20.12.2018

Vor dem Besuch der Denkbar konnte ich die neue Brille abholen, endlich, hatte ich nun mehr als eine Woche lang ohne Sehhilfe zurechtkommen müssen. Eine Lebensform, an die ich mich nicht gewöhnen konnte. Monadenhaft. Auf Dauer nichts für mich.

Vom ersten Augenblick nach dem Aufsetzen des neuen Gestells aber wurde mir die Umwelt wieder so gezeigt, wie sie wohl wirklich war: weit, bis sehr weit hinter die den Ladenraum des Optikers umgebenden Schaufensterscheiben in einer Schärfe klar gezeichnet, wie ich sie schon seit langem nicht mehr geschaut. Dabei war es längst schon dunkel, und so traten allüberall die Lichtlein in den Bankentürmen lockender hervor, ja, ich meinte einzelne Bildschirminhalte in den Büros dort von denen in wieder anderen auseinanderhalten zu können. Ein rauschhafter Effekt, der sich nicht abnutzen sollte, während wir durch die funkelnden Täler zum Nordend wanderten. 

Eine Viertelstunde vor Beginn des Vortrages und somit gerade noch rechtzeitig, kamen wir dort an, um die letzten beiden noch frei gebliebenen Stühle, die glücklicherweise zudem noch direkt neben dem Rednerpult aufgestellt waren, besetzen zu können. Schier unglaublich, dass eine Vorlesung über die Logik bei Martin Heidegger derart viele Zuhörer anlocken konnte.  

Kaum hatte Lorenz Jäger mit seinem Vortrag angefangen, wurde es im Raume still und diese Aufmerksamkeit wurde auch dann nicht unterbrochen, als sich leis die Eingangtüre öffnete, und Martin Mosebach cum tempore erschien. Er legte sich eine Handfläche hinter die Ohrmuschel und blieb dort bei der Türe stehen.

Nun hatte Jäger freilich übertrieben, als er uns in Berlin seinen Vortrag als »allgemeinverständlich«, als geradezu voraussetzungsfrei angekündigt hatte; gut möglich andererseits könnte es auch sehr gut so sein, dass sich Jägers Begriff vom Allgemeinen noch von dem unseren unterschied. Fabelhaft allerdings wie er zum Abschluß aus den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Notizen Heideggers zum Komplex von Gehen und Wald vortragen konnte—da glaubte ich, mir wüchse nun zu meinem hyperscharfen Schausinn noch ein Drogenohr.

Die unvermeidliche Fragenrunde wurde ausgerufen. Der direkt vor dem Rednerpult auf einem Sonderplatz postierte Günther Maschke meldete sich zu Wort »Man sollte doch zunächst rauchen.« Woraufhin er, der, solange Jäger vorgetragen hatte, mit geschlossenen Augen und wie tief in sich gegangen dessen Worten gelauscht hatte, mit Mosebach zu eben diesem von ihm angeratenen Zwecke den Saal verließ. Die von uns befürchteten tumulthaften Szenen ließen auf sich warten. Sie traten gar nicht erst ein. Und dies obwohl ja Sascha Anderson, der Dichter, in Begleitung seiner Ehefrau Alissa Walser Platz genommen hatte. Wie Tilman Allert durch seine mikrosoziologisch geschliffenen Brille ganz korrekt feststellte, muß der Ossi quertreiben. Und so widersprach Anderson (übrigens in überhaupt keiner Weise auch nur entfernt mit Herrn Anderson von den Frankfurter Freunden der Kakteen und anderen Sukkulenten) dann auch Lorenz Jäger wo und wie er auch konnte, doch half ihm das alles nichts, denn Jäger, der sich seit vierzig Jahren unter und wirklich nur unter sehr vielem anderen mit Heidegger beschäftigt, hatte seine Argumente sämtlich parat, was wiederum Anderson dann irgendwann auch milder schäumen ließ, vergleichbar ungefähr mit der Olive im Martiniglase aus jenem Witz, in dem ein Zecher stundenlang versucht, die Steinfrucht mit einem Stocher aufzupieksen, bis ihm der Barkeeper helfen willund es ihm dann auch schon beim ersten Mal gelingt, woraufhin unser Mann am Tresen sagt »Keine Kunst, jetzt, wo ich sie müde gemacht habe.« Sich seine bolivianische Hirtenmütz‘ aufstülpend, ging dann auch Sascha Anderson vor die Türe.

Gewiß, ich sah jetzt alles. Sogar durch den Dunst der Glastüre hindurch bis in die Gesichter der dort stehenden konnte ich schauen, ihnen von den Lippen ablesen womöglich auch, doch gesellten wir uns dann zum Abschied gewissermaßen noch live auf ein letztes Wort zu Maschke, der uns dann recht Haarsträubendes aus seinem erfahrungsreichen Leben erzählte. Beispielsweise von seinen Jahren als Dozent an der Marineakademie von Peru »Peru ist ja ein Langküstenstaat.« Aber es ging freilich auch um das heranrückende Weihnachtsfest. Und wie man es zu nehmen hat. 

Bevor er sich, gemeinsam mit Mosebach in eine von ihnen sogenannte Bierkneipe verabschiedete, fiel Maschke noch eine Sache ein: »Zwei große Erfindungen hat die Menschheit gemacht: Das Rad, und Silikon.«