gestern hatte ich mich plötzlich entkräftet gefühlt, gleich, nachdem ich Friederike zufällig auf der Strasse begegnet war. Zum ersten Mal, seitdem wir uns kannten. Ich ging auf der Frankenallee, da stand sie mit einem Mal vor mir. Out of context: It was great. 

Mit salzig schäumenden Gurgelungen brachte sie, die diese mir reichte, es fertig, mich über Nacht gesund zu pflegen. Ein Marmeladenglas voll dieser Medizin als Vademecum bekam ich mit—wobei es dann, ich mag es doch kaum mehr erwähnen, in dem Zug selbst zu den leider üblich gewordenen Problemen kam. Die Zugführerin selbst trat vor das Publikum im Gastraum des Bordrestaurants und verkündete eine einigermassen originelle Ausrede: Es fehlte das Wasser. Von daher gäbe es auf der Fahrt bis nach Berlin weder Heissgetränke noch Speisen. Wer aber ein Getränk aus Flaschen kaufen wolle, oder einen Schokoriegel, der sollte sich doch bitte selbst ins Bordbistrot bemühen—die Bedienung am Platz falle aufgrund des Wassermangels natürlich aus.

Aus zweierlei Gründen war das bahnpolitisch genommen falsch:

Erstens hatten ja sämtliche Umsitzende sehr wohl mithören müssen, wie die Restaurantmitarbeiter sich in den Minuten dieser auf extremsächsisch vorgetragenen Ansprache über ihre als üblich empfundenen Arbeitsumstände mokiert hatten. Da so zu tun, als wäre man selbst überrascht, kommt ungut. Der ellipsenförmige Küchenbereich zwischen Bordrestaurant und Bordbistrot ist zwar mit Pressholz vor Blicken geschützt, aber keinesfalls schallisoliert.

Zweitens konnten dann sämtliche Umsitzende die sechs, manchmal auch bloss fünf Bahnangestellten dabei beobachten, wie sie in eben diesem elliptischen Gehäuse die Fahrt über plaudernd herumstanden, während die Passagiere sich ihre kalten Getränke zu unverminderten Preisen dort abzuholen hatten. Verlangte man ein Wasser, wurde das nach dem Prinzip der Eimerkette von einem zum anderen bis nach hinten in den Lagerraum weitergemeldet. Auf vergleichbarem Wege, bloss halt physisch, ging dann die Flasche von Hand zu Hand nach vor bis zum Kunden. Ich konnte den Eindruck nicht abschütteln, dass es insbesondere ostdeutschen Bahnmitarbeitern Freude machte, mal wieder auf Mangelwirtschaft und Subotnik zu machen. Auch vom Ton her, wenn die Unbedarften oder neu Zugestiegenen fragten «Was haben Sie denn überhaupt noch?»

«Sändtwitsch» Fullstop. 

Bei mir am unbedienten Tische hatte indes ein ungleiches Paar, ungleich vom Alter her, Platz genommen. Beides Orientalen, der (deutlich) jüngere als Adson von Melk, der andere ein William von Baskerville mit MacBook Air, von dessen Anzeige er einen Vortrag einübte, den er wohl in Leipzig zu halten gedachte. Inklusive ausgreifender Gesten und aufwimmernder Laute. Als die Zugchefin zum Kontrollieren kam, schob er ihr weiterbetend seine Bahncard 100 hin. Sie nickte ihm wie einem Kustoden zu. Der Junge hatte die weissen Airpods in den Ohren und reichte seinem Meister belegte Brote. Mir fiel da die Fahrt von Haifa nach Tel Aviv ein, als ich mit Friederike festgeklemmt sass im überfüllten Zug und plötzlich wickelten sich die Orthodoxen Juden mit ihren Gebetskapseln ein und fingen im Stehen an mit ihrem Wiegegebet. Das war Anfang des Sommers gewesen. Von jetzt an also nur knapp noch ein Jahr.