21.1.

Ich saß bis weit in den Nachmittag hinein am Schreibtisch und versuchte mich auf ein Telefongespräch mit Roe Ethridge vorzubereiten. Bis dahin bloß innerlich. Den Stapel der Bücher, Galeriepublikationen und Zeitschriften hatte ich noch nicht angerührt. Die selbstgemachten Mappen, die mir die Schweizer gebracht hatten, eher durchgeschaut als studiert. Wie ließe sich der Komplex des Politischen heute, aber nicht bloß heute, am liebsten komplett, umgehen? War das überhaupt möglich?

Er ist nur drei Jahre älter als ich. Am Morgen war in Texas ein weiteres Zeichen auf der Stele von Tz’unun entziffert worden: Es weist auf einen Herrscher der Maya in der Zeit zwischen dem 7. August und dem 26. Juli hin (beides 639 vor Christus). Ich habe mich vor Jahren für den Newsletter der Entzifferungsgruppe angemeldet und lese die teils mehrmals pro Woche eintreffenden Erfolgsgeschichte sehr gern. Noch nicht einmal zur Zerstreuung. Beinahe wie eine Erzählung, in der immer wieder etwas Ähnliches passiert. Ich war auch schon mal Mitglied der Deutschen Kakteengesellschaft. War auch sehr beruhigend, deren monatliche Mitgliedernachrichten ins Haus geschickt zu bekommen und dann in der ausnehmend schön gestalteten Broschur zu lesen. In der Maya-Gruppe fragte man sich nun, um welchen Herrscher es sich gehandelt haben dürfte. Da sind ja noch tonnenweise Stelen und Steinplatten übrig, auf denen Millionen kleiner Schriftzeichen ihrer Entzifferung harren. Die Maya-Tsolkin, so nennen sich die Schriftzeichen, sind den ägyptischen Hieroglyphen von ihrem Prinzip her ähnlich, dabei aber sowohl hübscher gestaltet, aber vor allem komplexer von ihrem Verschlüsselungsgrad. Auf einer quadratischen Matrix finden sich bis zu vier Elemente, die im einzelnen zwar wiederholt auftreten, aber in ihren Kombinationen auf unterschiedliche Bedeutungen hinweisen. Die Entschlüsselungsarbekt wird zusätzlich erschwert, weil die spanischen Eroberer um Cortez the Killer den Nachfahren der Maya die spanische Sprache oktroyieren wollten. Dafür musste den Ureinwohnern die alte Sprache aberzogen werden, deren Alphabet auch mit diesen Tsolkin festgehalten ward. Um einige Laute, beispielsweise das lispelnde Zischen im Spanischen, durchdrücken zu können, wurden die Alphabete der Maya verfälscht, umgedeutet und, wo nötig: zerstört. Auslöschung der Muttersprache. Zumindest in Teilen.

»Thema für Roe Ethridge?« schrieb ich nicht an den Rand. Als Erik anrief, um mir endlich von den Fortschritten seines work in progress mit den Bleigüssen zu berichten, live, war es bereits dunkel. Er war dort in dem Haus und hatte den Ofen bereits eingeheizt. Ich konnte alles genau vor mir sehen. Es war ja gerade mal eine Woche her. Die Klappe im Boden der Küche. Der Ofen. Die Stille im Garten und der zugefrorene See vor der Tür. Ich erzählte Erik nicht, dass die Bilder Roe Ethridges, gerade drei Jahre älter als Erik und ich, von Larry Gagosian verkauft werden. In der Wikipedia steht, Roe Ethridge besitze ein Haus am Rockaway Beach (wie Klaus Biesenbach).

Wie gern wäre ich jetzt in dem schönen Haus am See gesessen bei einem köstlichen Glas vom Pfirsichwein. Erik erzählte mir neulich, dass er oft daran dächte, wie schön und vor allem unproblematisch es sich in diesem Haus vermutlich leben ließe. Ihm kämen diese Gedanken immer dann, wenn das Leben in der Stadt sich wieder einmal, wie so oft, als kompliziert darstellt. Kann ich verstehen. Sehr gut sogar. Ich hatte ja auch falsche Entscheidungen getroffen und wäre als Dechiffreur glücklich geworden.

Jan Philipp Reemtsma schreibt in seiner Erinnerung an den Keller, dass er auch noch Jahre nach seiner Freilassung aus dem Keller sich manchmal dabei ertappt fand, dass er sich nach dem Keller zurückgesehnt hatte.