21.4.2019

Das Quietschen von Tulpenstengeln.

Pflanzenblindheit, also dass man die nicht wahrnehmen kann wie bei Farbenblindheit, ist eine Theorie von Elizabeth Schussler und James Wandersee, die wenige Jahre vor seinem Tod (2014) in Fachzeitschriften verbreitet wurde. Der Biologiedozent Wandersee glaubte festgestellt zu haben, dass es auf dem Territorium der Vereinigten Staaten zunehmend Bürger gibt, die Details ihrer pflanzlichen Umwelt nicht mehr wahrnehmen können. Das Phänomen ist mir durchaus vertraut, wenn ich beispielsweise einen Freund beim Spazierengehen auf ein speziell schönes Gewächs hinweisen will und der dann bloß: Ja. Um übergangslos wieder von seiner Sache zu berichten. En variation bekomme ich auch oft kein feedback, wenn ich von einer pflanzlichen Entdeckung erzählen will (beispielsweise von dem halb ausgetrockneten Zedernbaum im Schlosspark, der mittlerweile mit Latten gestützt werden muss, um aufrecht stehen zu können; oder von der Geschichte des Granatapfelbäumchens in der Orangerie der Herrenhäuser Gärten zu Hannover: wie das einst im 18. Jahrhundert dorthin hingelangt war; wie lange es dort schon steht.)

Ich kenne Leute mit herrlichen Gärten, um die sie sich natürlich nicht persönlich kümmern müssen. Das Grün dort draußen ist für sie wie das leuchtende Türkis im nächtlichen Garten während einer Nacht in Los Angeles, als ich den Besitzer des Pools fragte, ob er denn auch darin schwimmt. Und er sagte »Rarely. For us it’s just a light panel.«

James Wandersee nun dachte, der Grund für die Übersehenheit der Pflanzen läge wohl in ihrer Unbeweglichkeit. Es gibt ja Theorien, dass Lebewesen überhaupt erst die Fähigkeit zur Bewegung ausbilden mussten, um anderen, ihnen entgegenkommenden Objekten auszuweichen. Von daher die Fixation des tierischen Auges auf Vertikalen (»Was kommt da?«)

Im Märchen vom Tapferen Schneiderlein kracht die Wildsau gleich mehrfach hintereinander in einen Eichenstamm, ohne dass der eine Miene verzieht.

Wandersee führt das als nächstes an: die scheinbare Ungerührtheit, die Stoik der Pflanzen, die sie uns übersehen läßt. Es gibt ja inzwischen eine Bewegung—der New Yorker hatte gerade einen langen Artikel über eine Frau aus Brooklyn, die mit mehr als 300 Topfpflanzen zusammen in einer Wohnung lebt—die Pflanzen sich wieder ins Heim zu holen wie Haustiere (oder Einrichtungsgegenstände, es scheint etwas dazwischen.) 

Die Frau aus Brooklyn, die mit den dreihundert Töpfen in ihrer Wohnung, sagt über ihre aufgeflammte Liebe zu Pflanzen, dass sie es an denen gut findet, dass die Pflanzen ihre Bedürfnisse nicht drängend melden (wie Hunde, die raus wollen.) Sonst fühlte man sich als Mensch halt wie an eine Maschine angeschlossen. Aber so—Man versorgt seine Pflanzen und sieht an deren Blattfarben, ob es ihnen gut geht. Falls nicht, dann trifft diese Nachricht (durch Welken etwa, Blattverfärbungen, durch Schädlingsbefall) verzögert ein. Das macht die Pflanzen für mich der Literatur ähnlich, die ihre Wirkung erst im Leser entfaltet—nicht spontan, immer verzögert; manchesmal erst in den Jahren nach der Aufnahme durch den Augenschein.

In dem Video sieht man sie dann, wie sie ein Gefäß öffnet, aus dem Käfer in ihre Pflanzenwände fliegen. She calls them good bugs.

Und dann sieht man die üblichen Schrägos, die in Manhattan an einem Samstagnachmittag Pflanzen bingen. Einer, er schaut Terence Koh ähnlich (mag an seinem asymmetrisch geschnittenen T-Shirt liegen,) plappert einfach drauflos: Ja, Pflanzen! Irgendwie toll. Wir sind hier doch alle Worcaholics. Da will man es sich doch zuhause schön machen—mit Pflanzen. In New York geht es darum, dass man es daheim schön hat.

Im Buch von Emanuele Coccia gibt es diesen einleuchtenden Satz »Die Pflanzen waren vor uns da, ohne sie gäbe es die Atmosphäre nicht.« Das nickt man nicht einfach so weg, sie sind kein Green panel. Auch nichts, das nervt, weil man es andauernd gießen soll. Am nächsten Mittwoch treffe ich einen Emeritus hier an der ETH, der viel erfunden und erforscht hat in der Robotik. Auch ein System, das besteht aus einer über den Feldern kreisenden Drohne, die einem Gewehr bei Fuß stehenden Bodenroboter meldet, wo Unkraut wächst. Der fährt dann rund um die Uhr unermüdlich aus, um »unerwünschte Pflanzen« zwischen den Feldfrüchten herauszureissen. Erbarmungslos, wie es seine Art ist.

James Wandersee vermutete als zweiten wichtigen Grund für die Pflanzenblindheit, dass die Menschen die Individuen der Pflanzen aufgrund ihrer Eigenschaften bald pars pro toto nehmen. Die sind halt Grün. Das ist das Grüne. Und, sobald sie keine Blüten mehr treiben, oder sonstwas spektakuläres veranstalten: langweilig. Bei denen tut sich ja nichts. Bloß ein Hintergrund.

Die Produkte der Pflanzen, ihre Amputate stellt man in Vasen aus. Uns eine Augenweide. Aus ihrer Sicht sind das lediglich Stufen.

Heute morgen, so kam ich drauf, war ich beim Floristen Urs Bergmann und kaufte zwei Mohnblütenknospen. Die eine war dick und schon etwas geöffnet. Ich konnte zwischen den Spalten das Gelb der Blüten sehen. Bergmann drehte mir den restlichen Strauß hin »Welche mögen Sie noch?« Ich deutete auf eine noch ganz mandelhaft geschlossene: »Die da, die Geheimnisvolle. Ich bin gespannt, in welcher Farbe die rauskommt.«

Er sagte: »Vielleicht müssen sie ihr ein bißchen helfen.«

Die grünen Knospenblätter der Mohnblüten kleben gerne aneinander fest.

Meine Nachbarin von gegenüber hat einen pervers grossen Bildschirm an ihrer Wohnzimmerwand. Es läuft die Animation eines Saurierskeletts. Es grast.