20.1.

Tilman Rammstedt ist aus Eisen. Zumindest wünsche ich ihm das, zumindestens hinsichtlich seiner Moral. Dabei kenne ich ihn gar nicht. Es kennen sich ja auch nicht alle Zahnärzte gegenseitig und sozusagen automatisch aus dem bloßen Umstand heraus, dass sie von Beruf eben Zahnärzte sind.

Durch das tägliche Lesen der Kommentare aber, auf den Seiten von Morgen Mehr, entsteht in mir ex negativo ein Abbild seiner Seele, ich kann mir plastisch vorstellen, wie es in ihm aussieht und seit einigen Tagen ergibt sich auf diese Weise ein Bild, das nicht schön ist. Ich spüre seinen Konflikt.

Im Feuilleton der Zeit hat Ijoma Mangold von einer Liturgie geschrieben, einer persönlichen, der er, Ijoma Mangold, sich in der geistigen Figuration eines Mönches hingebe für seine Lektüre der täglichen Lieferungen von Tilman Rammstedt. Nicht erst seit gestern, aber seitdem eklatant, liegt der Genese von Morgen Mehr ein moralisches Dilemma zugrunde, von dem ich nur hoffen kann – und Ijoma Mangold soll bitte beten –, dass es gut ausgehen möge. Gut im Sinne der Literatur. Somit auch gut für Tilman Rammstedt. Denn es geht von nun an für ihn um die Frage Gut oder Böse – wird er es schaffen, den Lockungen des Bösen zu widerstehen, oder zieht es ihn hin.

Satan hat sich gespalten, das gehört zu seinem Wesen, und hockt seitdem in der Gestalt zweier Teufelchen auf den Schultern des Schriftstellers. Tags wie nachts sind dort links eine sogenannte Nola, auf seiner Rechten eine Tina, um ihn unermüdlich und im Stundentakt mit ihren Einflüsterungen auf Abwege zu führen: stilistisch, geschmacklich, ideel – sie ziehen sämtliche Register. Das sind Anti-Musen. Ein personifiziertes Literaturvernichtungsprogramm!!!

Als einziger Kommentator setzt Tina, die das rechte Ohr Rammstedts bearbeitet, sogar einen Avatar ein, es ist ein weibliches Gesicht mit Brille, dunkler Mähne und einem der Kamera entgegengereckten Dekolleté, um ihren Zeilen noch zusätzlichen Nachdruck zu verleihen. Darüber hinaus gibt sie vor, aus Hessen zu sein, also dem Schauplatz von Morgen Mehr. Von daher ging es Tina anfänglich vor allem darum, eine deutlichere Färbung des Textes mit hessischem Lokalkolorit einzufordern. Seit gestern aber verfolgt sie ein anderes Programm.

Nola, zu seiner Linken, wünscht sich dringend mehr Zeitkolorit. Nun hatte Ijoma Mangold bereits in seiner vorläufigen Bestandsaufnahme an Tilman Rammstedts Konzeption bemängelt, dass es sich bei Morgen Mehr um einen historischen Roman aus den siebziger Jahren handele. Hier liegt für ihn, Ijoma Mangold, wenn nicht ein Widerspruch, so aber eine enttäuschende Divergenz zum Aktualitätsmedium Internet, in dem die täglichen Lieferungen des Korpus in spe veröffentlicht werden. Nola aber scheint das Feuilleton der Zeit entweder nicht gelesen zu haben oder aber: es zu ignorieren. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll. Bedenklich finde ich es allemal. Nur so aber scheinen sich Nola und Tina immunisieren zu können, um ihr satanisches Verführungswerk an Tilman Rammstedt zu vollbringen.

»Ein bisschen 70-er-Jahre-Flair würde mir außerordentlich gut gefallen«, säuselt Tina von rechts, »Die männlichen Helden in Schlaghosen, engem Rollkragenpulli –braun-orange-kariert -, mit Koteletten, Hummelbrille, speckiger Lederjacke und selbstverständlich immer eine Kippe im Mund (und vielleicht ein Buch auf dem Nachttischchen?). Und dann noch diese wundervolle 70-er-Jahre-Musik, die Autos, die fehlende Technik (es ging auch un-mobil), die Rolle der Frau, das Essen (Käse-Igel, Kalter Hund, gefüllte Eier, Toast Hawaii) und natürlich die gute, alte D-Mark.«

Ich versuche, es nicht zu tun, aber mein Gehirn liest mir diese Zeilen auf Hessisch vor. Es ist die Hölle. Zumindest stelle ich sie mir so oder so ähnlich vor.

Rammstedt daraufhin im Stupor. Auf seiner Linken hockt Nola. Und stößt nach: »Der Vater müsste vor Kälte schlottern nach seinem unfreiwillig Bad
im winterlichen Main. Der braucht ein heißes Bad. Weiß nicht, ob es damals schon Erkältungsbäder gab.«

Tja, die Waffen der Frau. Süß dieses Weiß nicht am Satzbeginn. Rammstedt sieht sie jetzt vor sich: Nola, die Süße. Baden. Jetzt gleich.

Von rechts, Tina: »Er braucht ein warmes Bett, in das er sich zusammen mit Dimitri-Uwe einkuscheln kann.« Im Klartext: Komm Kuscheln mit Nola-Tina, denn was sind schon Namen, darum geht es bei dir doch die ganze Zeit schon, dass dir die Namen rein gar nichts bedeuten.

Nola: »Die zwei in einer kleinen Frankfurter Wohnung mit Ikea Einrichtung Fischstäbchen und Instant Kartoffelbrei essend und davor gemeinsames baden und nachher exzessives kuscheln zum Aufwärmen.«

Das ist der Killer.

Es gibt in ganz Deutschland keinen einzigen Schriftsteller, der nicht – und das noch nicht einmal insgeheim – davon träumt, nein: fiebrig davon fantasiert in seinen allzu vielen Stunden der Einsamkeit, in eine kleine Frankfurter Wohnung eingelassen und mit Fischstäbchen und Instant-Kartoffelbrei bewirtet zu werden, zuvor gemeinsames Baden und nach den Fischstäbchen exzessiv kuscheln zu dürfen, um des Aufwärmens willen. Reihenfolge übrigens egal. Einrichtung auch. Hauptsache Frankfurt. Hauptsache klein. Hauptsache baden. Und kuscheln. Und Kartoffelbrei. Dafür würde jeder Schriftsteller in Deutschland seine Seele dem Teufel gratis überlassen. Also den ganzen Schwachsinn aus Vintage Derrick-Folgen, Kostümen aus Sketchen mit Iris Berben und Dieter Krebs, Dialoge wie von Wenzel Storch oder Hennar Peschel. Gern auch mit dem abgefahrensten Totalkitsch für die Freunde der Literatur, also Dimitri und seine Hessisch babbelnde Gangsterbraut auf der Flucht im geknackten Benz des Bundesbankpräsidenten, im Kofferraum liegt Andreas Baader auf Sigrid Löffler, beide hammerhart auf LSD und im Autoradio läuft nonstop Richard Claydermann.

Tina: »Thelma und Louise reloaded«. Das schreibt sie wirklich. Gnadenlos.

Vade retro, Tilman Rammstedt soll stark bleiben. Fest wie eine Burg. Ich weiß ja nicht, wie er heute geschlafen hat. Ich konnte vor Sorgen um die Literatur jedenfalls kein Auge zu tun.

Details zur Modewoche: morgen mehr.