21.10.

Mit Daniel Martinez, der sich Danny nennt, saß ich wie an so vielen Morgen zuvor im kleinen Café gegenüber. In den letzten Wochen, seit er im August aus Los Angeles hierher gezogen war, um als Fellow der American Academy an einem auf ein halbes Jahr befristeten Projekt über die RAF zu arbeiten, hatten wir noch vor dem Schaufenster gesessen; seit es Herbst geworden war, saßen wir dahinter. Der Anblick, unverändert: das frühmorgendliche Geschehen auf dem Vorplatz des Bahnhofs. Für Daniel besitzen die Szenen noch immer unwiderstehlichen Reiz. Erst hier hat er wohl begriffen, worin der wesentliche Unterschied zu seinem Herkunftsviertel, von hier aus gesehen 9000 Kilometer westlich gelegen, besteht: Fußgänger, Passanten, sichtbar gemachte Intimität. Durch oder wegen vergleichsweise kaum vorhandenem Autoverkehr. Plus natürlich, mit jedem Tag drängt sich ihm dieser Unterschied zum Kalifornischen nur noch mehr auf: das Klima (er war tatsächlich mit nur einem einzigen Pullover im Gepäck angereist; ansonsten Bücher, Computer, Geld).

Er hatte mich gerade gefragt, um was es in dem Buch geht, das ich lese. Und ich sagte: »Schüchternheit« (I was lacking the wordshyness träfe es nicht ganz), da tat sich draußen vor dem Fenster etwas Neues, zugleich Außerordentliches und, wie sich bald herausstellen sollte, etwas geradezu schwer Widerbringliches: Ein Lieferwagen hatte drei Männer von sich gegeben, die bald eine mitgebrachte Flex dazu benutzten, um von der inmitten unseres Blickfeldes aufragenden Litfaßsäule den umlaufenden Mantel aus übereinandergeklebten Plakaten zu schälen. Diese Schicht, einer der Männer setzte unter dem durch die Trennscheibe geschnittenen Schlitz ein armlanges Stemmeisen an, zeigte sich erstaunlich dickwandig. Es brauchte der vereinten Kraft aller drei Männer, um sie von der Säule, die darunter aus Beton und hell und von ihrem Umfang her zart zum Vorschein kam wie ein ehemals gebrochener Arm oder auch ein Bein beim Abnehmen des Gipsverbandes, zu trennen. Auch schien sie ziemlich schwer, da die Männer es gerade so zu schaffen schienen, die aufgetrennte Pappröhre zur Seite zu ziehen. Ich fragte die Männer, um wieviele Jahre übereinandergeklebter Plakate es sich hierbei handelte. Es waren wohl fünf. Die einzelnen Plakate waren durch das Überleimen untrennbar miteinander verbunden worden wie Schichtholz. Da Daniel kein Wort Deutsch spricht, bat ich den Mann mit der Flex, ihm einen Ring abzuschneiden. Idealerweise – die letzte, nun einzig noch sichtbare Plakatschicht hatte als Motiv den sommerlich abgeschmeckten Jack Daniels mit Honigaroma – mitten durch das mit goldgelber Flüssigkeit und drei Eiswürfeln gefüllte Glas. Dem Wunsch wurde entsprochen. Und wenig später ging Daniel, der ziemlich zierlich von Wuchs ist, mit seinem golden und schwarz leuchtenden Plakatring über der Schulter hinüber in sein Atelier. Die letzten Meter musste er den Ring sogar absetzen und für den Rest der Wegstrecke vor sich herrollen, derart schwer war das Ding ihm geworden. Wieviele tausend, wahrscheinlich sogar Millionen Blicke über die letzten fünf Jahre, wieviele Kilogramm Aufmerksamkeit für diese Plakate wohl in diesem Ring gespeichert geblieben sind, fragt er sich.

Litfaß liegt auf dem Dotheenstädtischen Friedhof begraben. Auf seinem Grabstein ist in Gold auf glänzendem Schwarz seine flamboyante Unterschrift graviert. Als hätte er seinen eigenen Grabstein signiert.

Auf dem Friedhof war ich zuletzt vor ein paar Wochen gewesen, im Sommer. Vermutlich habe ich deswegen auch nicht groß auf die Bäume geachtet, auf die Laubsituation Grün, die man bei schönem Wetter für gegeben erachtet und im Ganzen nimmt. Das Erinnerungsbild sieht nun ausschließlich die Oberfläche des Grabsteins vor. Das gedachte Gesichtsfeld bleibt nach oben hin begrenzt vom Augengrau und es ist mir nicht möglich, die hiesige Laubsituation Gold auf das Erinnerungsbild zu übertragen. Ganz so, als ob es mit einem Ortsmarker und einem Zeitstempel versehen abgespeichert worden wäre, der mir solche Manipulation als unzulässig gebietet. Auch dass ich mir im Angesicht der beinahe vollkommen gefärbten Laubbäume ringsum nun noch vorstellen könnte, wie sie vor ein paar Tagen noch in Grün ausgesehen hatten, scheint solange unmöglich, bis ich eine dementsprechendes dokumentierende Fotografie zur Hilfe nehme.