21.12.

Yalda, die Feier der Wintersonnenwende (in einem Schaltjahr fällt sie auf die Nacht vom 20. auf den 21. Dezember): Heute ist der kürzeste Tag in diesem Jahr (weil diese Nacht die längste war). Lang und leuchtend, mit einem roten Blinklicht hinten drauf, zieht ein Personentransporter über den See. Keiner drin bei 55 Sitzplätzen. Mahlendes Rauschen des Straßenverkehrs von der Brücke her, von der Autobahn weit dahinter, als Echo aus den Wäldern ringsum.

Was habe ich gemacht an dem Spezialtag dieses Schaltjahres 2016, am 29. Februar? Da wohnte ich wohl noch in der Stadt, war gerade aus Cagnes-sur-Mer zurückgekehrt, hielt mir zwei Hummer und dachte über Rezepte gegen Liebeskummer und Vermissen nach. Ganz praktisch, so ein Tagebuch. Noch interessanter wird es freilich dann in zehn oder noch mehr Jahren nachzulesen, was ich vor zehn oder noch mehr Jahren an einem bestimmten Tag gedacht habe. Jetzt schon kommt mir einiges davon wie von fremder Hand geschrieben vor. Und wird für mich dadurch erst interessant.

Erik, der mich gestern anrief, schreibt derzeit an einem Tagebuch des Jahres 2012, das er auf Kalendereinträge gestützt aus seinen Erinnerungen zu konstruieren sucht. Es hat mit seinem Leben heute, 2016, nur noch wenig zu tun, oder ganz viel – im Moment rekonstruiert er aus seiner Perspektive in der dunkelsten Phase des Winters 2016 die Tage im Sommer 2012. Und sagte, gestern: Ich nähere mich jetzt dem Tag, als wir uns in Weimar trafen. Ich freue mich schon darauf, seine Beschreibung unserer Begegnung lesen zu können, an die ich, wie es mir gerade erscheinen will, nur noch einige standbildhafte Erinnerungen habe (aber wenn ich damit anfinge, die aufzuschreiben, fielen mir noch mehr und andere, auch falsche Erinnerungen, beziehungsweise ungenaue, und dazu gedichtete, Wunschvorstellungen und Geschöntes ein; das Sprunghafte der Erinnerung würde umflossen von erzählerischen Notwendigkeiten, erzeugt durch Erklärungsbedarf, aber auch durch Formvorstellungen; obwohl ein Tagebuch vor allem die wesentlichen Ereignisse enthalten sollte, dazu noch Sonnenstand, Windgeschwindigkeiten, Korrespondenz). Wenn das dann alle oder viele so machten, wäre man – also ich zumindest – viel beschäftigt, bei anderen nachzulesen, wie vielfältig ein Tag, an dem man selbst zwei Hummer kaufte und ansonsten Suppe aß und die Waschmaschine lief im Hintergrund, von anderen erlebt worden war. Also gedanklich vor allem. Wie in der tollen Schlussszene in dem Film von Wim Wenders, wo ein Paar in einer Höhle lebt und seine Träume mit einem Traumvideorekorder aufzeichnen lässt, die sie sich nach dem Aufwachen auf Bildschirmen, die auf der Innenfläche von Skibrillen montiert sind, vorführen lassen. Entweder die eigenen, oder die des anderen, das geht aus der Inszenierung nicht klar hervor, bleibt selbst traumartig, wahrscheinlich handelt es sich dabei um ein mise en abyme.

Ein zweites Projekt von Erik besteht aus kiloweise Zinn, das er in einem Kupferkessel schmilzt und dann in ein eigens konstruiertes Abkühlbecken auskippt. Und das immer wieder und immer wieder von Neuem, bis er in dem schockhaft erstarrten Zinn eine Figur erkennen wird, die ein für ihn akzeptables Sinnbild seiner Zukunft darstellt. Im Galerieraum sollen dann die möglichweise extrem zahlreichen Mutationen und frühen Formen seiner Zukunft nebeneinander ausgestellt werden. Die reine Gestalt seiner Zukunft dann natürlich auf besondere Weise hervorgehoben präsentiert (auf einem Sockel, angestrahlt, in einem eigens hierfür hergerichteten Raum o.ä.)